Botschafter des Heils in Christo 1878

Die Vollkommenheit - Teil 3/4

6. Nachdem wir somit in der Kürze dieses Briefes über die christliche Vollkommenheit durcheilt sind – und ich hoffe, dass diese Zeilen dem Leser eine einfache Anleitung zur weiteren Betrachtung derselben an die Hand geben werden – wünsche ich, im zweiten Teil dieser kleinen Schrift die Aufmerksamkeit auf andere Stellen des Wortes Gottes zu lenken, die diesen so überaus wichtigen Gegenstand behandeln. Ich werde dabei hauptsächlich zwei Dinge ins Auge fassen: unsere Stellung vor Gott in Christus und Christus in uns – unseren praktischen Zustand. Diese zwei Dinge gehen in der Schrift stets zusammen; sind wir in Christus, so ist Christus in uns. Jedoch sind dieselben nie vermengt, sondern sorgfältig voneinander unterschieden. Beschäftigen wir uns zuerst mit dem, was der Brief an die Römer über diesen Gegenstand sagt.

In erster Linie heißt es in Bezug auf die Stellung: „Alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes“ (Kap 3,23). Dies bezieht sich sowohl auf die Heiden ohne Gesetz, als auch auf die Juden unter demselben. Somit kann also, weil alle gesündigt haben, niemand auf dem Boden des Gesetzes vor Gott bestehen. Der Mensch ist schuldig, und in Folge dessen können ihn Gesetzeswerke nicht rechtfertigen.

„Jetzt aber ist ohne Gesetz Gottes Gerechtigkeit offenbart worden.“ Die Gerechtigkeit Gottes kann nur vollkommen sein wie alles, was von Ihm ist. Wie ist nun diese Gerechtigkeit in Bezug auf den Menschen offenbart worden, da er doch schuldig und unter Gericht ist? Die Antwort ist sehr einfach: In der Versöhnung durch das Blut Jesu, der das Gesetz und die Propheten Zeugnis geben. Dieser köstliche Erlöser ist somit wiederum vor uns gestellt. Betrachten wir das Kreuz unseres anbetungswürdigen Herrn. Was sehen wir dort? Eine unendliche Person, ein Opfer von unendlichem Wert. Dieses ist es, was die vollkommene Gerechtigkeit Gottes erweist, wenn Er die Sünden der alttestamentlichen Heiligen unter seiner Nachsicht hingehen ließ, und was auch jetzt seine vollkommene Gerechtigkeit zeigt, wenn Er den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesus ist (Röm 3,25–26). Ja, auf diesem Grund ist Gott gerecht gewesen, als Er David und Abraham Gerechtigkeit zurechnete. Sie glaubten Gott, und es wurde ihnen zur Gerechtigkeit gerechnet (Kap 4,4.6). „Es ist aber nicht allein seinetwegen geschrieben, dass es ihm zugerechnet worden, sondern auch unsertwegen, denen es zugerechnet werden soll, die wir an den glauben, der Jesus, unseren Herrn, aus den Toten auferweckt hat, welcher unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist“ (V 24–25). Hier haben wir die beiden Tatsachen, von deren Wert unsere Stellung vor Gott in Betreff unserer Sünden abhängt. „Er ist unserer Übertretungen wegen dahingegeben.“ War dies ein vollkommenes oder ein unvollkommenes Opfer? Lasst es uns wohl beachten, es ist nicht ein durch uns, sondern für uns vollbrachtes Werk – ein vollkommenes Werk, vollbracht durch den, der vollkommen ist, durch den Sohn Gottes – ein Werk, das so vollkommen sein muss, wie Gott selbst. Gott hat es als solches anerkannt und erklärt; denn Er hat Christus aus den Toten auferweckt. Er ist „unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden.“ Ist dies nicht etwas vollkommenes? Wir sind für immer von unseren Sünden freigesprochen, die Ihm zugerechnet und auf Ihn gelegt wurden. Jetzt sehen wir diesen verherrlichten Menschen zur Rechten Gottes sitzen. Könnte Er in einer vollkommeneren Stellung sein? Gewiss nicht! Nun ist Er aber unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden, für uns, die wir an den Gott glauben, der Ihn aus den Toten auferweckt hat. Gott sagt es, und ich glaube es. Wir werden hienieden als das betrachtet, was Jesus droben ist.

„Da wir nun sind gerechtfertigt worden aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus.“ Ist dieser Friede vollkommen oder nicht? Alles ist von Gott und kann nicht unvollkommen sein. Er hat seinen Sohn unserer Übertretungen wegen dahingegeben, Er hat Ihn unserer Rechtfertigung wegen auferweckt; somit ist der Friede, der Ihm zugehört – Ihm, der einmal unsere Sünden als unser heiliger Stellvertreter getragen hat – ja, dieser Friede ist und muss der unsrige sein. Kann sein Friede vollkommener sein? Nein; ebenso wenig kann es der unsrige sein.

Ich kann von Gott nicht begehren, gerechtfertigt zu werden, ich bin es. Ebenso wenig kann ich um Frieden mit Gott bitten; ich habe ihn. Ich kann darum bitten, dass der Friede Gottes mein Herz bewahre; aber wenn ich um den Frieden mit Gott bitte oder wenn ich flehe, dass dieser Friede vollkommen sein möchte, so ziehe ich dadurch das Zeugnis Gottes, welches erklärt, dass der Friede gemacht ist, in Zweifel.

Der Wert des köstlichen Blutes Jesu ist so groß, dass zwischen den Gläubigen und Gott keine Schuld mehr vorhanden ist. Ohne dieses Werk Christi könnten wir in der Gegenwart Gottes nicht bestehen; eine ewige Verdammnis würde unser Los sein. Jetzt aber haben wir einen vollkommenen Frieden mit Gott, selbst bei der vollständigsten Offenbarung dessen, was Er ist.

Der Apostel besteht in dem vorliegenden Brief auf diesem Punkt und stellt ihn auf die entschiedenste Weise fest, bevor er mit einem einzigen Wort von der praktischen Heiligkeit spricht. Welch einen vollkommenen Zugang finden wir auch – nicht durch menschliche Vermittler, noch durch Gefühle, sondern durch den Glauben – zu dieser Gunst oder Gnade, in welcher wir stehen, und rühmen uns in Hoffnung der Herrlichkeit Gottes (V 2).

Wenn wir diese köstliche Wahrheit kennen, wenn wir sie aus Gnaden empfangen haben, so rühmen wir uns selbst der Trübsal und sind versiegelt mit dem Heiligen Geist. „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist“ (V 3–5). Stehst du, lieber Leser, gleich einem Juden von damals, noch ferne und bittest Gott um den Besitz dieser Dinge? Oder bist du nahegebracht und kannst für diese Segnungen, die alle von Gott sind, danken?

Die Vollkommenheit in Christus ist hier in einer solchen Fülle gezeigt, dass die Worte fehlen, sie auszudrücken. Verschiedene Male wiederholt der Apostel von dem neunten Vers bis zu Ende des Kapitels das Wörtchen: „vielmehr.“ Lesen wir die Verse 9 und 10. Welch eine vollkommene Liebe von Seiten Gottes tritt uns darin entgegen! „Vielmehr nun, da wir jetzt durch sein Blut gerechtfertigt sind, werden wir durch Ihn errettet werden vom Zorn. Denn wenn wir, da wir Feinde waren, Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, vielmehr werden wir, da wir versöhnt sind, durch sein Leben errettet werden.“

Ist das nicht eine vollkommene Liebe? Wäre sie nicht vollkommen gewesen und hätte das Opfer Christi uns nicht von allen unseren Sünden erlöst, wäre noch die Möglichkeit vorhanden, dass wir verloren gehen könnten – wie traurig würde unser Los sein! Aber hier gibt es keine solche Unvollkommenheit. Glaubst du an diese vollkommene Liebe Gottes? Wenn du es tust, so wirst du zu einer völligen Freude in Gott geführt werden. „Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch Gottes durch unseren Herrn Jesus Christus, durch welchen wir nun die Versöhnung empfangen haben.“ So schließt der erste Teil unseres Briefes. Wir sind vollkommen gerechtfertigt von unseren Sünden; wir haben vollkommenen Frieden mit Gott und einen freien Zugang zur Gnade; wir sind versiegelt mit dem Heiligen Geist; die vollkommene Liebe Gottes ist uns nicht nur offenbart, sondern sie ist ausgegossen in unsere Herzen; wir sind völlig sicher, dass derjenige, der uns errettet hat, uns bis ans Ende erretten wird, und somit freuen wir uns in Gott.

Lasst uns wohl beachten, dass in diesem allen nicht von einem Fortschreiten gesprochen wird; es ist die gesegnete Stellung, die das Teil eines jeden Christen ist. In Bezug auf die Sünden ist alles vollkommen geordnet.

Doch lasst uns jetzt ein Wort über die Sünde reden.

Vielleicht wird der eine oder andere meiner Leser fragen: „Gibt es denn überhaupt einen Unterschied zwischen der Sünde und den Sünden?“ Gewiss; es ist ein großer Unterschied zwischen den Sünden, die wir begehen, und der sündhaften, gefallenen Natur, dem fleischlichen Sinn, der die Quelle und der Anlass zu den Sünden ist. Es ist die Sünde – nicht die Sünden – die durch einen Menschen, Adam, in die Welt gekommen ist, und „ist also der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, indem sie alle gesündigt haben.“ Lesen wir das 5. Kapitel der Brief an die Römer von Vers 12–21, und wir werden finden, dass, so viel Schlechtes auch durch den ersten Adam in die Welt gekommen ist, doch noch viel mehr Gutes durch Christus, den zweiten Menschen, für alle, die in Ihm sind, hervorgebracht worden ist. Durch Adam sind die Sünde und der Tod gekommen, durch Christus das ewige Leben und eine auf immerdar bestehende Gerechtigkeit geworden. Möchten unsere Augen stets auf Christus ruhen, aber auf Ihm, als auferweckt aus den Toten! Er, der Ewige, ist für uns durch den Tod gegangen, um der Anfang einer neuen Schöpfung Gottes zu sein. Somit sind wir gerechtfertigt und haben das ewige Leben, und dieses uns mitgeteilte Leben ist jenseits und außer dem Bereich des Todes, in einer Gerechtigkeit, die für immer besteht, einer vollkommenen Gerechtigkeit. Wir begegnen hier also aufs Neue einer göttlichen Vollkommenheit. Kann es ein vollkommeneres oder höheres christliches Leben geben, als dieses Auferstehungsleben? Das ewige Leben in der Auferstehung ist das Teil eines jeden wahren Christen, eines jeden, der „aus dem Tod in das Leben hinübergegangen ist.“ Richten wir unser Auge auf den Heiligen und Hocherhobenen, auf Christus, der auferstanden ist und zur Rechten Gottes sitzt. Das Leben, das Er besitzt, ist das unsrige. Könnte ein höheres Leben gefunden werden? Er ist aus den Toten auferweckt worden, um unsere Gerechtigkeit zu sein; Er ist es für alle, die da glauben; Er ist es für immer, und diese Gerechtigkeit bleibt unveränderlich dieselbe. Kann es eine vollkommenere Gerechtigkeit geben? Könnte ein herrlicheres Kleid zu unserer Bedeckung gefunden werden? Gibt es etwas was das Vortrefflichste noch übertreffen könnte?

Vielleicht möchte mancher meiner Leser durch die Behauptung, dass ein einziges Opfer, weil es vollkommen ist, unsere Sünden völlig getilgt hat, und dass wir für immer gerecht in Christus sind, zu der besorgten Frage veranlasst werden: „Ist bei einem solchen Gedanken keine Gefahr vorhanden, dass wir in Sorglosigkeit in Betreff der Sünde fallen? Könnten wir nicht dahin gebracht werden, zusagen“: „Lasst uns in der Sünde beharren?“

Man lese mit Aufmerksamkeit das 6. Kapitel, und die Schwierigkeit wird verschwinden. Dieses Kapitel zeigt uns, wie töricht es wäre, zu denken, dass die Gnade uns erlaube, in der Sünde zu verharren. Gott bewahre uns vor einem solchen Gedanken! „Wisst ihr nicht, dass wir, so viele auf Christus Jesus getauft worden, auf seinen Tod getauft worden sind?“ (V 3) Mit Christus der Sünde gestorben zu sein, ist die wahre Stellung aller Christen, und dies wird durch das Begraben in der Taufe versinnbildlicht. Werden gestorbene Personen in der Sünde verharren? Das aber ist der Platz, der uns zu Teil geworden ist; gestorben mit Christus, auferweckt mit Christus. 1 In dem Tod hat das Alte sein Ende gefunden; in dem auf erstandenen Christus ist alles neu geworden. Alle Christen sollten wissen, „dass unser alter Mensch mitgekreuzigt ist, auf dass der Leib der Sünde abgetan sei, damit wir der Sünde nicht mehr dienen“ (V 6). Oder sind es nicht alle Christen, welche sagen können: „Unser alter Mensch ist mitgekreuzigt?“ Wer aber hat den alten Menschen gekreuzigt, und wie ist dies geschehen? Sicherlich geschieht es nicht durch einen Akt des Glaubens, sondern es ist Gott, der so meine Sünde, meinen alten, fleischlichen Menschen, in der Person des göttlichen Stellvertreters gerichtet hat. „Er wurde für uns zur Sünde gemacht.“ Wenn wir aber an Ihn glauben, so macht uns dieser Glaube mit Ihm eins. Das Gericht Gottes ist nicht nur über unsere Sünden, sondern auch über uns selbst ergangen; und hiervon ist die Taufe das Sinnbild.

Hüten wir uns daher, das Kreuz bei Seite zu setzen, indem wir aus allem einen persönlichen Akt machen. Auf dem Kreuz sehen wir das gerechte Gericht Gottes über unser stolzes und sündhaftes Ich. Dort bin ich mit Christus gekreuzigt, und dadurch, dass wir diese Kreuzigung als unser gerechtes Gericht anerkennen, rechtfertigen wir Gott. Und wenn mir diese Stellung: „gestorben der Sünde“, in welche alle Christen versetzt sind, eingenommen haben, so haben wir in diesem Sinn „das Fleisch mit seinen Leidenschaften und Lüsten gekreuzigt“ (Gal 5,24). Wie könnten wir noch darin wandeln? Fern sei uns ein solcher Gedanke!

Ich bitte einen jeden Leser dringend, das vorliegende, köstliche Kapitel mit aller Aufmerksamkeit zu lesen. Das Verständnis seines Inhalts ist für einen heiligen Wandel von der höchsten Wichtigkeit. Jeder Vers, ja jeder Ausdruck ist wohl zu beherzigen. Ist darin von unserem wirklichen Zustand die Rede? Augenscheinlich nicht, denn dann würde es nicht nötig sein, uns zu ermahnen; „So haltet euch der Sünde für tot, Gott aber lebend in Christus Jesus.“ Wenn wir den Herrn sehen und Ihm in der Herrlichkeit gleich sein werden, in einer menschlichen Natur ohne Sünde, alsdann werden wir uns nicht der Sünde für tot zu halten haben, wir werden es wirklich sein.

Die Annahme, dass der Gläubige in sich selbst rein und in einem sündlosen Zustand sei, ist falsch. Denn gleich nach den oben angeführten Worten lesen wir; „Die Sünde herrsche nicht in eurem sterblichen Leib ..“ (V 12–14). Wenn der Gläubige in sich selbst rein und ohne Sünde wäre, so hätten diese Ermahnungen durchaus keinen Sinn. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, wenn in unseren Tagen gelehrt wird, dass unsere alte fleischliche Natur durch irgendein Mittel von der Sünde gereinigt werden könnte; „Was vom Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was vom Geist geboren ist, ist Geist“ (Joh 3,6). Die Lehre von den beiden Naturen ist von der größten Wichtigkeit. Die alte Natur ist nie verändert oder verbessert worden; sie wurde vielmehr vor Gott auf dem Kreuz gerichtet und in dem Grab Christi begraben. Und somit ist unsere Stellung ganz und gar die eines Auferweckten in Christus.

Vielleicht möchte das soeben Gesagte bei manchem die Vermutung erwecken, dass ich den verzweiflungsvollen. Kampf in der zweiten Hälfte von Römer 7 für die wahre christliche Erfahrung hielte. Ich bin weit davon entfernt, aber ebenso wenig glaube ich, dass es die Erfahrung einer nicht wiedergeborenen Seele ist; denn das würde heißen, dass ein nicht wiedergeborener Mensch Gefallen am Gesetz Jehovas haben könne.

Dieser Abschnitt beschreibt uns den hoffnungslosen Kampf einer lebendig gemachten Seele, die sich unter dem Gesetz befindet und in diesem Zustand die Verantwortlichkeit fühlt, das Gesetz zu beobachten; auch wünscht sie es mit ganzem Ernst, hat aber nicht die Kraft dazu. Die Tatsache, dass diese Frage in einem so vorgerückten Teil der Brief behandelt ist, hat mich oft sehr verwundert. Aber man sieht daraus, dass jemand die Vergebung und die Rechtfertigung kennen kann, bevor er diese feierlichen Unterweisungen gelernt hat.

Man könnte nun fragen; „Wenn dies nicht die christliche Erfahrung ist, woher kommt es denn, dass so viele Christen sich in diesem Zustand befinden?“ Die einfache Antwort ist; Sie sind unter Gesetz, als wenn sie noch im Fleisch wären, und hoffen vergeblich, fähig zu sein, das Gesetz zu beobachten. Ist diese Erfahrung eine wirkliche und tiefe, so ist sie für die Seele sehr heilsam, wenn die Befreiung eintritt. Wir müssen unser gänzliches Unvermögen kennen lernen.

Das 7. Kapitel enthält die Rechte und Forderungen des Gesetzes an jemanden, der gänzlich unfähig ist, demselben Genüge zu leisten. Was ich hasse, übe ich aus; es gibt in mir elendem Menschen weder Kraft, noch Hilfe. Wenn ich aber verstehe, dass ich durch den Leib des Christus dem Gesetz getötet und also von ihm befreit bin (V 4), wenn ich erkenne, dass ich losgemacht bin von dem, in welchem ich festgehalten wurde, alsdann finde ich die Befreiung und ich „danke Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn.“

Wenn ich nun auf diesem Weg zur vollkommenen Befreiung in Christus gelangt bin, ist dann das Fleisch (ich will sagen das alte „Ich“, meine alte Natur) besser, als es vorher war? Nicht im Geringsten, denn gleich nach jenem Ausruf des Dankes, mit dem die Befreiung begrüßt wird, lesen wir; „Also nun diene ich selbst mit dem Sinn Gottes Gesetz, mit dem Fleisch aber der Sünde Gesetz.“

Warum ist dies nach der Befreiung gesagt? Damit wir nicht dem Gedanken Raum geben, dass es irgendeine innere Reinigung der alten Natur gebe. Ich habe sie als gestorben zu betrachten und stets in der Furcht des Herrn HU wandeln; denn wenn das Fleisch tätig ist, selbst in einem wirklich befreiten Heiligen, so ist es Sünde, und wenn es nicht wirkt, so ist es doch vorhanden und ist immer das Fleisch. Aber ach! Wir straucheln alle, obwohl wir es nicht sollten, und wenn wir, die wir befreit sind, „sagen, dass wir keine Sünde haben, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“ (1. Joh 1,8).

Es würde jedoch ganz verkehrt sein, hieraus den Schluss zu ziehen, dass es dann auch irgendwelche Verdammnis für uns geben müsse. Der erste Vers des 8. Kapitels belehrt uns, dass „für die, welche in Christus Jesus sind, keine Verdammnis ist.“ Er zeigt die Stellung eines jeden wahren Christen. Kann es eine vollkommenere geben?

„Wie kann dies sein“, fragst du vielleicht, „wenn die alte Natur, die immer in uns ist, Sünde ist?“

Sie ist und bleibt es, das ist wahr. Denn wenn es nicht so wäre, wie konnte sie sich gelüsten lassen? Sie muss Sünde sein, weil von dem Augenblick an, wo sie zu wirken beginnt, Sünden da sind.

„Aber wie kann es dann trotzdem keine Verdammnis geben?“

Unter dem Gesetz wäre dies freilich unmöglich gewesen. „Denn das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem Er, seinen eigenen Sohn in Gleichheit des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die Sünde im Fleisch verurteilte“ (V 3). Hieraus ersehe ich deutlich, dass es für die, welche in Christus Jesus sind, keine Verdammnis gibt, denn über alles wurde das Gericht auf dem Kreuz vollzogen; sowohl über die Sünde, als auch über die Sünden. Wenn aber alles in Ihm gerichtet worden ist, so gibt es jetzt nichts mehr zu richten, das nicht schon gerichtet wäre. Welch eine Befreiung für die Seele! Die Stellung des Menschen in Christus ist absolut vollkommen; es gibt nichts zu richten.

„Wie? Selbst nicht meine Sünden?“

Nein; sie sind völlig gerichtet in der Person meines heiligen Stellvertreters, des Sohnes Gottes.

„Und bringt auch die Sünde im Fleisch nicht die Verdammnis aus mich?“

Nein, auch sie ist gerichtet. Gestorben mit Christus, auferweckt mit Christus, keine Verdammnis in Christus, das ist die christliche Vollkommenheit.

Betrachten wir jetzt den Zustand des Gläubigen.

Was hat ihn zu einem heiligen Leben oder Wandel befähigt? Welche Kraft wurde ihm dazu verliehen? Die Antwort ist; „Das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat mich freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.“

Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass wir nicht in Christus sein können, ohne dass Christus in uns ist. Im Fleisch haben wir keine Kraft, wohl aber in Christus; es ist Christus in uns, der alle Kraft darreicht. Doch beachten wir es wohl, es ist nicht gesagt, dass ich von der Sünde befreit bin, sondern von dem Gesetz der Sünde und des Todes. Das Gesetz der Sünde hielt mich gefangen, ich war ohne Kraft; aber das Gesetz des Geistes des Lebens teilt mir eine unendliche Kraft mit. Es ist das Gesetz dieses Geistes selbst, das den Sieg gibt.

Lesen wir die Verse 8–14; ist ihr Inhalt nicht von der größten Wichtigkeit? Die Tatsache, dass der Heilige Geist in uns wohnt, gibt uns nicht nur eine gegenwärtige Kraft, um in der Heiligkeit zu wandeln, sondern sie sichert uns auch, obgleich der Leib der Sünde wegen noch unter dem Urteil des Todes ist, die Auferstehung unseres Leibes. Dies ist aber nicht nur wahr für etliche Kinder Gottes, sondern für alle. „Wenn aber jemand den Geist Christi nicht hat, der ist nicht sein.“

„Wenn ich aber meine alte, sündige Natur noch habe, kann dann der Geist Christi in mir wohnen? Ich dachte, der Heilige Geist könnte erst dann seine Wohnung in mir machen, wenn ich unbedingt rein von Sünde sei.“

Wenn dem also wäre, könnte dann der Heilige Geist in irgendjemandem aus der Erde wohnen, außer dem Heiligen Sohn Gottes, der allein ohne Sünde war? Aber es steht geschrieben; „Das Fleisch gelüstet wider den Geist und den Geist wider das Fleisch; beide aber sind einander entgegengesetzt, auf dass ihr nicht das tut, was ihr wollt“ (Gal 5,17). Man kann diese Worte nicht auf Christus anwenden, wohl aber auf die Gläubigen. Diese einander entgegengesetzten Dinge finden sich in ein und derselben Person, in jedem Kind Gottes auf der Erde, so dass wir, hinsichtlich unseres Zustandes, Christus in seiner fleckenlosen Reinheit nicht gleichen. Wir werden Ihm gleich sein, wenn wir Ihn sehen werden; glückselige Hoffnung! „Jeglicher, der diese Hoffnung zu Ihm hat, reinigt sich selbst, gleich wie Er rein ist“ (1. Joh 3,3). Es wird nicht gesagt: „ist rein, wie Er rein ist, sondern: reinigt sich.“ Die ganze Heilige Schrift ist überall mit sich selbst in Übereinstimmung; Irrtum ist völlig von ihr ausgeschlossen. An keiner Stelle gibt sie Anlass zu dem Gedanken, dass einige Gläubige einen Zustand erreichen können, in welchem sie so rein sind, wie Christus selbst.

„Es wird mir schwer, zu verstehen, wie der Heilige Geist bei einer sündigen Natur wohnen kann. Ich dachte, dass diese Natur plötzlich oder stufenweise in eine heilige Natur umgewandelt werden müsse, bevor der Heilige Geist darin Wohnung machen könne.“

So denken viele. Auch hört man es wohl in dieser Weise ausdrücken: Wir müssen von uns selbst leer sein und alsdann wird der Heilige Geist diese Leere ausfüllen. Aber wo findet man etwas der Art in der Schrift?

Wenden wir uns noch einmal zu Hebräer 10,14–15 zurück. An jener Stelle bezeugt der Heilige Geist nicht, dass unsere alte Natur gereinigt ist, wohl aber bezeugt Er den unendlichen Wert des Blutes Christi.

Wir finden in Bezug auf die vorliegende Frage ein sehr treffendes Vorbild in der Reinigung des Aussätzigen in 3. Mose 14,12–17. Das Blut ward auf ihn gesprengt und das Öl auf das Blut. Ebenso sind wir durch den Glauben an Christus mit seinem Blut besprengt, die Sünde und die Sünden sind in Ihm gerichtet, und aus diesem Grund sieht Gott sie nicht mehr. Er sieht das Blut, und der Geist Gottes, von dem das Öl im Alten Testament ein Vorbild ist, kann alsdann in uns wohnen; Er wohnt persönlich in uns und wird in uns bleiben bis ans Ende. Dies ist eine höchst wichtige und köstliche Wahrheit. Wenn es möglich wäre, dass wir zu gewissen Zeiten den Geist Christi nicht hätten, so wären wir nicht sein.

Viele mögen fürchten, dass diese Lehre zu einer großen Nachlässigkeit und zu einem Mangel an Heiligkeit führt; und doch ist gerade das Gegenteil der Fall. Die ununterbrochene Innewohnung des Heiligen Geistes ist das einzige Mittel und die wahre Kraft zu einem heiligen Wandel. Der Apostel bedient sich gerade dieser Wahrheit, um die Heiligen in Korinth, die in Gefahr waren, in eine schreckliche Sünde zu fallen, zu warnen. „Wisst ihr nicht“, sagt er ihnen, „dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist, und den ihr von Gott habt?“ (1. Kor 6,19) Dies lässt uns ohne Entschuldigung. Niemals sind wir gezwungen, uns von der Sünde überwinden zu lassen; denn wir verfügen über eine unendliche Kraft, über den Heiligen Geist, der ewig in uns wohnt; „Wandelt in dem Geist, und ihr werdet die Lust des Fleisches gar nicht vollbringen“ (Gal 5,16). Alle unsere Wünsche, Vorsätze und Anstrengungen sind eitel; wenn wir uns auf diesen Boden stellen und auf Fleisch vertrauen, so wird früher oder später die Sünde die Oberhand gewinnen. Christus allein gebührt der ganze Ruhm unserer Befreiung. Niemals werden wir siegen, bevor wir anerkannt haben, dass in uns keine Kraft zum Kampf ist. Verlieren wir diese beiden Tatsachen nicht aus dem Auge; alle unsere Sünden und die Sünde wurde auf dem Kreuz gerichtet; Gott kennt den Wert des Blutes, das dort vergossen wurde. Und um dieses Blutes willen wohnt der Heilige Geist jetzt und zu aller Zeit in uns.

Mögen wir stets im Bewusstsein dieser köstlichen Tatsachen wandeln, indem wir sie durch den Glauben ergreifen denn es sind Wirklichkeiten, die uns gehören, wenn wir des Herrn sind. Doch hüten wir uns, durch unseren Wandel den Heiligen Geist zu betrüben, „durch welchen wir versiegelt worden sind auf den Tag der Erlösung.“ Ach, wie oft ist dies der Fall in den Tagen der Weltlichkeit, in denen wir leben. Wir verwirklichen die praktische Heiligkeit in dem Maß, als wir im Geist wandeln. „Denn so viele durch den Geist Gottes geleitet werden, diese sind Söhne Gottes“ (Röm 8,14). Der Heilige Geist, wird uns gewiss nicht in die Kreise der Welt einführen, die den Sohn Gottes verworfen und gehasst hat. Alles, ja alles, was von dieser Welt ist, muss verlassen werden. O, möchte dies nicht nur in Worten geschehen, sondern möchten wir in einfältiger Abhängigkeit von dem Heiligen Geist einzig und allein den Willen Gottes zu tun suchen! Und wenn wir so im Geist zu wandeln bereit sind, wird es ohne Zweifel vieles zu verlassen geben, was in dem fleischlichen Willen des Menschen seine Quelle hat. Es ist der Geist Gottes, der in unseren Herzen den Wunsch nach einer gänzlichen Widmung für Gott wachruft, den Wunsch, „ein Mensch Gottes“ zu sein, der in der Kraft des Heiligen Geistes wandelt. Um uns her erblicken wir kaum etwas anderes als ein eitles Bekenntnis. Das Haus Gottes ist von denen, die da kaufen und verkaufen, besetzt; es ist eine Form der Gottseligkeit, deren Kraft verleugnet wird. Möchten doch alle Heiligen erwachen und aus diesem Zustand ausgehen! (Schluss folgt)

Fußnoten

  • 1 Unsere Auferweckung mit Christus ist jedoch nicht Gegenstand der Belehrung des Römerbriefes, sondern wird in den Briefen an die Epheser und Kolosser behandelt.
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