Botschafter des Heils in Christo 1870

Wir sehen Jesus

Es ist in der Tat sehr gesegnet, stets die geeigneten Gedanken und Gefühle in Betreff der göttlichen Dinge zu haben; aber die Frage ist: Wie erlangen und wie bewahren wir dieselben? Der gesetzliche Geist ist dazu außer Stand, wie wir wissen: er „gebiert zur Knechtschaft.“ Das Gesetz macht niemanden glücklich; denn selbst in dem Fall, dass wir es vollkommen halten könnten, so hätten wir doch nur unsere Pflicht getan; wenn wir es aber im Geringsten übertreten, so sind wir der Strafe verfallen. Eine Seele, die mit ihren Gefühlen beschäftigt ist, befindet sich in einer noch übleren Lage; denn sie steht unter der Herrschaft ihrer Gefühle, und diese, dem Wechsel unterworfen, schlagen oft eine verwerfliche Richtung ein.

Aber wie verschieden ist es, wenn das Herz durch das Werk Christi in der Gegenwart Gottes in Freiheit gesetzt ist! Es ist dann „wirklich frei“ und steht über der Herrschaft seiner Gefühle; und dann kostet es zum ersten Male die Süßigkeit eines vollkommenen Friedens, sowie jene Freude, welche unaussprechlich und voll von Herrlichkeit ist. Wenn Christus als der Auferstandene im Himmel anerkannt worden, und das Auge unverrückt auf ihn gerichtet ist, so werden wir Gedanken und Gefühle haben, die seiner Stellung droben entsprechen; und diese Gedanken und Gefühle werden in dem Maß fortdauernd sein, als das Anschauen seines Antlitzes von unserer Seite nicht unterbrochen oder vernachlässigt wird. Dann werden wir sowohl die himmlischen, als auch die irdischen Dinge so beurteilen, wie Christus selbst sie beurteilt. Wenn das Auge einfältig ist, so wird alles in seinem wahren Licht gesehen. „Jetzt aber“, sagt der Apostel, „sehen wir Ihm noch nicht alles unterworfen. Wir sehen aber den, ein wenig unter die Engel wegen des Leidens des Todes erniedrigten Jesus mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt“ (Heb 2,8–9).

Hier stellt der Apostel uns Zweierlei vor Augen: das, was wir sehen, und das, was wir nicht sehen. Wir schauen zur Erde, und dort sehen wir noch nicht alles Christus unterworfen; wir blicken gen Himmel, und dort sehen wir Ihn in Macht und Herrlichkeit. Aber in der Erkenntnis und in dem Genüsse Christi, des Auferstandenen, betrachtet der Glaube die Szene hienieden stets in ihrem Verhältnis zu Ihm, der droben ist. Sind wir in der unmittelbaren Nähe Jesu, so verschärft Er unser Auge. Menschen und Dinge werden dann als für Ihn bestimmt betrachtet. Und nur in dieser Weise ist unsere Beurteilung der irdischen Dinge eine richtige. Christus befindet sich nicht in den glänzendsten Szenen der Erde; das Auge sieht dort Ihn nicht. Ich sehe um mich her das geschäftige, bewegliche Treiben der Menschen, sie rühmen sich ihrer neuen Erfindungen und Entdeckungen, und stürzen sich den Vergnügungen der Welt in die Arme; aber alles ist eitel und nichtig. Man mag die Herrlichkeiten aller Nationen, Sprachen und Völker in einem Punkt vereinigen, so dass das Auge sie mit einem Mal überschauen kann, was ist alles, da wir Jesus nicht darin erblicken? Die blendendsten Erscheinungen erbleichen für das Auge des Glaubens; denn der Gedanke an die Abwesenheit des Herrn dämpft den glänzendsten Schimmer.

Aber ach! so ist es nicht immer. Es geschieht leider oft, dass sich Christen mit ihrem Herzen soweit von Christus entfernt haben, dass sie gänzlich fortgerissen werden von den Beschäftigungen dieses Lebens, und dass etliche von ihnen sogar Teil nehmen an den armseligen, nichtigen, mit Flitterwerk gezierten Schaugeprängen der Eitelkeit dieser Welt. Was könnte beklagenswerter sein? Sie haben vergessen, dass der Stempel des Todes tief eingegraben ist in jedes Ding diesseits der Auferstehung. Aber sicher beweist ein solch trauriges Betragen, dass das Herz schon längst sich von Christus entfernt hat, und vielleicht durch Sünden verunreinigt ist. Denn nicht plötzlich tritt ein solcher Zustand ein, sondern man erreicht Schritt für Schritt diesen Höhepunkt eines schlechten Wandels; und die erste geringste Untreue ist der erste Schritt nach dieser Richtung hin.

Selbst der natürliche Mensch wird anerkennen müssen, dass all dieser Schimmer menschlicher Eitelkeit, und alles das, wonach das Herz trachtet, nicht im Stande ist, ihm ein dauerndes Glück zu verschaffen und die fortdauernde Unruhe seiner Seele zu stillen. Aber nach der Beurteilung des Glaubens ist jedes Ming eitel und leer, in welchem Christus nicht zu finden ist; und es ist unleugbar, dass in der ganzen Menge der Herrlichkeiten dieser Welt nirgends seine Hand zu entdecken ist. Denn dieses alles ist Ihm noch nicht unterworfen, und zeigt dämm noch nicht einen Schimmer von Widerschein seiner Herrlichkeit. Wir sollten daher bei allem, was uns anziehen will, die Frage erheben: Wem ist dieses oder jenes unterworfen, und von wessen Herrlichkeit sind diese oder jene Dinge der Wieder schein? Und der Glaube wird immer die Antwort bereit haben: Was nicht vom Vater ist, das ist von der Welt, und was nicht von Christus ist, das ist von Satan, und was nicht vom Geist ist, das ist vom Fleisch. Jetzt aber sehen wir Ihm noch nicht alles unterworfen.

Wir haben nur noch „um ein Kleines“ zu warten, und „der zukünftige Erdkreis“ wird dem Sohn des Menschen unterworfen sein. Unter dem Ausdruck: „zukünftiger Erdkreis“ wird nicht, wie im Allgemeinen angenommen wird, der Himmel und die Holle verstanden, sondern vielmehr die zukünftige Periode in dieser Welt, oder das tausendjährige Reich. Wir können nicht von einem „zukünftigen“ Himmel und einer „zukünftigen“ Hölle sprechen, weil beides jetzt schon besteht. Aber wir wissen alle, dass das tausendjährige Reich jene Periode, wo Christus über die Himmel und die Erde, in Ihm unter ein Haupt zusammengebracht, herrschen wird – ein zukünftiges ist. Dann wird es ganz am Platz sein, dass der Gläubige sich der Welt in all ihrer Herrlichkeit erstelle und mit der ganzen Wonne seines Herzens ihre Segnungen genieße. Dann wird der Name des Herrn auf der ganzen Erde herrlich, und seine Majestät über die Himmel gesetzt sein (Ps 8). Bis dahin aber muss Er die Welt durchschreiten als ein Pilger und Fremdling. Unser Bürgerrecht ist im Himmel; wir können nicht Bürger des Himmels und zu gleicher Zeit Bürger der Erde sein; ehemals waren wir Bürger dieser Welt, jetzt aber sind wir Bürger des Himmels und sollen, solange unsere Füße diese Welt durchschreiten, als solche wandeln. Wir gehören nicht mehr der alten Welt an, von welcher uns der Herr auserwählt, sondern sind Bürger der neuen Welt, in die Er uns zu führen übernommen hat. Welch ein gutes Zeugnis hat uns der Heilige Geist Von den pilgernden Vätern aufbewahrt, wenn wir lesen: „Und freilich, wenn sie sich jenes (Vaterlandes) erinnert hätten, von welchem sie ausgegangen waren, so hatten sie wohl Zeit zurückzukehren. Jetzt aber begehren sie ein besseres, das ist ein himmlisches. Deshalb schämt sich Gott ihrer nicht, ihr Gott zu sein; denn Er hat ihnen eine Stadt bereitet“ (Heb 11,15–16). Welch ein herrliches Zeugnis liefern uns diese Pilger! „Gott schämt sich nicht, ihr Gott zu heißen.“ Glückselig der Gläubige, wenn der Herr sich des Platzes nicht schämt, den derselbe in dieser Welt, oder vielmehr außer ihr, einnimmt!

Richten wir jetzt auf den zweiten Gegenstand unserer Betrachtung unsere Blicke, nämlich auf das, was wir sehen. „Wir sehen Jesus.“ Das ist wichtiger, als das zukünftige tausendjährige Reich. Er, der unsere Sünden auf dem Kreuz trug, der um unsertwillen ein wenig unter die Engel erniedrigt wurde, ist auf dem Thron, und dort mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. Was könnte anziehender für unser Herz sein, das nichts in dieser Welt findet, was Wert genug besäße, um sich damit zu beschäftigen? Könnte ein deutlicherer Beweis geliefert werden für die Wahrheit, dass unsere Sünden für ewig hinweggenommen sind? Dieses sollte bei uns der vollständige Abschluss jeder Frage, die vollkommene Ruhe des Herzens, und die lebendige Triebfeder und Quelle unserer Freude und Anbetung sein. Der erste Schimmer von Jesu, des mit Herrlichkeit und Ehre gekrönten Herrn und Heilands, sollte genügen, um für immer das Herz zu trennen von einer Welt, die Ihn verworfen und gekreuzigt hat, und es in praktischer Beziehung innig zu vereinigen mit dem, was droben im Himmel ist. Denn in der Tat, der schwächste Strahl, ausgehend von dieser Herrlichkeit, ist geeignet, die Gedanken und Gefühle des Herzens zu verändern und ihnen eine andere Richtung zu Ihm hin zu geben, der droben ist. Alles was Wert hat, um geliebt zu werden, ist droben – alles, was für uns von Interesse ist, befindet sich droben. Eine Beschäftigung mit diesen Dingen ist das einzige Mittel und der einzige Weg zu einer himmlischen Gesinnung. Unser geistlicher Zustand ist ganz und gar davon abhängig, ob wir „den mit Herrlichkeit und Ehre gekrönten Jesus sehen.“

Freilich gibt es vieles, sehr vieles hienieden, was wir lieben und hochschätzen; und vielleicht viele zarte Bande und Verhältnisse mögen vorhanden sein, die wir pflegen und unterhalten; aber vergessen wir es nicht, dass wir alles in dem Licht des auferstandenen Jesus zu beurteilen haben. Jeder Gegenstand, der mich anzieht, sollte stets in mir die Frage hervorrufen: Geziemen solche Neigungen mir, dem mit Jesu Verbundenen? Ach! leider gibt es bei den meisten Gläubigen keine Sache, die weniger verwirklicht wird, als unser Auferstehungsleben.

Es sollte stets das lebendige Bewusstsein in unseren Herzen wohnen, dass, als Christus starb, auch wir in Ihm gestorben sind, und dass wir die alte Welt verlassen haben mittelst seines Todes. „Ich bin mit Christus gekreuzigt“, sagt der Apostel; „ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Aber auch ebenso sollte der Gedanke, uns begleiten, dass wir in Christus wieder auferstanden, und in der Macht des Auferstehungslebens in die neue Schöpfung eingetreten sind. „Gott aber hat uns mit dem Christus lebendig gemacht, und hat uns mit auferweckt, und mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern in Christus Jesus“ (Eph 2,4–6). Wir sind also, wie uns gesagt wird, „in Christus Jesus“; und wenn wir in Ihm sind, so müssen wir auch sein, wo Er ist. Das natürliche Herz ist unfähig, in das Verständnis solcher Wahrheiten eindringen zu können; aber der Glaube findet darin keine Schwierigkeit. Der Glaube betrachtet stets die Dinge, wie Gott sie betrachtet.

Was sehen wir denn, wenn wir unsere Blicke auf den mit Ehre und Herrlichkeit gekrönten Jesus richten? Gar vieles; wir schauen dort unseren Platz und unser Bild in Ihm. Wie einfach und doch von welcher Tragweite ist dieses. Hier ist der Platz, wo der Glaube die ihm eigentümliche Macht und Tätigkeit entfaltet. Christus ist der göttliche Ausdruck, die vollkommene Erklärung der Stellung eines jeglichen Christen in der Gegenwart Gottes. O, welch eine herrliche Wahrheit ist dieses, und welche Macht übt sie aus, wenn sie mit einem geistlich gesinnten Herzen aufgenommen und in Gemeinschaft mit dem Herrn genossen wird! Es ist sicher, je mehr wir Ihn anschauen, desto spannender und dauernder heftet sich das Auge auf Ihn, und desto mehr tragen unsere Gedanken und Gefühle einen himmlischen Ausdruck zur Schau. „Wir aber alle, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden in dasselbe Bild verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist“ (2. Kor 3,18). das ist die einzige Tür und der einzige Weg zu einer geistlichen Gesinnung, der einzige Pfad zu wahrer Glückseligkeit, der einzige Grund einer dem Himmelsbürger geziemenden Anbetung, und die einzige Quelle einer fortdauernden Freude im Herrn.

Hier ist der Ruhepunkt für jede niedergebeugte Seele. Drum lasst uns inmitten des Bösen, welches uns umgibt, und welches uns laut bezeugt, dass dem Herrn Jesus noch nicht alles unterworfen ist, unverwandt unsere Blicke richten auf Ihn, der, einst ein wenig unter die Engel erniedrigt, jetzt, mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt, auf dem Thron zur Rechten der Majestät in der Höhe sitzt. Droben bei Ihm ist alles in Ordnung. Und welch eine wunderbar köstliche Wahrheit, dass es mit Ihm nicht anders ist, als mit uns, obwohl wir noch nicht in Wirklichkeit die glückselige Stätte unserer Heimat droben erreicht haben. Aber, „wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt.“ Sein Titel ist der unsrige. Wenn wir unverwandt unsere Blicke auf Ihn gerichtet haben, dann schreitet der Fuß sicher über die dornenreichen Pfade dieser Wüste. Dann gibt es kein Schwanken, kein Straucheln; für den Glauben ist der Weg stets gebahnt, und alle Dornen sind niedergetreten, alle Untiefen ausgefüllt, alle Klippen abgebrochen. Drum, wie oft auch unser Auge durch sein Umherspähen nach unwürdigen Gegenständen unser Herz verleitet haben mag, so lasst uns doch von jetzt an unsere Blicke unverrückt auf das freundliche Antlitz Jesu richten, und unser Herz wird mit Freude, Trost und Kraft erfüllt sein. Es bleibt eine unumstößliche Wahrheit, dass der Gegenstand, der das Auge fesselt, immer seinen Einfluss auf das Herz ausüben wird. Ist der Gegenstand unseres Blickes nicht würdig, so wird der kämpfende Arm entkräftet, der pilgernde Fuß gelähmt und das Zeugnis ohne Wirkung sein.

„Wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt.“ Wie klar bezeichnet dieser Ausdruck unsere Stellung! Und dieses Wort bleibt Wahrheit immer und ewiglich; denn es ist das Wort Gottes. Könnte unsere ewige und lebendige Vereinigung mit Christus deutlicher ausgedrückt werden? Gewiss nicht. Der Heilige Geist selbst versichert uns, dass, gerade sowie Christus ist inmitten der Herrlichkeit und der Segnungen des Himmels, auch wir sind in den Augen Gottes, obgleich wir noch in großer Schwachheit durch eine Welt pilgern, in welcher Sünde, Tod und Gericht noch nicht aufgehoben sind. Wie reich ist doch die Gnade! Und alles ist das Werk dessen, der ein wenig unter die Engel erniedrigt, nun aber in Ehre und Herrlichkeit gekrönt worden ist. Wie ermutigend sind daher die Worte des Apostels, wenn er, unbekümmert um das, was ihn in dieser Welt des Verfalls umgibt, die Worte ausruft: „Wir sehen den ein wenig unter die Engel wegen des Leidens des Todes erniedrigten Jesus mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt!“ Ja, wir sehen Jesus und in Ihm unseren Platz und unser Bild. Lassen wir, geliebte Brüder, uns doch nicht dieser vom Himmel herabströmenden Segnung berauben, wie schwach wir uns auch in uns selbst fühlen, und wie vielfachen Versuchungen wir auch ausgesetzt sein mögen!

O möchten wir doch stets mit Ruhe, mit Zuversicht, mit Ausharren und mit einem glücklichen Herzen unseren geliebten, mit Ehre und Herrlichkeit gekrönten Jesus anschauen! Und möchten wir uns doch auch daran erinnern, dass, wenn wir Ihn schauen in seiner Herrlichkeit und Schönheit, wir, in gewissem Sinn, uns selbst sehen! „Wie der Himmlische ist, so sind auch die Himmlischen“ (1. Kor 15,48). Die beiden Stellen, bei denen wir uns verweilt haben, sind in der Tat geeignet und dazu bestimmt, unsere Seele zu stärken und mit Dank und Anbetung zu erfüllen. Christus ist Herrlichkeit für das Auge, und das Wort Christi für das Herz. Hätte der auf dem Meer wandelnde Petrus sein Auge auf die Person Christi, und sein Herz auf das Wort Christi: „Komm!“ gerichtet, so würde er beim Seesturm so sicher über die Wellen geschritten sein, wie der Herr Jesus selbst.

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