Botschafter des Heils in Christo 1870

Balak, Bileam und Israel

Es ist sehr interessant, den besonderen Charakter dieser Prophezeiung ins Auge zu fassen. Jehova nimmt, ohne dass Israel es ahnt, Partei für sein Volk gegen den Feind. Nicht wie in anderen Prophezeiungen finden wir hier einen Ruf an das Gewissen des Volkes, und zwar begleitet von Verheißungen, welche den Glauben des Überrestes, inmitten seiner Widersacher aufrechterhalten sollen. Das Volk hatte, wie gesagt, keine Ahnung davon. Vielleicht murrte es um dieselbe Zeit in seinen Zelten gegen die Führungen Jehovas. Wider den Willen Balaks und Bileams erklärt Gott hier seine eigenen Gedanken und verwirrt dadurch die List des Feindes. Wie wohl nun freilich diese Prophezeiung in buchstäblichem Sinn das Volk Israel zum Gegenstand hat, so stellt sie doch auch uns im weiteren Sinne unser ganzes Teil vor Augen: unsere Absonderung, unsere Rechtfertigung und unsere Schönheit in den Augen Gottes, sowie im kommenden Sterne Jakobs die Krone der Herrlichkeit, ja Christus selbst in Herrlichkeit.

Israel hat sich in den Gefilden Moabs gelagert; nur der Jordan ist noch zwischen ihm und dem Land seiner Ruhe. Aber waren die Israeliten berechtigt hinein zu gehen? Wenn der Feind sie nicht durch Gewalt verhindern kann, wird er sie, was sie wohl verdient hatten, unter den Fluch zu bringen trachten. Balak lässt Bileam holen. Die große Frage in dieser feierlichen Szene ist: Kann es Satan gelingen, das Volk Gottes in einer Weise zu verfluchen, dass ihm der Eintritt in das verheißene Land zur Unmöglichkeit wird? Es handelt sich hier nicht um die Befreiung und um das Frohlocken über dieselbe beim Beginn ihrer Laufbahn, nein es handelt sich hier um die letzten Schritte auf dieser Bahn, nachdem, trotz ihrer Erkenntnis Jehovas, ihre Untreue offenbar geworden ist. Kann der Feind unter solchen Umständen den Eintritt verhindern? Keineswegs. Freilich musste Moses in derselben Ebene, entrüstet über das Verhalten des Volkes gegen Gott, die Worte ausrufen: „Ihr wärt ein verkehrtes und rebellisches Geschlecht, solange ich euch kannte“; und in der Tat waren die Kinder Israel, wie wir wissen, ein trotziges und halsstarriges Volk. Aber was sagt Gott durch den Mund des sich dagegen sträubenden, nach Schätzen lüsternen Bileam? Seine Worte sind: „Er schaut nichts Böses an Jakob, und sieht kein Unrecht an Israel!“ Welch ein Zeugnis! Welch eine wunderbare Gnade! Welch eine Vollkommenheit in den Handlungen Gottes! – Gott erschaut den wahren Zustand; Er täuscht sich nicht; Er redet die Wahrheit gemäß seiner vollkommenen, unendlichen Weisheit; Er vermag keine Ungerechtigkeit in seinem erlösten Volk zu sehen. Wie könnte Er die Ungerechtigkeit auch dulden in denen, die im Blut des Lammes gewaschen sind? Allerdings beobachtet und richtet Er alles im Verkehr und in seinen Wegen mit dem Volk; aber gegen den Kläger macht Er nur seine Gerechtigkeit geltend, während Er in Betreff der Seinen nach seinem Gnadenratschluss um auf das Lösegeld blickt, welches Er gab und dadurch die Sünde des Volkes tilgte. Daher ist der Mund des Klägers zu dem Bekenntnis gezwungen, dass keine Sünde mehr da sei, und der Feind keine Gewalt gegen Jakob habe. O wie tröstlich und segensreich ist es für uns zu sehen, wie Gott nach seinen Gedanken handelt und urteilt! Von Anfang bis zum Ende war Er in seinen Gedanken für uns beschäftigt, und vollendete das, was notwendig war, um alle seine vollkommenen Eigenschaften mit der ewigen Gerechtigkeit zu versöhnen. Der Glaube ergreift diese Gedanken und vertraut darauf; daraus entspringt Freude und Frieden. Während die Gegenwart Gottes alles richtet, was der göttlichen Heiligkeit nicht entspricht, handelt und urteilt Gott, allen Feinden zum Trotz, nach seinen eigenen Gedanken.

Bileam verriet einen bedauernswerten Charakter. Während er gezwungen gewesen war, aus der Ferne den Segen Gottes auf seinem Volk zu erblicken, eilte er hernach in dessen Nähe und war, geleitet von seinem eigenen Herzen und Willen, mit einem anderen Wege des Verderbens beschäftigt, den er, um, wenn möglich, die Kinder Israel ihres Segens zu berauben, zu gehen beschloss, indem er urteilte, dass der gerechte Gott ein sündhaftes Volk nicht segnen könne. Man kann sich nicht leicht eine größere Bosheit denken. Wir wollen nun einiges in Bezug auf seinen vorbildlichen Charakter erwähnen, indem wir der Geschichte folgen.

Balak sucht ihn auf. Bileam gibt vor, den Herrn fragen zu müssen, sei es aus unwillkürlicher Furcht, oder um in den Augen anderer zu scheinen, als ob es ihm von höchster Wichtigkeit sei, seine Handlungen unter dem Namen Jehovas ausüben zu können. Und in der Tat, der Herr tritt auf den Schauplatz und erscheint Bileam zuerst. Er übernimmt die Sache seines Volkes und hält die ungerechte Seele Bileams gegen dessen Willen in seiner Hand; denn Bileam erkennt nicht im Geringsten die Gesinnung Gottes. „Du sollst nicht gehen, – sie sind gesegnet!“ sagt Gott; und Bileam ruft den Boten Balaks zu: „Der Herr will nicht gestatten, dass ich mit euch ziehe.“ – Wie gern wäre er ihrem Wunsch nachgekommen! Ihn gelüstete nach den Schätzen Balaks; nur die Furcht vor Jehova hielt ihn zurück. Weit entfernt, sich der Segnungen des Volkes und der Fülle der Gnade zu erinnern, ahnte er nichts von dem, was das gnadenreiche, segenspendende Herz Jehovas mit Wonne erfüllt. Sobald sich die Versuchung wiederholt, sagt er mit erheuchelter Gottesfurcht, dass Er das Wort des Herrn, seines Gottes, nicht umgehen dürfe; aber Zugleich beredet er die Boten Balaks, noch ein wenig zu verziehen und zu hören, was Gott ferner sagen werde. Warum wollte er noch Näheres wissen in Betreff der Aufforderung, jenes Volk zu verfluchen, welches, wie Gott ihm gesagt hatte, gesegnet war? Er verriet nicht die geringste Übereinstimmung mit den Gedanken, die das Herz Gottes in Betreff des Volkes beschäftigten; nur die Furcht vor den Folgen seines Handelns hemmte seine Schritte. Wie hätte er sonst dem Gedanken, ein von Gott gesegnetes Volk zu verfluchen, auch nur einen einzigen Augenblick Raum geben können?

Nichtsdestoweniger bedient sich Gott seiner zu einem herrlichen Zeugnis für sein Volk, wiewohl er zu gleicher Zeit die verkehrten Wege des Propheten verurteilt. Und sicher waren seine Wege verkehrt; ja, seine Torheit, wie Gott ihm zeigte, war größer als die der Eselin, auf welcher er ritt. Dennoch lässt der Herr ihn weitergehen. Sein Begegnen auf dem Weg dient nur dazu, um Bileam durch Furcht zu zwingen, getreulich auszusprechen, was Er ihm in den Mund zu geben beschlossen hatte. Es ist klar, (Kap 24,1) dass Bileam Zauberei mit dem Bekenntnis des Namens des Herrn vermengt hatte, und dass er auf diesem Weg ein Werkzeug Satans geworden war, und zwar unter dem Deckmantel, als stehe er unter der Leitung des Namens des Herrn. Gott hemmt einmal alle Macht des Feindes, und hier beschränkte er dieselbe aus Liebe zu seinen! Volk und zwingt Bileam, das auszusprechen, was Er geredet haben will.

Endlich hat Bileam, gefolgt von seinen Begleitern, die Höhe des Berges erreicht. Er schaut von oben herab auf Israel; und seine Lippen öffnen sich zu einer bemerkenswerten Prophezeiung. Diese lässt sich in vier Teile zerlegen. Wie bereits gesagt, bezieht sie sich im engeren Sinne auf Israel, ist aber hinsichtlich ihres Prinzips auch auf die Kirche anwendbar. Der erste Teil handelt von der Trennung von der Welt. „Siehe, das Volk wird besonders wohnen, und nicht unter die Heiden gerechnet werden.“ Der zweite Teil erklärt, dass die Berufungen Gottes unbereubar sind. Gott hat die Kinder Israel gesegnet, wird Er dieses nicht auch bestätigen? Sie sind gerechtfertigt und ohne Tadel vor Gott. Er hatte sie aus Ägypten geführt. Das Volk hatte die „Freudigkeit des Einhorns“; und der ihm nachstellende Feind vermochte nichts wider dasselbe. – Da mm Bileam sieht, dass Gott nur zu segnen geneigt ist, unterwirft er sich seiner Macht, besucht nicht mehr die Versammlung der Zauberer; und der Geist Gottes kommt über ihn. Da die Rechtfertigung des Volkes jetzt offenbar ist, kann der Geist Gottes sich zu Bileam bekennen, anstatt sein Zeugnis nur auf die Gedanken Gottes zu beschränken. Bileam schaut Israel von oben; in dem Licht Gottes sieht Er das Volk auch nach dessen Gedanken; denn das Auge des Propheten ist geöffnet. Dieses ist der dritte Teil und es ist bemerkenswert, dass er das Volk weder im Besitz Kanaans, noch in seinen festen Wohnungen erblickt. Nein. Bileam richtet sein Antlitz stracks zu der Wüste, und sieht die Kinder Israel, wie sie nach ihren Stämmen liegen. Dort erblickt sie der Geist Gottes und schildert die Sicherheit und Ordnung des Volkes in den Augen Gottes. Sie waren mit dem Wasser des Lebens versehen, und standen wie Hütten, die der Herr gepflanzt. Deshalb werden sie berühmt unter den Nationen, und eine Quelle der Kraft und der Freude sein; sie trinken aus der Fülle Gottes und schöpfen noch für andere reichlich daraus. – Gott hatte sie aus Ägypten gebracht; sie waren sein Werk; deshalb musste seine Macht mit ihnen sein gegenüber ihren Feinden. Mit einem Wort, er erblickt ihre Schönheit und ihre Macht. Dann redet er schließlich – und das ist der vierte Teil – von dem Kommen des Herrn, des Sternes aus Jakob, der die Herrlichkeit des Volkes krönen wird; nur dass er für Israel zum Gericht erscheint, während die Kirche Ihn erwartet, um durch Ihn in seine Herrlichkeit aufgenommen und zur Hochzeit des Lammes geführt zu werden.

Kurz wir finden, wie bereits angedeutet, in dieser Prophezeiung: 1. die Trennung des Volkes von der Welt, 2. ihre Rechtfertigung, 3. ihre Schönheit und Ordnung, und endlich 4. die Ankunft Christi. Alles was hier von Israel gesagt ist, kann auf die Kirche angewandt werden.

Es ist von großer Wichtigkeit, zuweilen die Kirche von oben zu betrachten, die, obwohl noch in der Wüste, in dem Licht Gottes eine vollkommene Schönheit besitzt, und in den Augen Gottes eine unschätzbare Perle ist. Welch ein Murren und Klagen, welche Gleichgültigkeit, welch fleischliche Gedanken würde man inmitten des Lagers wahrgenommen haben! Doch von oben betrachtet, war alles schön für den, der mit dem Gesicht Gottes hienieden schaute. Der Apostel ruft den Galatern zu: „Ich bin um euch in Verlegenheit“, und kurz nachher: „Ich habe Vertrauen zu euch im Herrn.“ – Er sah mit Trauer auf den Wandel der damaligen Christen; und nur im Vertrauen auf die Treue Gottes fand er Trost.

Wir müssen den Schritten Jesu folgen, damit wir seine Gedanken der Gnade begreifen, wodurch Er die Schönheit der Kirche, durch alles hindurch im Auge behält. Sind unsere Augen nur mit den Schäden der Glieder der Kirche beschäftigt, so werden wir entweder ganz entmutigt, oder wir begnügen uns mit dem Übel. Im Licht Gottes werden diese beiden Zustände mit einem Mal beseitigt. Wir sind dann mit den Gedanken und Ratschlüssen Gottes in Übereinstimmung, und, anstatt uns im Blick auf die Mängel und Gebrechen um uns her entmutigen zu lassen, arbeiten wir im Vertrauen auf die Güte und Treue des Herrn mit freudigem Geist in unserem Beruf und sind eifrig zu allem guten Werk.

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