Botschafter des Heils in Christo 1886

Ein Wort über Philadelphia und Laodizea

Die sieben Sendschreiben der Offenbarung stellen uns den Zustand der Kirche auf der Erde in ihren verschiedenen Perioden, von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende, vor Augen. Aber dieser Zustand trägt das bezeichnende Gepräge eines bis zum Ende hin immer mehr zunehmenden Verfalls, der in dem offenbaren Abfall der Kirche und der Offenbarung des „Gesetzlosen“ seinen Abschluss findet durch das Gericht.

In dem zweiten Briefe an Timotheus finden wir die verschiedenen auf einander folgenden Stufen dieses Verfalls. Zunächst sind es in Kapitel 2 die „ungöttlichen, eitlen Geschwätze, welche zu weiterer Gottlosigkeit fortschreiten“ würden. Dann sehen wir in Kapitel 3, wie weit dieser Fortschritt der Gottlosigkeit in den letzten Tagen gediehen sein wird: „Denn die Menschen werden eigenliebig sein, geldliebend, prahlerisch, hochmütig, Lästerer, den Eltern ungehorsam, undankbar, heillos, ohne natürliche Liebe, unversöhnlich, Verleumder, unenthaltsam, grausam, das Gute nicht liebend, Verräter, verwegen, aufgeblasen, mehr das Vergnügen liebend als Gott, die eine Form der Gottseligkeit haben, ihre Kraft aber verleugnen.“ Die hier gegebenen Charakterzüge stellen die Christenheit der letzten Tage mit dem in Römer 1,29–81 geschilderten Zustand des Heidentums auf gleichen Boden. Doch hält jene dabei die Form der Gottseligkeit aufrecht, was dem Bösen nur noch einen hässlicheren und schlimmeren Charakter verleiht. In Kapitel 4 endlich begegnen wir einem noch weiteren Fortschritt des Bösen: „Sie werden die Ohren von der Wahrheit abkehren und zu den Fabeln sich hinwenden.“ Das ist die letzte Stufe und entspricht genau dem, was wir in 2. Thessalonicher 2 finden, wo es heißt, dass der „Gesetzlose“ kommen wird „nach der Wirksamkeit des Satans, in aller Macht und in Zeichen und Wundern der Lüge und in allem Betrug der Ungerechtigkeit denen, die verloren gehen, darum dass sie die Liebe zur Wahrheit nicht annahmen, damit sie errettet würden. Und deshalb sendet ihnen Gott eine wirksame Kraft des Irrtums, dass sie der Lüge glauben, auf dass alle gerichtet werden, die der Wahrheit nicht geglaubt, sondern Wohlgefallen gefunden haben an der Ungerechtigkeit.“

Diese letzte Stufe der Gottlosigkeit hat die bekennende Kirche bis zu diesem Augenblick noch nicht erreicht, obwohl bereits der größte Teil ihrer Glieder die Ohren von der Wahrheit abgewandt hat und reif ist für die Aufnahme des Antichristen. Offenbar macht der Unglaube, der sich in der Verachtung und Verwerfung der Wahrheit und alles Göttlichen kundgibt, in unseren Tagen gewaltige Fortschritte.

Auch in der Brief Juda finden wir drei aufeinanderfolgende Stufen des Verfalls der Christenheit. Wir lesen dort: „Wehe ihnen! Denn sie sind den Weg Kains gegangen und haben sich für Lohn dem Irrtum Balaams überliefert, und in dem Widerspruch Korahs sind sie umgekommen.“ Gleichwie Kain, und auch die Juden, unter Aufrechthaltung ihrer eigenen Gerechtigkeit, sich dem Zeugnis der Gnade widersetzten und das wahre Volk Gottes verfolgten, indem sie dadurch die Feindschaft ihres natürlichen Herzens an den Tag legten, so hat auch die Kirche, unter Aufrechthaltung einer fleischlichen Religion, sich der wahren Lehre des Christentums, dem Zeugnis von der unumschränkten Gnade, widersetzt und die wahren Gläubigen verfolgt; sie hat gleich Balaam gewissenlos um des Lohnes willen Irrtümer gelehrt, von denen sie wusste, dass sie die Wahrheit verfälschten und dem Volk Gottes zum Verderben gereichen mussten, weil sie die Verbindung der Kirche mit der Welt bezweckten. Diese Verbindung führt schließlich die Christenheit zu dem völligen Abfall und der offenbaren Empörung gegen Christus, in welcher sie gleich der Rotte Korahs umkommt.

Diesen stufenweisen Abfall finden wir auch in den sieben Sendschreiben. Zuerst haben wir das Verlassen der ersten Liebe – Christus hat nicht mehr den ersten Platz inmitten der Kirche, trotz aller noch bestehenden äußeren Ordnung. Dann begegnen wir in Smyrna Trübsalen und Züchtigungen, die der Herr kommen ließ, um dadurch nicht nur ein weiteres Abweichen der Kirche von Ihm zu verhüten, sondern sie auch zur Umkehr zu ihrer ersten Liebe zu bewegen. Aber kaum hören die Züchtigungen auf, so sehen wir in Pergamus einen weiteren Fortschritt des Bösen: die Kirche verbindet sich mit der Welt, „sie wohnt da, wo der Thron Satans ist“, und duldet diejenigen in ihrer Mitte, welche die Lehre Balaams halten. In Thyatira geht sie dann noch weiter, indem sie sich, gleich Isebel, weltliche Macht anmaßt und sich zugleich als eine Prophetin darstellt, die durch ihren verblendenden Einfluss alles verführt und beherrscht. Der Herr bricht von da an mit ihr ab, indem Er erklärt, dass sie nicht Buße tun will, trotzdem Er ihr Zeit dazu gegeben hatte; und Er kündigt ihr das Gericht an. Inzwischen stellt Er durch die Reformation die Lehre der Rechtfertigung aus Glauben nochmals ans Licht; aber wir sehen in Sardes, dass der aus der Reformation hervorgegangene Protestantismus trotz dieser Lehre sich in einem Zustand des Todes befindet. „Ich kenne deine Werke, dass du den Namen hast, dass du lebst, und du bist tot.“ Der Herr kündigt deshalb auch diesem System das Gericht an; Er will über dasselbe kommen wie über die Welt, d. h. wie ein Dieb.

Die ganze bekennende Kirche, sei sie katholisch oder protestantisch, bleibt also verwahrt zum Gericht; und bis dahin beschränkt sich die Wirksamkeit des Herrn allein auf die Sammlung der Seinen aus der Welt, um sie, nachdem das letzte Glied eingesammelt ist, durch die Aufnahme dem über die Kirche und die Welt kommenden Gericht zu entziehen. Diese Wirksamkeit des Herrn charakterisiert den gegenwärtigen Zeitabschnitt, eine Wirksamkeit, die ohne Gleichen dasteht seit den ersten Tagen des Christentums. Überall sind die Türen geöffnet für das Evangelium; große Scharen wachen auf von ihrem Sündenschlaf, und Tausende und aber Tausende werden errettet, während andererseits der Unglaube erstaunliche Fortschritte macht und somit die Scheidung zwischen Glaube und Unglaube immer schärfer hervortritt.

In Philadelphia haben wir dann die klare Bezeichnung der gegenwärtigen Periode – das, was durch die unumschränkte Wirksamkeit des Herrn hervorgerufen ist; wir haben da die wahren Gläubigen im Gegensatz zu der toten Masse der Bekenner. Der Vers 8 in diesem Sendschreiben teilt uns in wenigen Worten die Charakterzüge dieser Gläubigen mit: „Denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet.“ Wie groß auch die Schar der Gläubigen in unseren Tagen sein mag, so bildet sie gegenüber der bekennenden Masse dennoch nur einen verschwindend kleinen Überrest und nimmt in den Augen jener eine unscheinbare und verachtete Stellung ein. Und diese Verachtung trifft sie umso mehr, je treuer sie die Wahrheit aufrecht hält, ist aber aus diesem Grund nur eine Bestätigung ihrer wahren Stellung nach den Gedanken des Herrn. „Und ich werde in deiner Mitte übriglassen ein elendes und armes Volk, die werden auf den Namen Jehovas vertrauen“ (Zeph 3,12). Nichts ist verächtlicher in den Augen der Bekenner, als dieser unscheinbare Überrest, der in der Tat nichts aufzuweisen hat, was den Beifall oder die Bewunderung erregen könnte. Man sieht hier nichts von der großen Kraft, welche einstmals die Märtyrer angesichts der Scheiterhaufen, Folterkammern und Gefängnisse mit Mut und Zuversicht erfüllte. Das, was die Gläubigen Philadelphias kennzeichnet, sind auch nicht große reformatorische Taten, die sich in dem Umsturz mächtiger, bestehender Systeme kundgeben, sondern es ist das einfache und entschiedene Festhalten an der Wahrheit inmitten eines bekennenden, toten Formenchristentums; es ist die Liebe und Achtung vor dem Wort Gottes, welchem sie als ihrer alleinigen Richtschnur zu folgen begehren, sowie endlich die Wertschätzung des Namens Jesu. Und diese Treue ist umso anerkennenswerter für den Herrn, als sie, wenn auch in Schwachheit, ausgeübt wird in einer Zeit, wo die große Masse der Bekenner angefangen hat, „die Ohren von der Wahrheit abzukehren und sich zu den Fabeln hinzuwenden“; wo das Wort Gottes als etwas Veraltetes beiseitegelegt und der Name Jesu verleugnet und mit Verachtung überschüttet wird. Die Gläubigen, welche bestrebt sind, den Charakter Philadelphias zur Schau zu tragen, stehen daher im schroffen Gegensatz nicht allein zu der toten Masse der Bekenner, sondern auch zu allen Parteien, indem sie keine andere Richtschnur als das Wort Gottes und keinen anderen Mittelpunkt ihres Zusammenkommens als den Namen Jesu anerkennen. Was anders haben sie daher zu erwarten, als die schärfste Verurteilung von allen Seiten?

Natürlicherweise berufen sich alle Parteien auf das Wort Gottes und behaupten, im Namen Jesu zusammenzukommen; und in gewissem Sinn tun sie dies auch. Wie könnten sie anders Anspruch auf den Namen einer christlichen Partei machen? Selbst die gröbsten Irrlehrer müssen sich auf die Schrift berufen und dürfen den Namen des Herrn nicht verwerfen, wenn sie anders unter Christen Eingang finden wollen. So berufen sich alle Benennungen auf die Schrift, während sie sich doch schon durch die Annahme eines Namens zu einer Partei stempeln und durch die Aufstellung von Statuten usw. in offenbaren Widerspruch mit der Schrift treten. Heißt das, einfach als Gläubige, als die Glieder eines Leibes im Namen Jesu zusammenkommen?

In unseren Tagen sehen nun viele Gläubige das Falsche einer solchen Handlungsweise ein; aber anstatt sich entschieden auf den Boden der Wahrheit zu stellen und sich mit denen zu versammeln, welche die Einheit des Leibes, die Einheit aller Gläubigen, am Tisch des Herrn bekennen, richten sie, getrennt von diesen, einen neuen Tisch auf und ahmen ihnen alles nach. Und wenn solchen Gläubigen darüber Vorstellungen gemacht werden, so entgegnen sie: „Wir wissen nicht, was ihr wollt; wir haben ja ganz dasselbe, was auch ihr habt.“ Doch ist dies nur eine neue List des Feindes, um die Gläubigen von der Wahrheit fernzuhalten und die Verwirrung immer größer zu machen. Aber wie betrübend für den Herrn und für den Heiligen Geist ist ein solches Verhalten von Brüdern! Sie verurteilen sich selbst, indem sie durch ihre Nachahmung der Wahrheit die richtige Stellung derer anerkennen, welchen sie nachahmen; sollten sie sich nicht umso mehr mit diesen versammeln? Warum bleiben sie von ihnen getrennt? Was hindert sie, sich mit Gläubigen, deren Stellung sie als wahr und dem Wort gemäß anerkennen, auch in einem Geist zu versammeln? Mögen solche sich selbst die Antwort geben vor dem, der Herzen und Nieren prüft.

Indessen dürfen wir keinen Augenblick die Tatsache aus dem Auge verlieren, dass alle Gläubigen der Jetztzeit in Philadelphia einbegriffen sind. Alle sind Glieder des einen Leibes, und der Herr erkennt sie alle an als die seinigen, in welcher Partei sie sich auch befinden mögen. Alle werden bewahrt werden vor der Stunde der Versuchung, die bald über den ganzen Erdkreis kommen wird. Und sicher ist es ein Zeichen der Zeit, dass sich unter den wahren Christen immer mehr die Überzeugung Bahn bricht, dass sie berufen sind, sich abzusondern von der Welt, von den Ungläubigen und von allen menschlichen Satzungen, und dass die Ankunft des Herrn sehr nahe ist. Die Wirksamkeit des Heiligen Geistes in diesen letzten Tagen geht dahin, die Gläubigen immer mehr auf den Boden von Philadelphia zu führen und ihnen zu zeigen, dass inmitten des allgemeinen Verfalls Absonderung von dem Bösen und ein treues, entschiedenes Festhalten an dem Wort Christi der einzige dem Herrn wohlgefällige Weg ist, entsprechend dem Charakter, den Er in dem Sendschreiben an Philadelphia annimmt, als der „Heilige“ und der „Wahrhaftige.“

Doch während wir das stets zunehmende Erwachen dieser Überzeugung mit innigem Dank gegen den Herrn anerkennen, müssen wir es umso tiefer beklagen, dass so viele der Gläubigen auf halbem Weg stehen bleiben, anstatt sich völlig von allem Parteiwesen zu trennen und das Zeugnis von Philadelphia treu darzustellen. Der Herr erkennt gewiss alles an, was in Unterwürfigkeit unter sein Wort geschieht, aber die Parteien als solche kann Er nicht anerkennen; anders müsste Er sich in Widerspruch mit seinem eignen Worte stellen. Und das ist selbstverständlich unmöglich. Er selbst betete am Abend vor seinem Leiden zum Vater: „Aber nicht für diese allein bitte ich, sondern auch für die, welche durch ihr Wort an mich glauben, auf dass sie alle eins seien, gleich wie du, Vater, in mir und ich in dir, auf dass auch sie in uns eins seien, auf dass die Welt glaube, dass du mich gesandt hast“ (Joh 17,20–21). Und Er ist darum gestorben, „auf dass er die zerstreuten Kinder Gottes in eins versammelte“ (Joh 11,52). Deshalb verwirft das Wort Gottes, im Einklang mit diesen Gedanken des Herrn, entschieden die Parteien als menschlich und fleischlich. „Denn ihr seid noch fleischlich. Denn da Neid und Streit unter euch ist, seid ihr nicht fleischlich und wandelt nach Menschenweise? Denn wenn einer sagt: Ich bin des Paulus; der Andere aber: Ich des Apollos; seid ihr nicht menschlich?“ (1. Kor 3,3–4) Ebenso bezeichnet der Apostel in Galater 5,20 die Sekten als Werke des Fleisches, indem er sie mit Götzendienst, Zank usw. auf gleichen Boden stellt.

Aus diesem Grund nun muss jeder Gläubige alles Parteiwesen verwerfen, will er anders mit dem Wort des Herrn und dem Geist der Versammlung in Philadelphia im Einklang sein; und er wird dieses tun, wenn er in Wahrheit Achtung vor dem Wort Gottes hat und den Wert des Namens Jesu kennt. Ein solcher ist nie leichtfertig in Bezug auf den Willen und die Ehre seines Herrn und das Wohl seiner Versammlung, und er gibt dies zunächst kund in einem tiefen Schmerz und in der aufrichtigen Betrübnis seines Herzens beim Anblick der großen Zerrissenheit so vieler Kinder Gottes. Dies ist ein höchst wichtiger Punkt, ein Charakterzug, der in den schweren Zeiten des Volkes Gottes die wahrhaft Treuen stets gekennzeichnet hat. Denken wir z. B. an die tiefe Betrübnis, welche treue Männer, wie Jeremias, Daniel, Esra u. A., über den traurigen Zustand des Volkes Gottes in ihren Tagen empfanden, während sie persönlich von den Sünden desselben frei geblieben waren. „Mit Wasserbächen rinnt mein Auge wegen des Ruins der Tochter meines Volkes. Mein Auge fließt und kann nicht ruhen, ohne Aufhören, bis Jehova herniederschaue und es sehe“ (Kld 3,48–49). „Ach Herr, du großer und furchtbarer Gott. ... Wir haben gesündigt und Unrecht getan und gesetzlos gehandelt und uns empört. ... Dein, o Herr, ist die Gerechtigkeit, unser aber die Beschämung des Angesichts usw“ (Dan 9). „Und als ich diese Worte hörte, zerriss ich mein Kleid und mein Obergewand, und raufte die Haare meines Hauptes und meines Bartes aus, und saß betäubt. Und zu mir versammelten sich alle, die da zitterten vor dem Wort des Gottes Israels wegen der Treulosigkeit der Weggeführten; und ich saß betäubt bis zum Abendopfer. Und beim Abendopfer stand ich auf von meiner Trauer, und mit meinem zerrissenen Kleid und Obergewand, und beugte mich auf meine Knie und breitete meine Hände aus zu Jehova, meinem Gott, und sprach: Mein Gott, ich schäme mich und erröte, mein Angesicht zu dir, mein Gott, zu erheben! Denn unsere Ungerechtigkeiten sind über das Haupt gewachsen, und unsere Schuld ist groß geworden bis an den Himmel. Von den Tagen unserer Väter an sind wir in großer Schuld gewesen bis auf diesen Tag. ... Und als Esra betete und bekannte, weinend und sich niederwerfend vor dem Haus Gottes, versammelte sich zu ihm von Israel eine sehr große Versammlung, Männer und Weiber und Kinder; denn das Volk weinte mit vielem Weinen“ (Esra 9–10). Hören wir ferner, mit welchen Gefühlen Paulus den traurigen Zuständen der damaligen Christen gegenüberstand: „Denn aus vieler Drangsal und Herzensangst schrieb ich euch mit vielen Tränen.“ „Denn ich fürchte, dass ich, wenn ich komme, euch etwa nicht als solche finde, wie ich will, und dass ich von euch als solcher erfunden werde, wie ihr nicht wollt: dass etwa Streitigkeiten, Neid, Zorn, Zwietracht, Verleumdungen, Ohrenbläsereien, Aufgeblasenheit, Verwirrungen da seien; dass, wenn ich wiederkomme, mein Gott mich euretwegen demütige, und ich über viele trauern müsse, die zuvor gesündigt und nicht Buße getan haben“ (2. Kor 2,4; 12,20–21). „Denn viele wandeln, von denen ich euch öfters gesagt, nun aber auch mit Weinen sage, dass ..“ (Phil 8,18).

Wenn diese treuen Männer also trauerten und weinten beim Anblick der betrübenden Zustände des Volkes Gottes in ihren Tagen, so geziemt sich gewiss dasselbe auch für uns beim Anblick der Zerrissenheit unter den geliebten Kindern Gottes in unseren Tagen. Wenn Daniel sagte: „Unser ist die Beschämung“, und: „Wir haben gesündigt“, und wenn Esra bekannte: „Von den Tagen unserer Väter an sind wir in großer Schuld gewesen bis auf diesen Tag“, müssen wir dann nicht dasselbe sagen angesichts des Verfalls der ganzen Kirche von Anfang an bis heute? Müssen wir uns nicht schämen und demütigen über alles dieses als unsere eigene Schuld, und erröten vor dem Angesicht Gottes?

Gewiss haben wir alle Ursache, uns tief zu demütigen. Und wir können überzeugt sein, dass alle, die es tun und Leid tragen über den Zustand des Volkes Gottes in unseren Tagen, in Übereinstimmung mit den Gedanken des Herrn und dem Geist der Versammlung von Philadelphia sind. Sie trennen sich von dem Parteiwesen und allem, was dem Charakter Philadelphias zuwiderläuft. Solchen fällt es nicht schwer, den richtigen Pfad in unseren Tagen der Verwirrung zu finden, das Wahre von dem Falschen, die Wirklichkeit von dem Schein zu unterscheiden. „Er leitet die Sanftmütigen im Recht, und lehrt die Sanftmütigen seinen Weg“ (Ps 25,9). Und wiederum: „Die wegen der Versammlung Betrübten werde ich versammeln, sie sind aus dir; die Schmach auf ihr war ihnen eine Last“ (Zeph 3,18). Solche lassen sich nicht beirren durch alle die trügerischen Nachahmungen, deren sich der Feind in seinem Widerstand gegen die Wahrheit bedient, um immer neue Parteien ins Leben zu rufen. Wohl mögen manche unter diesen in Unwissenheit und guter Meinung handeln; aber wahr bleibt es, dass alle, die wirklich Leid tragen über die Spaltung der Gläubigen, nicht dazu beitragen werden, diese durch die Bildung neuer Parteien noch immer größer zu machen; vielmehr werden sie bald das Unrichtige durchfühlen und den rechten Platz einnehmen. Doch müssen wir befürchten, dass in dieser Beziehung das Wort des Apostels an die Gläubigen zu Korinth auch auf viele Gläubigen unserer Tage anwendbar ist: „Und ihr seid aufgeblasen und habt nicht vielmehr Leid getragen“ (1. Kor 5,2). Ich wiederhole daher nochmals: das, was uns allen ohne Unterschied geziemt, ist eine tiefe, ernste Demütigung vor Gott, denn wir tragen alle ohne Ausnahme Schuld an dem traurigen Verfall, der uns umgibt. Und wir können überzeugt sein, dass da, wo diese Schuld mit wahrem Schmerz gefühlt wird, auch eine wahre Beugung und Unterwürfigkeit unter das Wort Gottes vorhanden und das zusammenkommen im Namen Jesu Wirklichkeit sein wird. Viele, ja, alle Parteien meinen, im Namen Jesu zusammenzukommen, (und, wie schon gesagt, in gewissem Sinn tun sie es auch) aber sie verstehen nicht, und viele wollen es auch nicht verstehen, dass ein zusammenkommen im Namen Jesu in des Wortes wahrer Bedeutung jede Wirksamkeit des Menschen ausschließt und nur der Wirksamkeit und Leitung des Heiligen Geistes Raum lässt – einer Wirksamkeit, die in völligem Einklang mit dem Wort Gottes steht. Eine Partei als solche ist nie im Einklang mit dem Wort Gottes. Es ist tief schmerzlich und geradezu verletzend für das christliche Gefühl, zu sehen, wie manche Gläubige gewissenlos über das Wort Gottes hinweggehen oder es gar verdrehen, nur um den Standpunkt ihrer Partei zu rechtfertigen und um jeden Preis, sei es selbst auf Kosten der Wahrheit, zu behaupten. Möge der Herr sich seiner armen Herde erbarmen! Möge Er den Seinen die Augen öffnen, damit sie alle im Gefühl ihrer großen Schuld an ihre Brust schlagen und bekennen: „Wir haben gesündigt!“ „Unser ist die Beschämung des Angesichts!“

O, möchten wir doch alle in Wahrheit „zittern vor seinem Wort!“ (Jes 66,5) Mögen wir dann auch ein Gegenstand der Verachtung sein – der Herr erkennt uns an, und das ist genug. Er ruft uns zu: „Weil du das Wort meines Ausharrens bewahrt hast, so will auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die über den ganzen Erdkreis kommen wird, zu versuchen, die auf der Erde wohnen. Ich komme bald; halte fest, was du hast, auf dass niemand deine Krone nehme“ (Off 3,10–11).

Geliebte Brüder, wir stehen vor der Stunde der Entscheidung, einer feierlich ernsten Stunde, die jeden Augenblick hereinbrechen kann. Dies ist charakteristisch bezüglich der Stellung der Versammlung von Philadelphia. Wir sind umgeben von einem System, welches reif ist für das Gericht; aber die Gnade hat uns von demselben getrennt und uns einen Platz gegeben „außerhalb des Lagers“, um jeden Augenblick unsere Aufnahme zu erwarten. Bedenken wir, welch eine Stellung das ist! Lasst uns durch die Gnade in der Macht des Heiligen Geistes diese Trennung vom Bösen und die Erwartung des Herrn mit aller Entschiedenheit und Treue aufrecht halten! Lasst uns festhalten, dass der Herr nahe ist! Lasst uns alle Dinge um uns her im Licht dieser feierlichen „Stunde“ betrachten, und dieselben nach ihrem wahren Wert beurteilen!

Werfen wir schließlich noch einen Blick auf Laodizea. Wie schon bemerkt, haben wir in Philadelphia die Vertretung aller wahren Gläubigen der Jetztzeit. Hier hingegen haben wir die Vertretung einer Klasse von Personen, an welche wir nur mit Wehmut und tiefem Bedauern denken können. Wir haben es hier nicht mit dem offenbaren Unglauben zu tun, welchem sich heutzutage die große Masse immer entschiedener in die Arme wirft, sondern mit dem, was, entgegen diesem starren Unglauben, das Bekenntnis des Christentums unter irgendwelcher Form noch aufrecht hält und sich dadurch von der, alles Göttliche mit Füßen tretenden Masse unterscheidet. Wir sehen, dass diese die Ohren von der Wahrheit abkehrt und sich zu den Fabeln hinwendet, um der Lüge zu glauben; dass sie das charakteristische Kennzeichen der letzten Tage, das der „Spötter“, zur Schau trägt, indem sie mit frechem Hohn alles Heilige verachtet, um sich der Zügellosigkeit und Ausschweifung umso ungestörter hingeben zu können, wie geschrieben steht: „Zuerst dieses wissend, dass in den letzten Tagen. Spötter mit Spötterei kommen werden, die nach ihren eignen Lüsten wandeln und sagen: Wo ist die Verheißung seiner Ankunft?“ – „Ihr aber, Geliebte, gedenkt an die Worte, welche euch zuvor gesagt sind von den Aposteln unseres Herrn Jesus Christus, dass sie euch sagten, dass am Ende der Zeit Spötter sein werden, die nach ihren eignen Lüsten der Gottlosigkeit wandeln“ (2. Pet 3,3–4; Jud 1,17). Je näher wir dem Ende kommen, desto schärfer sehen wir diese Zügellosigkeit des Unglaubens der großen Masse hervortreten, und nicht mehr fern ist der Augenblick, wo sich dieselbe in dem ganzen Umfange ihres wahren Charakters offenbaren und gleich „den wilden Wogen des Meeres ihre eignen Schändlichkeiten ausschäumen“ wird (Jud 13).

Diese Charakterzüge finden wir nicht bei der durch Laodizea vertretenen Klasse von Personen. Im Gegenteil halten diese fest an den althergebrachten Überlieferungen des Christentums, an dem Glauben an die Heiligen Schriften, dem Glauben an Jesus Christus, als den alleinigen Erlöser und Seligmacher, dem Glauben an seine Wiederkunft, dem Glauben an eine ewige Seligkeit und ewige Verdammnis usw. Aber trotz allem diesem fehlt ihnen das wahre Wesen des Christentums – das Leben. Der Herr sagt: „Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärst!“ Sie stehen weder auf dem Boden der ungläubigen Masse, noch auf dem Boden der wahren Gläubigen.

Unwillkürlich werden wir hier an das Gleichnis von den zehn Jungfrauen erinnert, von denen der Herr sagt, dass fünf von ihnen klug und fünf töricht waren. So groß auch der Unterschied zwischen diesen beiden Klassen ist – und sicherlich ist er groß genug, um eine breite Kluft zwischen ihnen zu bilden – so ist er dennoch für einen bloß oberflächlichen Beobachter nicht leicht wahrnehmbar. Beide verbindet bis zu einem gewissen Punkte ein gemeinsames Interesse: die Verwerfung des offenbaren Unglaubens und die Achtung vor dem Göttlichen. Alle sind ausgegangen, dem Bräutigam entgegen; alle haben ihre Lampen geschmückt. Alle haben sich von der offenbar gottlosen Welt abgewandt und erwarten, das Bekenntnis des Christentums hochhaltend, den Herrn, wie verschieden übrigens auch ihre Ansichten über seine Ankunft sein mögen. Aber wie ernst! Die Hälfte von ihnen täuscht sich über sich selbst. Sie sind eingenommen von sich selbst und ihrer eignen Gerechtigkeit; sie haben ihren verlorenen Zustand noch nie in Wirklichkeit im Licht der Gegenwart Gottes gesehen. Trotz des Interesses und Eifers, welchen sie für alles Religiöse und Christliche, für wohltätige Anstalten, Mission und Förderung christlicher Bestrebungen an den Tag legen, trotz ihrer regen Beteiligung an religiösen Versammlungen und Vereinen, trotz ihrer Bekanntschaft mit dem Wort Gottes und ihren fleißigen Gebetsübungen – trotz aller dieser Dinge befinden sie sich in einer gefährlichen Selbsttäuschung. Der Herr erinnert sie daran: „Weil du sagst: Ich bin reich und bin reich geworden und bedarf nichts, und weißt nicht, dass du der Elende und Jämmerliche und arm und blind und bloß bist. Ich rate dir, Gold von mir zu kaufen, geläutert im Feuer, auf dass du reich wirst usw.“

Obgleich indes der Herr ihnen eine besondere Aufmerksamkeit schenkt in der gegenwärtigen Zeit, um sie von dieser Selbsttäuschung zu befreien, so ist doch ihr Zustand ein sehr unzugänglicher für die Gnade infolge ihrer schrecklichen Verblendung. Es ist mehr Hoffnung vorhanden, einen offenbar Ungläubigen von seinem Zustand zu überzeugen, als solche durch ihre eingebildete Frömmigkeit verblendete selbstgerechte. „Ach, dass du kalt oder warm wärst!“ Es gibt in Wahrheit nichts, was der Natur Gottes mehr zuwider sein könnte, als diese eingebildete Frömmigkeit des Fleisches, womit diese Verblendeten ihre wahre Natur vor Gott zu verbergen suchen. „Also, weil du lau bist, so werde ich dich ausspeien aus meinem Mund.“ Wie nichts im Feuer des Gerichts bestehen kann, als nur die Gerechtigkeit aus Gott durch den Glauben an Christus, so werden auch diese mit ihrer eignen Gerechtigkeit nicht bestehen können in der Stunde der Versuchung. Möchten sie den Rat des Herrn annehmen und „Gold von Ihm kaufen!“ Möchten sie ihre Armut und ihr Elend einsehen, ehe es zu spät ist!

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