Botschafter des Heils in Christo 1870

Grenzen und Anstöße

Welch eine zärtliche Sorgfalt, welch eine gnadenreiche Umsicht verraten diese oben erwähnten Schriftstellen! Die alten Grenzen fällten nicht verrückt werden; aber die Anstöße sollten entfernt werden. Das Erbt heil des Volkes Gottes sollte sich in seiner Länge und Breite zeigen, während die Anstöße mit aller Emsigkeit aus dem Weg desselben geschafft werden sollten. Das war die Gnade des Gottes Israels. Das war seine Sorgfalt für sein Volk. Das Teil, welches Gott einem jeden gegeben, war geeignet, Freude zu bewirken, während zu gleicher Zeit der Pfad, auf dem ein jeder zu wandeln berufen war, von jeder Art von Anstoß befreit wurde.

Dieses ist sehr wichtig in unseren Tagen. Der Schreiber dieser Zeilen hat oft Gelegenheit gehabt, mit Seelen zu verkehren, die ihm vertrauensvoll ihre Zweifel und Befürchtungen, ihre Schwierigkeiten und Gefahren, ihre Kämpfe und Versuchungen mitteilten; und es ist sein ernster Wunsch, von Gott gebraucht zu werden, um zum Nutzen des Lesers die Grenzen, welche Gott durch seinen Geist aufgerichtet hat, genau zu bezeichnen, sowie die Anstoße, welche der Teufel so fleißig auf den Pfad der Gläubigen wälzt, hinwegzurücken.

So ist unter anderem die Lehre von der Erwählung schon bei manchem ein Gegenstand des Anstoßes geworden. Und doch wird diese Lehre an ihrem rechten Platze, anstatt ein Anstoß auf dem Pfad ängstlicher Forscher zu sein, als ein Grenzstein erkannt werden, und zwar vor Alters gesetzt durch die inspirierten Apostel unseres Herrn Jesus Christus in dem Erbteil des Israel Gottes. Aber wir wissen, dass eine an einen falschen Platz gestellte Wahrheit bei weitem gefährlicher ist, als ein positiver Irrtum. Wenn jemand sich erheben und mit Unverschämtheit die Lehre der Erwählung als Irrtum bezeichnen würde, so würden wir ohne Zögern seine Behauptung bestreiten und widerlegen. Aber wir würden vielleicht nicht ganz so wohl vorbereitet sein. Jemandem zu begegnen, welcher, während er jene Lehre als wahr und richtig bewundert, derselben nicht den ihr göttlich bestimmten Platz anweist. Und dennoch geschieht letzteres so oft zur Schädigung der Wahrheit Gottes und zur Verdunkelung der Seelen der Menschen.

Welches ist denn der wahre Platz für die Lehre von der Erwählung? – Ihr wahrer, ihr göttlich bestimmter Platz ist im inneren des Hauses, in der Hand des Lehrers, als geeignet für das Ohr wahrer Gläubigen, aber stattdessen hat der Feind ihr außerhalb des Hauses in der Hand des Evangelisten einen Platz angewiesen, und zwar zum Anstoß ängstlich suchender Seelen. Und eben darum hört man so oft die Worte ängstlicher Gemüter: „Wenn ich nur wusste, ob ich einer der Erwählten sei, dann wollte ich schon ganz glücklich sein; denn ich könnte dann die Segnungen des Todes Christi auf mich anwenden.“

Sicher würde dieses, wenn sie nur die Gefühle ihrer Herzen reden ließen, die Sprache vieler sein. Sie machen einen üblen Gebrauch von der Lehre von der Erwählung, die, wahr und gesegnet in sich selbst, eine höchst wertvolle Grenze, aber auch ein höchst gefährlicher Anstoß ist. Es ist sehr nützlich für den ängstlich Suchenden, wenn er es stets in seinem Geist festhält, dass er als „ein verlorener Sünder“ und nicht als „ein Auserwählter“ die Segnungen des Todes Christi auf sich anwenden kann. Der geeignete Standpunkt, von wo aus man eine Rettungsaussicht auf den Tod Christi genießen kann, ist nicht die Erwählung, sondern das erkannte Verderben. Zu erkennen, dass man ein verlorener Sünder ist, ist daher eine unaussprechliche Gnade; aber ich erkenne mich nicht eher als einen Auserwählten, als bis ich durch das Zeugnis und die Unterweisung des Heiligen Geistes die frohe Botschaft der Errettung durch das Blut des Lammes empfangen habe. Die Errettung – klar wie der Sonnenstrahl, voll wie der Ozean, fest wie der Thron des ewigen Gottes – ist mir nicht als einem Auserwählten, sondern als einem äußerst verlorenen, verdammungswürdigen Sünder gepredigt worden; und als ich meiner Rettung durch den Glauben gewiss wurde, da hatte ich den entscheidenden Beweis meiner Auserwählung. „Wissend, von Gott geliebte Brüder, eure Auserwählung; denn unser Evangelium ist nicht allein im Wort zu euch gekommen, sondern auch in Kraft und in dem Heiligen Geist und in großer Gewissheit“ (1. Thes 1,4–5). Die Auserwählung ist nicht die Bürgschaft für meine Errettung, sondern der Empfang meiner Errettung ist der Beweis meiner Auserwählung. Denn wie könnte es ein Sünder wissen, dass er einer der Auserwählten sei? Wo ist dieses zu finden? Es muss eine Sache göttlicher Offenbarung sein; denn anders kann es nimmer eine Sache des Glaubens sein. Aber wo finden wir diese Offenbarung? Wo ist die Kenntnis der Erwählung als eine unumgänglich notwendige und wesentliche Einleitung zur Annahme des Heils bezeichnet worden? Nirgends in dem Wort Gottes. Mein einziges Anrecht auf Rettung ist, dass ich ein armer, schuldbeladener, verlorener und verdammungswürdiger Sünder bin. Wenn ich auf ein anderes Anrecht warte, so bin ich im Begriff, die höchst wertvolle Grenze von ihrem bestimmten Platze hinweg zu rücken und einen Anstoß auf meinen Weg zu wälzen. Dieses aber ist, um es sehr gelinde auszudrücken, höchst unklug.

Doch es ist mehr als unklug. Es ist eine bestimmte Opposition gegen das Wort Gottes, und zwar nicht nur gegen die oben angeführten Stellen, sondern gegen den Geist und gegen die Unterweisung der ganzen heiligen Schrift. Wie lautet der Auftrag, den der auferstandene Heiland an seine ersten Boten richtete? „Geht hin in die ganze Welt, predigt das Evangelium der ganzen Schöpfung“ (Mk 16,15). Zeigt sich hier in diesen Worten irgendein schwacher Grund, auf den eine Frage hinsichtlich der Erwählung gestützt werden könnte? Ist irgendjemand, welchem dieses glorreiche Evangelium gepredigt worden ist, berufen, sich zunächst und vor allem mit dieser Frage der Erwählung zu beschäftigen? Gewiss nicht. „Die ganze Welt“ und „die ganze Schöpfung“ – das sind Ausdrücke, die jede Schwierigkeit bei Seite setzen und die Frage der Errettung auf das ganze Menschengeschlecht ausdehnen. Wir lesen nicht: „Geht hin in einen bestimmten Teil der Welt und predigt das Evangelium einer gewissen Zahl.“ Nein, das würde sich nicht vereinigen lassen mit der Gnade, die in der ganzen, weiten Welt verkündigt werden sollte. Wenn es sich um das Gesetz handelte, so war dasselbe allerdings nur an eine gewisse Zahl in einem bestimmten Teil der Schöpfung gerichtet; aber als das Evangelium verkündigt werden sollte, so wurde ihm „die ganze Welt“ als sein Wirkungskreis, und die „ganze Schöpfung“ als sein Gegenstand angewiesen.

Und wiederum, wie lauten die Worte, die der Heilige Geist durch den Mund des Apostels Paulus sagt? „Das Wort ist treu und aller Annahme wert, dass Christus Jesus gekommen ist in die Welt, Sünder zu erretten“ (1. Tim 1,15). Bieten diese Worte irgendwelchen Raum zu der Annahme, dass jemand ein besonderes Anrecht auf die Errettung habe? Keineswegs. Wenn Christus zur Rettung der Sünder in die Welt gekommen ist und ich ein Sünder bin, so bin ich auch berechtigt, die Segnungen seines kostbaren Opfers auf meine eigene Seele anzuwenden. Bevor ich mich in irgendeiner Weise davon ausschließen kann, muss ich etwas anders sein, als ein Sünder. Allerdings wenn irgendwie in der heiligen Schrift erklärt worden wäre, dass Christus Jesus zur Rettung der Auserwählten in die Welt gekommen sei, dann würde ich selbstredend gezwungen sein, mich als zu dieser Zahl gehörend ausweisen zu können, bevor ich die Segnungen seines Todes mir zueignen dürfte. Aber, Gott sei gepriesen! in der ganzen Darstellung des Evangeliums gibt es nicht das Geringste, was zu einer solchen Meinung Anlass geben könnte. „Der Sohn des Menschen ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist“ (Lk 19,10). Und ist das nicht eben mein Zustand von Natur? Ja, in der Tat. Wohlan denn, ist es nun nicht der Standpunkt eines Verlorenen, von welchem aus ich den Tod Christi erblicken kann? Ohne Zweifel. Und darf ich, von dort aus das kostbare Geheimnis der Erlösung betrachtend, nicht in der Sprache des Glaubens die Worte sagen: „Er liebt mich und gab sich hin für mich?“ Ja, ich darf es, und zwar so rückhaltlos und unbedingt, als ob ich der einzige Sünder auf der Oberfläche der Erde wäre.

Nichts kann den Geist einer ängstlich suchenden Seele mehr beruhigen und erquicken, als wenn sie erkennt, dass die Rettung ihr gerade in dem Zustand, in welchem sie sich eben befindet, und gerade auf dem Grund, auf dem sie eben steht, gebracht wird. Es zeigt sich nicht der geringste Anstoß auf dem ganzen Wege, welcher zu dem Erbteil der Heiligt! führt – zu einem Erbteil, welches durch Grenzen festgestellt ist, die weder durch Menschen noch durch Teufel hinweg gerückt werden können. Der Gott aller Gnade hat alles gesagt und alles getan, was der Seele Ruhe, Gewissheit und volles Genüge geben kann. Er hat den Zustand und den Charakter derer, für welche Christus starb, in solchen Grenzen gezeigt, dass kein Raum übrigbleibt für irgendeinen Zweifel oder irgendeine Ungewissheit. Sein köstliches Wort ruft uns die Worte zu: „Denn Christus, da wir noch schwach waren, ist zu seiner Zeit für Gottlose gestorben.“ „Gott aber erweist seine Liebe gegen uns, indem Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist.“ „Denn wenn wir, da wir Feinde waren, Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, vielmehr werden– wir, da wir versöhnt sind, durch sein Leben errettet werden“ (Röm 5,6.8.10).

Bedarf es noch einer größeren Klarheit, als diese köstlichen Stellen liefern? Ist hier irgendwie ein Ausdruck gebraucht, der möglicher Weise in dem Herzen eines Sünders sein völliges und unbestreitbares Recht auf die Segnungen des Todes Christi in Frage stellen könnte? Keineswegs. Bin ich ein „Gottloser“? Nun, für einen solchen starb Christus. Bin ich ein „Sünder“? Gegen einen solchen erweist Gott seine Liebe. Bin ich ein „Feind“? Einen solchen versöhnt Gott durch den Tod seines Sohnes. Also alles ist so klargemacht, wie der Strahl der Sonne, und der Anstoß, hervorgerufen durch die an einen falschen Platz gestellte Lehre der Erwählung, ist aus dem Weg gerückt. Als Sünder erlange ich die Wohltaten des Todes Christi. Als Verlorener erlange ich eine Errettung, welche so frei wie unerschütterlich, und so unerschütterlich wie frei ist. Alles, was ich bedarf, um mir den Wert des Todes Christi zuzueignen, besteht einfach darin, dass ich mich als einen schuldbeladenen Sünder erkenne. Es würde nur, wenigstens in dieser Sache, nichts nützen, wenn man mir sagte, dass ich ein Auserwählter sei; denn in diesem Charakter wendet sich Gott im Evangelium nicht an mich, sondern Er begegnet mir als einem verlorenen Sünder.

Indes könnte sich jemand zu der Frage veranlasst fühlen: „Wünschest du denn die Lehre von der Erwählung bei Seite zu setzen?“ – Gott verhüte es. Wir wünschen nur, diese wichtige Lehre an ihren rechten Platz zu stellen. Wir begehren sie als eine Grenze, nicht aber als einen Anstoß. Wir glauben, dass es nicht die Tätigkeit des Evangelisten ist, die Erwählung zu predigen. Es ist dieses die Sache des Lehrers in der Versammlung der Gläubigen. Paulus predigte Christus den Sündern; er belehrte die Gläubigen über die Erwählung. Das macht den ganzen Unterschied aus. Wir glauben, dass nicht jemand, der durch die Lehre der an einen falschen Platz gestellten Erwählung in irgendeiner Weise beunruhigt ist, ein geeigneter Evangelist sein kann. Wird ein Evangelist die Erwählung statt Christus predigen, so werden gleichgültige Sünder nur noch gleichgültiger gemacht, während ängstliche Seelen zu noch größeren Ängsten nutzlos gedrängt werden. Sicher werden dieses die Folgen sein; und sie sollten genügen, um die ernstesten Gedanken in den Herzen derer zu erwecken, welche brauchbare Prediger jener freien und vollkommenen Errettung zu sein begehren, die aus dem Evangelium des Christus hervorstrahlt und die allen, die es hören, jede Entschuldigung abschneidet. Die erhabene Tätigkeit eines Evangelisten besteht darin, dass er die vollkommene Liebe Gottes, die Wirkung des Blutes Christi und das Zeugnis des Heiligen Geistes in seiner Predigt darstellt. Sein Geist muss ganz ohne Fesseln, und sein Evangelium ohne Wolken sein. Er muss eine gegenwärtige Errettung verkündigen, die völlig frei und so unerschütterlich ist, wie der Pfeiler, der den Thron Gottes stützt. Das Evangelium ist nichts mehr und nichts weniger, als die Entfaltung des Herzens Gottes, gleichsam dargestellt in dem Tod seines Sohnes und in dem unsterblichen Zeugnis des Heiligen Geistes.

Würde dieses mit größerer Sorgfalt beachtet, so würde auch mehr Kraft vorhanden sein, um einerseits den oft wiederholten Einwendungen gleichgültiger Menschen, und andererseits den tiefen Ängsten der nach Wahrheit suchenden Seelen begegnen zu können. Erstere würden keinen Grund zu Einwendungen und Letztere keinen Grund zur Furcht haben. Wenn jemand, sich auf ewige Ratschlüsse Gottes berufend, das Evangelium verwirft, so verwirft er das, was offenbart, um dessentwillen, was verborgen ist. Was kann er irgendwie wissen in Betreff der Ratschlüsse Gottes? Geradezu nichts. Wie nun kann sich das, was ein Geheimnis ist, als ein Grund zur Verwerfung dessen hervordrängen, was offenbart ist. Warum dasjenige verweigern, was erkannt werden kann, um dessentwillen, was nicht erkannt werden kann? Es ist klar, dass die Menschen nicht also handeln in Fällen, wo sie eine Sache zu glauben wünschen. Wenn wir jemanden nur bereit sehen, irgendetwas zu glauben, so werden wir sicher nicht finden, dass er sich mit Eifer nach einem Einwandsgrund umsieht. Aber ach. Die Menschen haben kein Bedürfnis, Gott zu glauben. Sie verwerfen sein kostbares Zeugnis, welches so klar ist, wie die Sonne im Mittagsglanze, und berufen sich, um ein solches Tun zu rechtfertigen, auf seine Ratschlüsse, welche in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt sind. Welche Torheit! Welche Blindheit! Welche Missetat!

Was nun aber jene ängstlich suchenden Seelen betrifft, welche sich selbst mit Fragen bezüglich der Erwählung quälen, so wünschen wir von Herzen, ihnen zu zeigen, dass es nicht in Übereinstimmung mit den: Geist Gottes ist, dass sie sich mit solchen Schwierigkeiten beschäftigen. Gott wendet sich an sie gerade in dem Zustand, in welchem Er sie sieht, und in welchem sie selbst sich sehen können. Er wendet sich an sie als an Sünder; und dieses ist genau das, was sie sind. Es gibt nur Rettung für einen Sünder, und zwar in dem Augenblick, wo derselbe seinen wahren Platz als ein Sünder einnimmt. Das ist einfach genug für eine einfältige Seele. Fragen hinsichtlich der Erwählung zu erheben, ist purer Unglaube. Es ist, mit anderen Worten, eine Verwerfung dessen, was offenbart ist, auf Grund dessen, was verborgen ist; es ist eine Weigerung dessen, was ich erkennen kann, auf Grund dessen, was ich nicht erkennen kann. Gott hat sich offenbart im Angesicht Jesu Christi, so dass wir Ihn erkennen und Ihm vertrauen können. Außerdem hat Er in der Versöhnung auf dem Kreuz eine vollkommene Vorsorge für jedes unserer Bedürfnisse und für unsere ganze Schuld getroffen. Anstatt mich daher mit der Frage zu foltern: „Bin ich einer von den Auserwählten?“ ist es mein glückseliges Vorrecht, in der vollkommenen Liebe Gottes, in der Allgenügsamkeit Christi und in dem treuen Zeugnis des Heiligen Geistes zu ruhen. 2.: Es gibt indessen noch andere Anstöße, die wir aus dem Weg des Volkes Gottes gerückt zu sehen wünschen, und ebenso auch noch andere Grenzen, welche dem Gesichtskreis mancher Christen entschwunden zu sein scheinen.

So haben wir in vielen Fällen gefunden, dass die Zueignung der dem Erlösungswerk entsprungenen Segnungen den Seelen oft zu einem Anstoß gedient hat. Und obwohl wir uns stets bemüht haben, in diesem Punkt uns klar auszudrücken, so erachten wir es dennoch als notwendig, auch hier in Kürze dem Leser zu zeigen, dass die Frage der Zueignung, anstatt ein Anstoß auf seinem Weg zu sein, vielmehr in Wirklichkeit eine Grenze in seinem geistlichen Erdteil ist.

Wenn wir den Weg, auf welchen viele den Gegenstand der Zueignung gestellt haben, etwas näher ins Auge fassen, so will es uns scheinen, als ob sie darauf wie auf etwas blickten, welches sie zu tun haben, bevor die Segnungen des Todes Christi für sie ihre Anwendung finden könnten. Dieses ist aber ein großer Irrtum. Der Tod Christi wendet sich in seiner ganzen Versöhnungswirksamkeit an den Sünder, und zwar in dem Augenblick, wo derselbe seinen Platz als Sünder einnimmt. Nicht die Anwendung dieser Wahrheit bietet eine Schwierigkeit, nein, vielmehr ist es eine Schwierigkeit, ja eine Unmöglichkeit, diese Anwendung abzuweisen. Das Blut Jesu Christi ist für den schuldigen Sünder als solchen. Daher hat ein jeder, welcher weiß und fühlt, dass er ein verlorener Sünder ist, das Vorrecht, einfach in diesem kostbaren Blut seinen Ruhepunkt zu finden. Das Werk der Versöhnung ist geschehen. Die Sünde ist hinweg getan. Alles ist vollbracht – ja vollbracht durch die Hand Gottes selbst. Habe ich nun noch auf etwas anders zu warten? Habe ich noch nötig etwas anders zu tun – etwas dein vollbrachten Werke Christi hinzuzufügen? Sicher nicht. Ich bin einfach berufen, durch Glauben in dem zu ruhen, was Christus für mich getan hat; und ich weiß, dass alle meine Sünden hinweggetan sind, und dass mein Gewissen so rein ist wie das Blut rein zu machen im Stande ist.

Das ist die wahre Zueignung. Ich fasse Gott bei seinem Wort, drücke mein Siegel auf das, was wahr ist. Es ist nicht ein gewisses unbeschreibliches Werk von meiner Seite, sondern ein Ruhen in dem Werk Christi. Es ist nicht ein Warten auf etwas, das von mir noch geschehen soll, sondern ein Vertrauensetzen auf das, was bereits durch Christus geschehen ist. Das macht einen großen Unterschied aus. Die „Zueignung“ ist in der Tat eine Grenze, und nicht ein Anstoß. Nur darum, weil sie missverstanden wird, straucheln so viele darüber. Es geschieht nicht selten, dass manche ungewisse und zögernde Blicke daraus werfen, während sie bereits im Besitz derselben sind. Wenn ich von ganzem Herzen glaube, dass Jesus gestorben und wieder auferstanden ist, so habe ich das Vorrecht, in die kostbaren Worte des Apostels einzustimmen und zu sagen: „Er hat mich geliebt und sich selbst für mich gegeben.“ Das ist in der Tat die Sprache der Zueignung. Aber es ist die Zueignung an ihrem rechten Platze – als Grenze und nicht als Anstoß. Die Zueignung als Anstoß wird sich in den Worten ausdrücken: „Ich weiß wohl, dass Christus für mich starb, aber ich kann die gesegneten Folgen des Todes Christi mir nicht zueignen.“ Das ist in Wahrheit ein höchst beklagenswerter Irrtum, der in verhüllter Weise feststellt, dass der Tod Christi ohne ein gewisses Werk von Seiten des Sünders von keinem Nutzen sei, während doch die heilige Schrift uns belehrt, dass von dem Augenblick an, wo ein Sünder, als gänzlich verloren, seinen wahren Platz einnimmt, der Tod Christi eine so völlige und wahre Anwendung auf ihn findet, als ob er der einzige Sünder in der ganzen Welt wäre, und dass er überdies gerechtfertigt ist durch Glauben und nicht durch Werke, welcher Art sie auch sein mögen.

Es ist wirtlich wunderbar, die verschiedenen Methoden zu beobachten, deren sich der Feind bedient, um die Seelen zu verwirren und zum Straucheln zu bringen. Wenn es ihm gelingt, sie zu veranlassen, dass sie sich auf gesetzliche Anstrengungen und auf zeremonielle Gebräuche stützen, so wird er sie sicher drängen zu Fragen bezüglich der Erwählung, der Zueignung, der Verwirklichung, der Gefühle und der Erfahrungen. Anstatt zu ruhen in dem vollkommenen Werke Christi, gehen sie, durch alle diese Fragen zu Boden gedrückt, bekümmert umher. Nicht als ob wir diese Dinge unterschätzen wollten. Weit davon entfernt. Im Gegenteil, wir schätzen sie als Grenzen, aber wir verabscheuen sie als Anstöße. Der wahre Grund des Friedens eines Gläubigen ist nicht die Erwählung oder die Zueignung oder die Verwirklichung, sondern Christus. Der Friede ruht auf der ewigen Wahrheit, dass Gott mit Christus auf dem Kreuz in Betreff all unserer Sünden handelte – dass dort die ganze Frage für immer und ewig geordnet und zum Austrage gebracht ist. Ich glaube – und das ist die Zueignung. Ein Bleiben im Glauben – das ist Verwirklichung.

Möge der Heilige Geist den ängstlich suchenden Leser leiten, diese Dinge zu verstehen! Es ist der Wunsch unseres Herzens und unser Flehen zu Gott, dass jede niedergebeugte Seele sich in Freiheit gesetzt fühle durch die Erkenntnis einer vollkommenen und freien Errettung – einer Rettung, die entlastet ist von den Bürden all jener Fragen, welche so oft zur Schädigung der Wahrheit Gottes und zur Verdunkelung der Seelen erhoben werden. Die Erwählung ist eine kostbare Wahrheit; die Zueignung ist eine Tatsache; die Verwirklichung ist eine Wirklichkeit; aber lasst uns ein für alle Mal die Erklärung abgeben, dass diese Wahrheit nicht als Anstöße auf den Pfad des Sünders gewälzt sind, sondern dass Gott sie aufgerichtet hat zu kostbaren Grenzen in dem Erbteil der Heiligen.

Wir müssen hier schließen, wiewohl es noch viele Anstöße gibt, die wir aus dem Weg des Gläubigen hinweg gerückt zu sehen wünschen, und noch viele Grenzen in dem Erbteil des Volkes Gottes, die oft so wenig Beachtung finden. Möge der Leser alle diese Dinge im Licht Gottes betrachten!

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