Botschafter des Heils in Christo 1870

Der gehorsame Jesus

In der heiligen Schrift gibt es ein Wort, auf welches ich die Aufmerksamkeit des Lesers richten möchte. Wir finden dasselbe in Hebräer 5,8 und heißt: „Obwohl Er Sohn war, lernte Er an dem, das Er litt, den Gehorsam.“

Es ist sicher nichts Neues, von Jesus zu hören, dass Er ein gehorsamer Mensch war; und dennoch ist es etwas Wunderbares, dass Er diesen Platz eingenommen hat. Es ist dieses ein so großes Wunder, dass die Engel sich in Anbetung niederbeugen und begierig sind, das große Geheimnis zu verstehen. „Obwohl er Sohn war, lernte er den Gehorsam.“ Was wollen uns diese Worte sagen?

Lieber Leser! Zeigen uns diese Worte nicht den unendlichen und unermesslichen Unterschied zwischen Christus und uns? Wir sind den Gehorsam schuldig. Sind wir nicht gehorsam, so versäumen wir unsere Pflichten gegenüber denen, die über uns gestellt sind und das Recht haben, Vorschriften und Befehle zu geben, die zu befolgen wir verpflichtet sind. Wenn ein Vater seinem Kind einen Auftrag erteilt, ist es dann in deinen Augen etwas Seltsames oder Wunderbares, wenn das Kind gehorsam ist? Keineswegs. Das Kind tut, was es tun muss; man erwartet nichts anders. Würde es aber dem Gebote des Vaters nicht nachkommen, so wäre das nur ein Beweis von dem Geist des Ungehorsams, der leider so natürlich bei den Menschen ist. Es ist ganz der Ordnung gemäß, dass ein Vater gebietet, und dass ein Kind gehorcht. Oder wenn eine Hausfrau ihrer Magd Befehle erteilt, und derselben die tagtägliche Arbeit vorschreibt, so würden wir es doch sicher höchst tadelnswert und unstatthaft finden, wenn die Magd nicht gehorchte. Es ist ihre Pflicht, gehorsam zu sein. Und wie es sich mit den Kindern gegenüber den Eltern und mit den Dienstboten gegenüber ihrer Herrschaft sich verhält, ebenso verhält es sich mit allen Menschen Gott gegenüber. „Ein Sohn soll seinen Vater ehren und ein Knecht seinen Herrn. Bin ich euer Vater, wo ist meine Ehre? bin ich Herr, wo fürchtet man mich? spricht der Herr der Heerscharen“ (Mal 1,6). Es liegt in der Natur der Sache, dass Gott gebietet, und dass die Menschen gehorchen.

Welch ein Unterschied besteht nun zwischen uns und Christus! Die soeben angeführten Worte reden zu uns von Ihm, dessen Stellung es war, über alles zu herrschen. Er war kein Knecht; nein. Er war der Herrscher über alles. Er hatte nicht zu gehorchen; nein, Er war der Gebieter über alle, sowohl über die Engel, als auch über die Menschen. Er ist der eingeborene Sohn Gottes, „der Abglanz seiner Herrlichkeit und der Ausdruck seines Wesens.“ Er ist der Schöpfer aller Dinge und „trägt alle Dinge durch das Wort seiner Macht“. Er sprach: „Es werde Licht! und es war Licht.“ Er ist der Herr aller; und von Ihm wird gesagt, dass „alle Engel Gottes Ihn anbeten“. Anstatt zum Gehorsam verpflichtet zu sein, waren alle verpflichtet, Ihm zu gehorchen. Und dennoch erniedrigte er sich, um ein Kind, ein Jüngling und ein Mann zu werden. Der Gebieter wird ein Knecht und lernte aus Erfahrung, was der Gehorsam ist. „Obwohl Er Sohn war, lernte Er den Gehorsam an dein, das Er litt.“ Unbegreifliche Erniedrigung! Wunderbare Gnade!

Indes dürfen wir diese Worte nicht in der Weise auffassen, als ob der Herr Jesus wie wir, die wir von Natur ungehorsam sind, den Gehorsam zu lernen hatte. O nein. Als Er auf dieser Erde war, war er stets der gehorsame Mensch. Er konnte nicht anders als gehorsam sein. Allerdings musste Er den Gehorsam lernen, weil für Ihn, der nur zu gebieten hatte, der Gehorsam etwas Neues war. Aber nachdem Er sich selbst erniedrigt hatte und ein Mensch und ein Knecht geworden war, war er in diesem Zustand ebenso vollkommen, wie Er zurzeit seiner Herrschaft über alles auf dem Thron des Vaters vollkommen gewesen war. Freiwillig hatte Er sich selbst erniedrigt, freiwillig hatte Er Knechtsgestalt angenommen und freiwillig hatte Er es auf sich genommen, zu gehorchen, anstatt zu gebieten. Wie treffend wird uns dieses in Philipper 2 gesagt, wo wir lesen: „Denn diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus war, welcher, da Er in Gestalt Gottes war, es nicht für eine Beute hielt, Gott gleich zu sein, sondern machte sich selbst zu nichts, und nahm Knechtsgestalt an, indem Er in Gleichheit der Menschen geworden ist und in seiner Stellung wie ein Mensch erfunden, hat Er sich selbst erniedrigt, und ward gehorsam bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz.“ – Er verließ die Herrlichkeit, die Er vor Gründung der Welt beim Vater hatte, um hier auf der Erde zu offenbaren, was der Gehorsam ist – ein Gehorsam, der sich bis in den Tod, ja bis in den Kreuzestod ausdehnte, weil es der Wille Gottes war, durch seinen Tod verlorene Sünder zu retten.

Es steht geschrieben, dass Jesus aus dem, das Er litt, den Gehorsam lernte. Wie konnte Er in allem gehorsam sein, ohne sich dem Hass der Welt auszusetzen? Alle, die Ihn umringten, taten ihren eigenen Willen und lebten nach dem Gutdünken ihres eigenen Herzens. Er war der einzige gehorsame Mensch. Die natürliche Folge davon war, dass Er gehasst, verfolgt und misshandelt wurde. Ein treuer Untertan, der in der Mitte von Verrätern und Aufrührern lebt, wird sicherlich dem Hass derselben bloßgestellt sein; und wie sehr würde sich dieser Hass steigern, wenn man die Entdeckung machte, dass derselbe der Sohn des Königs und von diesem hergesandt sei? Also verhielt es sich mit Jesu. Er, der Sohn des Vaters, wurde durch die Ackersleute ergriffen, aus dem Weinberg gestoßen und getötet, „auf dass“ – sagten sie – „das Erbe unser sei.“ Und was tat der Herr inmitten dieser Umstände? Er verfolgte ununterbrochen den Pfad des Gehorsams. Er ließ sich durch keine Feindschaft oder Verfolgung in seinem Lauf aufhalten. Gingen andere ihren Weg, Er ging seinen Weg; hatten andere ihre Speise, Er hatte die seinige. Und dieser Weg und diese Speise waren, den Willen des Vaters, der in den Himmeln ist, zu tun. Getrieben durch seine Liebe zu Sündern, verließ Er den Himmel und die Herrlichkeit; und durch dieselbe Liebe getrieben, verfolgte Er inmitten der Schmach und der Verfolgung, der Leiden und der Schmerzen den Weg des Gehorsams bis zum Tod am Kreuz.

Ein treffendes Wort in dieser Beziehung finden wir in Jesaja 50, wo der Heilige Geist den Herrn sprechen lässt: „Warum kam ich, und war niemand da? Ich rief, und niemand antwortete. Ist meine Hand so kurz geworden, dass sie nicht erlösen kann? Oder ist bei mir keine Kraft, um zu erretten? Siehe mit meinem Schelten mache ich das Meer trocken und mache die Wasserströme als eine Wüste, dass ihre Fische vor Wassermangel stinken und Durstes sterben. Ich kleide den Himmel mit Dunkel und mache seine Decke als einen Sack.“ – Christus spricht hier von seiner Macht und Herrlichkeit; jedoch fügt Er, vor welchem die ganze Natur sich beugt, die Worte hinzu: „Der Herr Jehova hat mir eine gelehrte Zunge gegeben, dass ich wisse mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre wie ein Jünger.“ – Der Allmächtige ist Mensch geworden; und dieser Mensch ist demütiger und gehorsamer, als das gehorsamste Kind, welches jeden Morgen von seinen: Vater geweckt wird, um zu hören, was dasselbe täglich zu lernen hat. Wer vermag dieses Wunder zu fassen? „Gott offenbart im Fleisch.“ Der Schöpfer des Himmels und der Erde ein kleines, Hilfloses, in der Krippe liegendes Kind, ein verachteter Mensch hienieden inmitten der Feindschaft der Menschen! O Herr! lass uns deine unbegreifliche Liebe mehr und mehr verstehen!

Und hat der Herr Jesus sich je geweigert oder auch nur gezögert, das zu tun, was ihm der Vater geboten hatte? Nein, nimmer. Hören wir seine Worte: „Der Herr Jehova hat mir das Ohr geöffnet; und ich bin nicht ungehorsam und gehe nicht zurück“ (Jes 50,2–5). Nie war Er ungehorsam. Von der Krippe bis zum Kreuz war Er stets der vollkommen gehorsame Mensch. Welch herrliche Beweise haben wir davon in seiner Geschichte! „Das Knäblein aber“ – lesen wir – „wuchs und ward stark im Geist, erfüllt mit Weisheit; und Gottes Gnade war auf Ihm“ (Lk 2,40). Und welch eine liebliche Szene wird uns von dem zwölfjährigen Jesus vor die Augen gemalt! Wie vollkommen war die Vereinigung seines Gehorsams gegen Gott und seines Gehorsams gegen seine Eltern! Als seine Eltern Ihn suchten, war Er in dem Werk tätig, welches Gott, sein Vater, Ihm zu tun gegeben hatte. „Was ist es, dass ihr mich gesucht habt?“ fragt Er in demütigem Ton. „Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ (V 49) Doch anstatt sich hiermit zu brüsten und sich selbst in den Vordergrund zu stellen, wie es junge Leute so gern tun, „ging Er mit ihnen hinab und kam nach Nazareth; und Er war ihnen untertänig“ (V 51). – Und welch ein Vorbild von Gehorsam war sein Leben vor seinem öffentlichen Auftreten als Lehrer! Der Sohn Gottes, der Schöpfer und Erhalter des ganzen Weltalls wohnte dreißig Jahre lang unbekannt und unbemerkt in dem verachteten Nazareth und verdiente als Zimmermann sein eigenes Brot. Welch eine Erniedrigung! Aber Zugleich welch eine unendliche Gnade! „Er ist in allem versucht worden, gleich wie wir, ausgenommen die Sünde, auf dass Er ein barmherziger und mitleidiger Hohepriester für uns sein könnte.“

Aber dieses alles ist nichts im Vergleich zu dem, was der Herr Jesus während der drei Jahre seines öffentlichen Dienstes in Israel erfuhr. Welch ein Weg von Erniedrigung, von Leiden und Schmerz! In allem wurde Er versucht. Er stand dem Teufel, den gottlosen Pharisäern, dem blinden Volk und seinen schwachen, kleingläubigen Jüngern gegenüber. Und in allem zeigte Er seine Vollkommenheit; stets war Er gehorsam. Jeder Tag brachte neue Leiden, jeder Tag neue Mühsale und Beschwerden; an jedem Tag „lernte Er den Gehorsam an dem, das Er litt.“ Wie anbetungswürdig ist es, den Mann von Schmerzen in seinem vollkommenen Gehorsam, in seiner völligen Hingabe und Unterwürfigkeit unter den Willen des Vaters zu betrachten! Wollt ihr einige Beispiele? Betrachtet Ihn in der Wüste, wo Er vom Teufel versucht wird. Vierzig Tage und vierzig Nächte ist Er ohne Speise; und es hungert Ihn. Der Teufel kommt und fordert Ihn auf, aus Steinen Brot zu machen. Und in der Tat, der Herr Jesus hatte nur ein Wort zu sprechen, und die Steine wären in Brot verwandelt gewesen; Er war der Allmächtige. Aber nein. Er will hier nicht seine Allmacht, sondern seinen Gehorsam zur Schau stellen. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“ – Betrachtet Ihn an dem Jakobsbrunnen. Ermüdet von den Anstrengungen der Reise, hungrig und durstig, hat der Herr Jesus Platz genommen. Nur ein Wort hatte Er zu sprechen, und Speise und Trank würde in Überfluss vorhanden gewesen sein. Aber nein. Auf diesem Weg stillt Er seinen Hunger nicht. Er sendet seine Jünger zur Stadt, um Speise zu kaufen, und Er selbst bittet um einen Trunk Wasser. Ja, der Schöpfer aller Wasserquellen bittet ein armes, ehebrecherisches Weib: „Gib mir zu trinken!“ Welch eine Erniedrigung! Welch ein Gehorsam! – Lest die Geschichte des Todes und der Auferweckung des Lazarus. Die Botschaft kommt zu Jesu: „Herr, den du liebhast, ist krank.“ Jesus liebte den Lazarus und dessen Schwestern Maria und Marta. Er war ihr Hausfreund. Er weinte am Grab des Lazarus. Sicher würden wir vorausgesetzt haben, dass Er nach Empfang jener Botschaft sofort nach Bethanien gehen und seinen kranken Freund wieder gesundmachen würde. Doch Er bleibt noch zwei Tage an dem Ort, wo Er war. Er war der völlig gehorsame Mensch. „Meine Speise ist, zu tun den Willen meines Vaters, der in den Himmeln ist.“ – Noch ein anderes Beispiel. Der Herr Jesus war allwissend. Er kannte Judas, und Er kannte auch dessen Pläne. Nur ein einziges Wort hätte es ihn gekostet, und alle Pläne des Überlieferers wären vereitelt gewesen. Aber nein. Er lässt den Sohn des Verderbens seinen Pfad gehen. – Jesus ist allmächtig. Er beweist dieses selbst in Gethsemane. Auf sein Wort stürzen die Kriegsknechte zu Boden. Er hätte sie alle vertilgen können; Er hätte die Hohepriester und die Schriftgelehrten, den Pilatus und den Herodes töten können; mehr denn zwölf Legionen Engel standen ihm zu Gebote. Aber nein. Er bedient sich seiner Macht nicht: Er lässt sie alle ihre Wege gehen; Er übergibt sich ihnen freiwillig. Gleich einem Schaf wird Er zur Schlachtbank geführt, gleich einem Lamm, das verstummt vor seinem Scherer. „Ich hielt meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften; mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel“ (Jes 50,6).

Geliebte Brüder! Es war seine Liebe gegen uns, die Ihn in diesen Zustand des Leidens und des Gehorsams brachte. Sein Gehorsam bis zum Tod ist die Ursache unserer Errettung. „Obwohl Er Sohn war, lernte Er an dem, das Er litt, den Gehorsam, und vollendet ward Er allen, die Ihm gehorchen, der Urheber ewigen Heils.“ – Wollen wir, die wir durch sein Leiden und durch seinen Gehorsam errettet sind, Ihm nicht gehorchen? Welch einen Wert hat der Sohn Gottes auf den Gehorsam gesetzt! Wie lieblich muss es daher in seinen Augen sein, wenn wir denselben offenbaren! Treten wir daher in seine Fußstapfen. Und haben wir wegen unseres Gehorsams zu leiden, nun, so möge es uns nicht befremden, und lassen wir uns nicht, um dem Kreuz zu entfliehen, von dem schmalen Pfade der Gerechtigkeit abdrängen. Denken wir an Ihn, der so vielen „Widerspruch von Sündern gegen sich erduldet hat, auf dass ihr nicht ermüdet, indem ihr in euren Seelen ermattet.“ – Folgen wir Jesu, der, „obwohl Er Sohn war, an dem, das Er litt, den Gehorsam lernte.“

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