Botschafter des Heils in Christo 1870

Johannes 19,31

„Die Juden nun, damit die Leiber nicht am Sabbat am Kreuz blieben, weil es Rüsttag war (denn der Tag jenes Sabbats war groß), baten den Pilatus, dass ihre Beine gebrochen, und dass sie weggenommen werden möchten.“

Diese Stelle zeigt, wie blind der Mensch ist, und stellt vor allem einen Charakterzug des gefallenen Menschen dar, nämlich den, dass er bemüht ist, durch seine Werke sich Gott angenehm zu machen.

Israel war unter das Gesetz gestellt und hatte dasselbe übertreten. Der Ausspruch Gottes, dass der, welcher in einem fehle, das ganze Gesetz schuldig sei, machte jede Tätigkeit des Menschen unnütz. Hätte nun auch Israel für die Folge das Gesetz erfüllen können, so würde es dennoch schon mit Rücksicht auf die Vergangenheit verloren gewesen sein. Nichtsdestoweniger eiferten die Juden für das Gesetz, als ob es möglich gewesen, etwas damit zu erreichen, gerade wie es heute Tausende tun, welche ohne zu untersuchen die Meinung hegen, dass ein Beobachten religiöser Vorschriften irgendwelchen Wert vor Gott habe. Es ist sicher für die menschliche Gesellschaft angenehmer, mit einem nüchternen Mann umzugehen, als mit einem Trunkenbold; und in Bezug auf diese Welt ist es weit lieblicher, einen ehrbaren Mann zu sehen, als einen Dieb; aber wie alles dieses auch an und für sich einen Wert haben mag, so sind doch ohne Unterschied alle Menschen, nach dem Maßstab der von Gott an sie gestellten Forderungen, nichts als Sünder und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes. Ja noch mehr. Der religiöse Mensch ist gerade durch seine vermeintlichen guten Werke so verblendet, dass er einer umso größeren Gnade bedarf, um sich zu erkennen und die an die religiösen Pharisäer gerichteten Worte des Herrn zu verstehen: „Hurer und Ehebrecher werden eher ins Himmelreich kommen, denn ihr!“ Ja, es ist sogar eine ganz gewöhnliche Erscheinung, dass die Feindschaft des natürlich frommen Menschen gegen den einzig wahren Weg des Heils so groß ist, dass derselbe in seinem blinden Gesetzeseifer oft gerade gegen Gott handelt. So sehen wir, dass der nach der Gerechtigkeit im Gesetz tadellose Paulus ein Verfolger Jesu war.

Dasselbe finden wir in der oben angeführten Schriftstelle. Die Juden wollten den Sabbat halten; den Gekreuzigten während des Sabbats am Kreuz hängen zu lassen, verstieß gegen das Gesetz; und in ihrem Gesetzseifer wollten sie lieber die Beine Jesu, als den Sabbat brechen. Welche Blindheit! Durch ihre Feindschaft wider Gott hing Er am Kreuz, der der Herr des Sabbats war, der das arme Volk besuchte, um ihnen Heil zu bringen, der Mensch geworden, um für Sünder zu sterben, und der, während das Gesetz den Menschen verfluchte, dasselbe erfüllte und ans Gnaden den Weg zur Gerechtigkeit eröffnete; – und durch ihre Feindschaft wider Gott wollten sie Ihn so schnell als möglich zu Tod bringen, um das Gesetz nicht zu brechen.

So ist der gefallene Mensch ohne das Licht von oben. Er tötet Voll Hass Ihn, der das Gesetz gegeben, und um nicht das Gesetz zu brechen, bricht er lieber die Beine dessen, der das Gesetz gegeben und erfüllt hat. Wenn es je einen Beweis von der Blindheit und Bosheit des Menschen gegeben, so ist es der, dass Gott in der Person Christi in diese Welt kam, aber der Mensch voll Frevel Ihn von sich abstieß. Der gefallene Mensch fühlt sich nicht wohl in der Gegenwart Gottes. Wohl lässt er sich die Hilfe in seiner Not und in seinen Krankheiten gefallen; aber schließlich schreien doch die Hosianna–Rufer: „Kreuzige, kreuzige Ihn!“ Adam versteckte sich, sobald er gesündigt hatte. Die Heiligkeit Gottes erlaubt dem Sünder nicht, ruhig zu bleiben in der Gegenwart Gottes. Glückselig jeder, der dieses erkennt und sich durch Jesus zum Vater ziehen lässt! Denn „Niemand kommt zum Vater, es ziehe ihn denn der Sohn.“ – Wie schrecklich aber wird der Augenblick für alle sein, die diese Gnadenzeit versäumen, und wie groß die Enttäuschung für solche, die sich einbilden, auf dem Grund ihrer Werke Gott nahen zu können, wenn sie dereinst Jesu als dem Richter begegnen!

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