Botschafter des Heils in Christo 1870

"Hast du Frieden gefunden?"

„Hast du Frieden gefunden?“ Das ist eine Frage, die in unseren Tagen nicht selten an den einen oder den anderen gerichtet wird; und es mag auch nicht selten der Fall sein, dass Biete diese Frage nicht richtig auffassen und darum keine passende Antwort zu geben wissen. Sie betrachten den „Frieden“ als ein bestimmtes Gefühl von Ruhe in ihrem Gemüt; und da sie dieses Gefühl nicht in sich entdecken, so kommen sie zu dem Entscheid, dass sie noch keinen Frieden gefunden haben, dass sie überhaupt keine Christen seien und durchaus weder „Teil noch Zoos an dieser Sache“ haben. – Ferner sind andere der Meinung, dass sie, einmal im Besitz des Friedens, nie wieder die inneren Wirkungen des Bösen zu beklagen haben würden. Sie bilden sich ein, dass der wahre, im Evangelium angekündigte Frieden und die innewohnende Sünde zwei sich einander ausscheidende Dinge seien; und da sie sich leider schmerzlich bewusst sind, dass das Böse noch in ihnen wohnt, so schließen sie daraus, dass sie den Genuss des Friedens noch zu erwarten haben. Und diese falschen Vorstellungen über das, was der Friede ist, sind die Ursache von Beunruhigungen der mannigfaltigsten Art.

Zunächst muss mit allem Nachdruck und in der bestimmtesten Weise hervorgehoben werden, dass der Friede des Evangeliums nicht ein bloßes Gefühl von Gemütsruhe ist. Nein, dieser Friede hat einen weit solideren und festeren Grund. Er bezeichnet einen Zustand, in welchen der Gläubige durch das am Kreuz vollbrachte Versöhnungswerk Christi eingeführt worden ist. Dieses sagt uns deutlich die Schriftstelle: „Da wir nun sind gerechtfertigt worden aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus“ (Röm 5,1). Ist dieses ein bloßes Gefühl im Gemüt? Keineswegs. Es ist ein gesegneter Zustand, in den die Seele eingeführt ist durch den Tod und die Auferstehung Christi. Ohne Zweifel wird sich ein Herz glücklich fühlen in der Einfalt des Glaubens an jene große Wahrheit, dass alle Sünden vergeben sind, und dass die Seele so völlig gerechtfertigt ist, wie Christus es vermag – ja so gerechtfertigt, wie Christus selbst. Aber der Apostel sagt nicht: „Da wir sind gerechtfertigt worden aus Glauben, so haben wir das süße Gefühl des Friedens in unseren Gemütern.“ Dieses würde nicht der Fall sein. Unsere Gefühle sind schwankend und veränderlich wie die Winde. Der Friede aber, von dem jene Stelle spricht, ist so befestigt, wie der Thron Gottes selbst. Und was bedeuten die Warte: „Frieden verkündigend durch Jesus Christus?“ (Apg 10,36) Ist das die Verkündigung eines gewissen Gefühls im Gemüt? Gewiss nicht. Vielmehr ist es die glorreiche Friedensproklamation zwischen Gott und dem Menschen, gegründet auf das vollbrachte Werk Christi, welcher, nachdem Er Frieden gemacht durch das Blut seines Kreuzes, selbst unser Friede ist in der Gegenwart Gottes. Es würde daher ein sehr großer Irrtum sein, wenn man voraussetzen wollte, dass der in dieser Schriftstelle erwähnte „Friede“, nichts anders sei, als eine behagliche Gemütsruhe. Es ist hier nicht von einem Gefühl des Friedens die Rede, sondern von einem Frieden, zu dem Gott selbst den Grund gelegt hat. Das ist der große Unterschied. Wir dürfen unsere Gefühle über einen Gegenstand nicht mit dem Gegenstand selbst verwechseln, und ebenso wenig eine vollendete Tatsache mit der Wirkung, welche dieselbe, wenn erkannt, auf uns machen wird.

Wir wollen ein Beispiel zur Erläuterung wählen. Wenn nach einem längeren Kriege zwischen Frankreich und Deutschland der Friede proklamiert würde, wäre das ein bloßes Gefühl in dem Gemüt eines Deutschen oder eines Franzosen? Weit mehr. Es wäre ein bestimmter Zustand, in welchen diese beiden Nationen durch die Unterzeichnung eines Friedenstraktats eingeführt worden seien. Ohne Zweifel würde jeder, der diese Proklamation vernimmt und ihr Glauben schenkt, jenes behagliche Gefühl genießen, welches eine solche Friedens Ankündigung zu erzeugen vermag. Aber wer erkannte nicht den Unterschied zwischen solchen Gefühlen und der Tatsache, wodurch dieselben erzeugt werden?

Ein anderes Beispiel. Wenn für die Loskaufung eines Sklaven eine Summe Geldes verwandt und seine Befreiung bewirkt ist, ist dann diese Tatsache ein bloßes Gefühl in dem Gemüt des Sklaven? Weit mehr. Es ist ein bestimmter Zustand, in welchen der Sklave durch die Loskaufung eingeführt ist. Sicher wird er, wenn diese Kunde sein Ohr erreicht und er sie glaubt, das glückliche Gefühl der Freiheit genießen. Er wird nicht länger seine Ketten und die Peitschenhiebe seines grausamen Aufsehers fühlen; aber besteht nicht ein Unterschied zwischen einem Freiheitsgefühl und der Grundlage, auf welcher dieses Gefühl ruht?

Ich gebe allerdings zu, dass dieses nur menschliche und darum unvollkommene Erklärungen des göttlichen Gedankens sind, mit dem wir uns hier beschäftigen; allein nichts desto weniger stellen sie den Unterschied zwischen einem Gefühl und einem Zustand, zwischen einer Tatsache und deren Erfolgen klar ins Licht. In dem Evangelium sehe ich eine göttliche Wahrheit, die, in göttlicher Weise aufgenommen, göttliche Wirkungen erzeugt. Ein armer, verurteilter Rebell – ein Sklave – ein Feind – empfängt aus Gnaden Vergebung, Freiheit und Versöhnung von Gott durch das kostbare Opfer des Kreuzes. Wird ein solcher nicht glückliche Gefühle haben? Ohne Zweifel. Aber diese Gefühle dürfen nimmer als die gesegnete Wahrheit selbst, aus welcher jene Gefühle entspringen, betrachtet werden. Der Friede ist eine göttliche, unabhängige, unwiderrufliche Wirklichkeit, gegründet auf das Blut Christi, verkündigt mit der Autorität des Wortes Gottes, und empfangen aus Glauben durch die Kraft des Heiligen Geistes.

Würde ich nun bei der an mich gerichteten Frage: „Haft du Frieden?“ in mich hineinblicken und nach dem, was ich hier finde, meine Antwort bilden müssen? Keineswegs. Und was denn? Ich würde sagen: „Ja, Gott sei Dank! ich habe Frieden, und zwar einen so vollkommenen Frieden, wie Christus ihn machen, oder Gott ihn geben kann.“ Und nichts kann mir diesen meinen Frieden stören, insofern als Gott ihn mir verkündigt hat „durch Jesus Christus, den Herrn aller“ (Apg 10,36) Wenn eine solche Störung möglich wäre, so würde Christus nicht der „Herr aller“ sein; und der Gedanke, dass Er durch irgendetwas überwältigt werden könnte, würde eine Gotteslästerung sein. Meine Gefühle können leicht gestört, nimmer aber kann der von Gott gelegte Grund erschüttert werden.

Wie töricht nun, wenn jemand, indem er nicht diese inneren Gefühle der Ruhe bei sich entdeckt, daraus sogleich den Schluss zieht, dass er kein Christ sei! Weder die Schrift noch die christlichen Erfahrungen liefern für eine solche Vorstellung einen Grund. Sicher sind solche Zweifel nicht zu rechtfertigen; sie zeigen, wie wenig das Herz befestigt ist, und sie entehren ebenso sehr den Herrn, wie sie die Ruhe des Gemüts stören. Sie entspringen in den meisten Fällen aus der falschen Vorstellung, die ich über die Natur des Friedens habe, sowie daraus, dass ich mich beschaue, anstatt meinen Blick auf Christus zu richten, und dass ich untersuche, wie ich zu Gott stehe, anstatt zu betrachten, wie Gott zu mir steht. Aber was auch die Quelle dieser Zweifel sein mag, wir sollen sie verurteilen und verwerfen, wie jeden anderen bösen Gedanken, der in unserem Herzen auftaucht.

Aber wenn es überhaupt verwerflich ist, an dem Wort, welches Gott gesprochen, zu zweifeln und einer Furcht Raum zu geben, während Christus Frieden gemacht hat, so ist es noch weit verwerflicher, unser persönliches Teil in Christus in Frage zu stellen, weil wir uns nicht so glücklich fühlen, wie wir sein möchten oder auch sein sollten. Dadurch öffnen wir für Satan Tür und Tor. Werde ich an meinem natürlichen Dasein zweifeln, weil ich an Kopfweh leide? Gewiss nicht. Und warum zweifle ich denn an meinem geistlichen Dasein, an meinem Leben in Christus, weil mein Herz nicht so glücklich ist, wie ich es zu sehen wünsche? Warum gehen so viele Christen, erfüllt mit Furcht und Zweifel, durchs Leben? Sie müssen lernen von sich abzusehen und ihre Blicke auf Christus zu richten. Wir können allerdings nicht tief genug unseren verlorenen Zustand erkennen; und je mehr dies der Fall ist, desto höher schätzen wir das Werk Christi. Und wir können in Betreff unseres Wandels nicht wachsam genug sein und nicht tief genug fühlen, wenn wir uns vergessen haben; aber je mehr wir unsere Schwachheit sehen, desto näher drängen wir uns an die gesegnete Person unseres Herrn, dessen Händen uns niemand zu entreißen vermag.

Zum Schluss noch ein Wort für die, welche den Genuss eines festen Friedens mit dem Gefühl der in uns wohnenden Sünde unverträglich finden. Sicher ist eine solche Meinung ein großer Irrtum und muss Dunkelheit und Trübsinn in der Seele erzeugen. Der noch soweit geförderte Christ kennt die in ihm wohnende Sünde. „In mir, das ist in meinem Fleisch, wohnt nichts Gutes“, sagt Paulus. Und wiederum: „Wenn wir sagen, dass wir nicht Sünde haben, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“ (1. Joh 1,8). Gott kennt das Schlechteste in uns; aber dennoch liebt Er uns und hat Vorsorge getroffen, dass das Böse in uns nicht im geringsten Gerade unseren Frieden stört. Wenn dem Bösen in uns gestattet wird zu wirken und sich zu zeigen, dann wird es allerdings sicher den Genuss unseres Friedens unterbrechen, so dass wir genötigt sein werden, vor Gott im Bekenntnis und Selbstgericht zu erscheinen. Der Heilige Geist, welcher in uns wohnt, kann nicht einen einzigen Gedanken des erlaubten Bösen gutheißen. Alles muss gerichtet werden. Aber der Kampf wird fortdauern. „Das Fleisch gelüstet wider den Geist, und der Geist wider das Fleisch“ (Gal 5,17). dieser Streit wird nie im Gläubigen aufhören, bis der Leib der Verwesung ins Grab sinkt. Wenn daher die innewohnende Sünde unseren Frieden zu stören vermöchte, so würde kein Glied der Familie Gottes während eines einzigen Augenblicks im Genüsse des Friedens sein. Doch Gott sei Dank, dass es nicht so ist! Unser Friede ruht nicht auf einem sündlosen Fleisch, sondern auf einem vollkommenen Opfer, sowie er auch nicht ruht auf unseren schwachen und schwankenden Gefühlen, sondern allein auf dem vollbrachten Werk Christi, auf dem unwandelbaren Worte Gottes und auf dem untrüglichen Zeugnis des Heiligen Geistes. O mochten mir dies nie vergessen!

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