Botschafter des Heils in Christo 1870

Die wahre Abhängigkeit

Wir befinden uns in einer bösen Welt, und wir sind darin ohne eigene Kraft. Es ist nötig und höchst gesegnet, über beides ein klares Verständnis zu haben, um einerseits die Befleckungen einer bösen Welt zu fürchten, und andererseits die Kraft zu einem gottseligen Wandel da zu suchen, wo sie zu finden ist – in Christus.

Wir haben hienieden eine zweifache Stellung: Wir sind Kinder Gottes, und wir sind Knechte Jesu Christi. Als Kinder befinden wir uns unter dem Schutz und der Fürsorge eines uns göttlich liebenden Vaters, der uns nicht versäumt, nicht vergisst; als Knechte aber stehen wir im Dienst, wo von unserer Seite eine Tätigkeit gefordert wird, die wir unter dem Schutz unseres Vaters ausüben können. Indes sind wir sehr geneigt, weit mehr an unser Kindesverhältnis und an die Beschirmung und Hilfe unseres himmlischen Vaters zu denken, als dass wir als Knechte Christi unsere dienende Stellung in uns zu einem klaren Bewusstsein werden lassen. Ganz natürlich. Zu Ersterem bedarf es nichts von unserer Seite; Gott hat, unsertwegen jedwede Tätigkeit auf sich genommen, während der Dienst von unserer Seite eine Tätigkeit fordert.

Allerdings ist es wahr, dass nur ein in Abhängigkeit von Gott lebender Christ im Stande ist, durch den Glauben völlig in allen Lagen auf den Herrn zu vertrauen, in Leiden und Schwierigkeiten geduldig auszuhalten und den ihm aufgetragenen Dienst auszuüben, und dass unsere Unruhe, Verzagtheit und Mutlosigkeit nur Zeugnisse sind, dass wir uns nicht verbunden fühlen mit einem Gott, den wir zwar Vater nennen, aber dessen unendliche Liebe, Treue, Sorgfalt und Mühe um seine Kinder wir in der Tat wenig kennen. Er, der die Sperlinge nährt, die Raben versorgt, die Lilien kleidet und das Haar unseres Hauptes gezählt hat – sollte Er seine Kinder vergessen? Er, der Seinen Sohn gegeben, um uns durch Ihn seinem Vaterherzen nahe zu bringen; Er, der seine Liebe in unsere Herzen ausgegossen hat, um uns fühlen zu lassen, was Er für uns ist – sollte Er sein Herz verschließen können, während unser Weg durch eine Welt geht, die nichts als Hass und Feindschaft gegen Gott offenbart? Sollte Er kein Auge für unsere Umstände, kein Ohr für unsere Seufzer haben?

Und dennoch ist es wahr, dass nur die abhängige Seele in dieser Liebe ruht, dieselbe genießt und ihr vertraut. Im Bewusstsein der eigenen Ohnmacht ist es köstlich, auf seine Kraft zu vertrauen; und in unserer Schwachheit zeigt sich seine Kraft. Er sagt in seinem Wort: „Meine Kraft wird durch die Schwachheit vollbracht;“ und der Apostel Paulus, dessen Verständnis für diese Wahrheit geöffnet war, fügt hinzu: „Bin ich schwach, so bin ich stark.“ – Fühlen wir uns in seiner Gemeinschaft und mit Ihm verbunden, so ist das Herz von ihm erfüllt; wir ruhen in seiner Liebe, wir lassen Ihn sorgen, wir sind von seiner Treue überzeugt, wir schauen Ihn durch den Glauben, wir fühlen seine Nahe, und stets werden wir unser Vertrauen belohnt sehen. Nur im Gefühl unserer gänzlichen Abhängigkeit von Ihm und unseres völligen Vertrauens auf Ihn vermögen wir in seinen Wegen zu wandeln und ein Zeugnis abzulegen für seinen heiligen Namen. Wenn wir als Kinder Gottes am Herzen unseres Vaters zu ruhen verstehen, werden wir als Diener Christi eifrig sein in guten Werken.

Es gibt indes noch zwei andere Seiten der Abhängigkeit von Gott. Zunächst sind wir abhängig in Bezug auf die Kraft, das Gute zu tun; und dann sind wir abhängig von seinem Willen, indem wir den eigenen Willen zu verleugnen haben. Kein Christ leugnet, dass er in sich selbst keine Kraft besitzt, und dass er der Kraft von Oben bedarf, um das Gute tun zu können; allein damit ist noch gar nicht gesagt, dass jeder Christ in dieser Beziehung in Abhängigkeit von Gott wandelt. Zwischen dem Zugeständnis, dass wir keine Kraft haben, und dem lebendigen Bewusstsein der Seele, dass wir ohne Kraft sind, ist ein großer Unterschied; und es ist in der Tat eine Gnade von Gott, wenn Er unsere Herzen von unserer Kraftlosigkeit überzeugt und uns befähigt, stets in diesen: Bewusstsein zu wandeln. Nicht allein werden wir dann verstehen, dass, wenn wir nicht in Jesu bleiben, wir nichts nach seinem wohlgefälligen Willen tun können, sondern wir werden dann in der Tat auch praktisch in Ihm bleiben, und die von Ihm, dem Weinstock, ausströmende Kraft wird sich in uns, den Reben, zeigen. Wie oft begegnet man neben dein Bekenntnis, dass wir nichts aus uns selbst vermögen, dennoch dem eigenen Abmühen, als vermöchten wir alles! Wie oft hören wir sagen, dass Christus unsere Kraft sei, und finden daneben ein kraftloses, dürres Leben, ohne dass der Weinstock seine Säfte der Seele zuführt! Die Unruhe der Seele liefert nur zu deutlich den Beweis, dass man nicht praktisch in Christus bleibt; und nur wer in Ihm bleibt, wird viele Frucht bringen.

Folgenschwerer jedoch ist es, wenn wir die zweite Art von Abhängigkeit nicht verwirklichen, indem wir uns nicht dem Willen des Herrn unterwerfen, sondern unserem eigenen Willen folgen. Es ist freilich wahr, dass, wenn wir in Ausübung des Guten nicht in der Abhängigkeit des Herrn wandeln, wir die Zeit nicht auskaufen, sogar vergeblich arbeiten und unseren Lohn verlieren; aber wenn wir in Bezug auf den Willen des Herrn unsere Abhängigkeit von Ihm ans dem Auge verlieren, so tun wir unseren eigenen Willen, folgen den Neigungen unseres trügerischen Herzens, und verleben nicht nur eine verlorene Zeit, sondern wir betrüben auch den Herrn, handeln gegen seinen wohlgefälligen Willen, vergessen, dass wir, um uns selbst nicht mehr anzugehören, teuer erkauft sind, und greifen in die Rechte des Herrn ein, dessen Sklaven wir sind und dessen Willen wir tun sollten. Wenn wir nun sagen wollten, dass es doch nicht unsere Absicht sei, das Böse tun zu wollen, so vergessen wir, dass es schon böse ist, dem eigenen Willen zu folgen, da wir die Sklaven eines anderen, nämlich Christi, sind. Nichts ist betrübender für den Herrn, als wenn wir uns unabhängig von ihm machen und unseren eigenen Willen tun; und nichts ist gefährlicher für uns, als wenn wir unsere eigenen Wege gehen; denn unsere Wege sind nicht seine Wege. Unsere Wege wandeln wir nicht in seiner Gemeinschaft; und darum werden wir keine Frucht bringen. Auf den Wegen unseres eigenen Willens ist Gott nicht mit uns; wir dürfen dabei nicht auf seine Hilfe rechnen; und es ist in der Tat noch eine Gnade zu nennen, wenn Er uns auf diesen Wegen zu Schanden werden lässt, damit wir zurückkehren und uns in die Abhängigkeit von Ihm stellen.

Es sollte in der Seele jedes Christen stets ein aufrichtiges Prüfen sein, was in jeder Lage und in allen Umständen der wohlgefällige Wille Gottes sei. Unsere Herzen sollten stets von dem Bewusstsein durchdrungen sein, dass wir uns selbst nicht mehr angehören, und dass wir daher nicht das geringste Recht haben, unseren Willen zu tun.

Es ist immer das Fleisch, welches seinen eigenen Weg gehen will und welches mit Leichtfertigkeit entweder sagt, dass es den Willen Gottes nicht habe entdecken können, oder dass es hoffe, nicht dem Willen Gottes entgegen zu handeln, oder sogar, dass es von Seiten des Herrn ans seinem Weg behindert zu werden begehre, falls dieser Weg nicht nach seinem Willen sei. Aber bedenken wir es wohl, es ist das Fleisch, welches eine solche Sprache führt. Der Geist ist in Übereinstimmung mit Gott; wenn wir nach dem Geist wandeln, so werden wir nimmer über den Willen Gottes im Unklaren sein. Und sollte der Herr zögern, uns seinen Willen in irgendeiner Sache zu offenbaren, so werden wir geduldig warten, bis Er uns die Weise und die Ziele unseres Handelns anzeigt; und in diesem Fall wird man nicht zu der Ausrede zu greifen gezwungen sein, dass man hoffe, nicht dem Willen Gottes entgegen zu handeln, weil man nicht eher handelt, als bis Gott seinen Willen offenbart hat. Der Herr aber wird dann nicht gezwungen sein, unseren Wegen entgegentreten zu müssen, weil es die Wege seines Willens sind und wir das tun, was vor ihn: wohlgefällig ist.

Möge der Herr uns die Gnade verleihen, stets in völliger Abhängigkeit von Ihm zu wandeln; denn nur dann werden wir sichere und gesegnete Wege gehen. Es gibt – sei es, dass wir Herren oder Knechte, Frauen oder Mägde sind – viele kleine und große Dinge in unserem Leben, die wir nach unserem Verstand zu erledigen pflegen. Vs fällt uns sehr oft gar nicht dabei ein, dass wir in jeder Sache im Dienst des Herrn stehen. Wir stellen sehr oft erst dann eine kleine Prüfung an, wenn es sich um außergewöhnliche Fälle handelt, während wir im Alltagsleben tausend Dinge tun, die ein Ausfluss unserer Gewohnheiten oder unseres Verstandes sind, die aber, im Lichts und nach dem Urteil Gottes geprüft, in vielen Fällen als seinem Willen entgegen bezeichnet werden würden. Nach dem Wort Gottes aber sollen die gewöhnlichsten Dinge, wie Essen und Trinken, mit der Ehre Gottes in Verbindung gebracht werden.

Doch wenn wir auch bekennen müssen, dass große Schwachheit und vor allem ein bedauerlicher Mangel an Abhängigkeit von Gott unter uns sich vorfindet (und wir bekennen dieses von ganzem Herzen), so ist es doch gesegnet, uns vor die Augen zu stellen, dass der Herr nur zu unserem eigenen Besten eine völlige Abhängigkeit in jeder Beziehung von uns fordert. Ohne Kraft, abhängig von seiner Kraft, sind wir stark. Welch ein Tausch für unsere Schwachheit! Statt unserer Ohnmacht seine Kraft, um seinen gesegneten Willen statt unseres bösen Willens tun zu können. Möchten wir daher doch für das elende Vertrauen zu uns selbst ein völliges Vertrauen zu den: Gott eintauschen, der uns schirmt und schützt. Sicher wird ein solches Vertrauen von jener Ruhe begleitet sein, welche für die Seele einem solch gesegneten Verhältnisse entspringt; und sicher wird unser Herz von jener Freude erfüllt werden, welche die Verheißung darreicht, dass der Gott des Friedens mit uns sein wird.

Der Herr gebe uns allen das tiefe Verlangen, in wahrer, steter und völliger Abhängigkeit von ihm unsere Pfade zu wandeln!

Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel