Botschafter des Heils in Christo 1870

Demut

1. Vor Gott demütig, oder vor Gott gedemütigt zu sein, sind zwei verschiedene Dinge. Ich bin gedemütigt vor Gott, weil ich nicht demütig gewesen bin. Ich bin gedemütigt wegen meiner Sünde. Wenn ich demütig gewesen wäre, ich hätte durch die Gnade Kraft gehabt, die Ausbrüche der Sünde zu verhindern. Denn „Gott widersteht dem Hoffärtigen, dem Demütigen aber gibt Er Gnade.“

2. Der einzige Platz der Demut ist die Gegenwart Gottes. Verlasse ich diesen Platz, dann bin ich in Gefahr, mich zu erheben. Manche meinen, es sei gefährlich, zu oft auf der Höhe dieser glücklichen Gemeinschaft mit Gott zu sein. Aber ich bin gewiss, dass, wenn wir uns auf dieser Höhe befinden, wir nicht in Gefahr sind, sondern erst dann, wenn wir wieder herabsteigen. Denn wenn wir die Höhe verlassen, denken wir so gern daran, dass wir droben gewesen sind, und das ist gefährlich. Hier zeigt der Hochmut seinen Keim. Sicher bedurfte Paulus nicht eines Dorns im Fleisch, solange er im dritten Himmel war. Erst als er herniedergestiegen war, begann für ihn die Gefahr, sich über das Maß zu erheben bei dem Gedanken, dass er an einem Platz gewesen war, den außer ihm noch niemand gesehen hatte.

3. Nach meinem Dafürhalten ist es sicher keine wahre Demut, wenn wir schlecht über uns denken. Denn die wahre Demut besteht nicht darin, dass wir so und so von uns denken, sondern darin, dass wir gar nicht an uns denken; und dieses zu erreichen, ist in der Tat keine leichte Aufgabe. Bei uns heißt es meistens immer: Ich, ich, ich. Und es bedarf großer Gnade, um dieses Ich aus dem Bereich unserer Gedanken auszustreichen.

4. Welch unergründliche Herzen haben wir! „Ich, der Herr, prüfe das Herz!“ Wer außer Gott kann sie erkennen. Alle die, welche vorgeben, dass sie ihre Herzen untersuchen, und dabei ruhig ihre bösen Wege fortsetzen, kennen sicher nicht das Verborgene ihrer Herzen, noch sind sie wahrhaft demütig. Die Folge ist, dass sie immer die Neigung zeigen, von sich selber zu sprechen; und ihr Hochmut findet gerade darin seine Nahrung, dass sie immer davon reden, wie schlecht sie sind.

Möge der Herr uns Licht geben über uns selbst, damit wir nicht das als Demut betrachten, was in Wahrheit nur Hochmut und Verblendung ist!

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