Botschafter des Heils in Christo 1878

Das Gesetz - Teil 1/4

Es gibt viele, die das Gesetz als die Lebensregel des Christen darstellen, ohne daran zu denken, wie verderblich die Folgen einer solchen Lehre sind. Schon zu den Zeiten der Apostel waren jüdische Lehrer bemüht, das Christentum zu judaisieren, d. h. jüdische Grundsätze mit den Grundwahrheiten des Christentums zu vermengen. Eine solche Vermengung aber konnte nur dazu dienen, diese Grundwahrheiten zu vernichten, die Gläubigen von Christus abzuziehen und in den Zustand des Verderbens, aus dem Christus sie gerettet, zurückzuführen. Und wir sehen in der Tat in dem gegenwärtigen, verdorbenen Zustand der Christenheit die traurigen Folgen jener Vermengung – Folgen, die immer mehr zum Gericht reifen. Paulus sah sie voraus, und deshalb können wir leicht begreifen, warum er der Wirksamkeit jener judaisierenden Lehrer mit einer solch schonungslosen Schärfe, namentlich in seinem Brief an die Galater, entgegentrat, während er Zugleich den Timotheus aufs dringendste ermahnte, festzuhalten das Bild gesunder Worte, die dieser von ihm gehört hatte (2. Tim 1,13), und sich als einen Arbeiter darzustellen, der das Wort der Wahrheit recht teilt (Kap 2,15).

Diejenigen, welche das Gesetz zur Lebensregel des Christen machen, gründen sich vielfach auf eine Menge von Ausdrücken, die in der Schrift nicht zu finden sind, sowie auf eine ungenaue Anwendung von Schriftstellen. Es ist daher für den Christen höchst wichtig, durch das Wort Gottes selbst unterwiesen zu sein. Wir hören oft Ausdrücke, wie z. B. das „moralische Gesetz“, „die Gerechtigkeit Christi“ usw., die dem Wort ganz und gar fremd und. Und dennoch bilden diese Ausdrücke gewöhnlich die Grundlage der Gedanken solcher, deren Anschauungen wir hier betrachten wollen. Insofern aber diese gewohnheitsgemäßen Ausdrücke ihrem Inhalt nach schriftgemäß sind, können wir sie zulassen und den Inhalt festhalten, obwohl wir die klarere und bessere Ausdrucksweise der Schrift vorziehen. Ohne Zweifel sind schriftwidrige Ausdrücke der Weg zu einer schriftwidrigen Denkungsweise und sind die Frucht derselben. Doch bin ich andererseits weit davon entfernt, wesentliche Wahrheiten durch Wortstreit aufs Spiel zu setzen, und gebe gerne zu, dass man in Ermangelung geeigneter Worte oft seine Zuflucht zu gewöhnlich gebrauchten Ausdrücken nehmen muss, um das klar darzustellen, was man aus innerster Seele glaubt, obwohl man solche Ausdrücke nicht in der Schrift findet, wie z. B. „Dreieinigkeit“, oder „gerechtfertigt allein durch den Glauben.“ Ich möchte, wie gesagt, um keinen Preis an dem Glauben derer rütteln, welche die in diesen Worten ausgedrückten Wahrheiten festhalten, oder über Worte streiten, durch welche Tausende von Heiligen vor uns diese Wahrheiten ausgedrückt haben. Ebenso ist das auf die Gottheit angewandte Wort „Person“ nicht schriftgemäß; aber man hat keine bessere Bezeichnung für jemand, welcher sendet, gesandt wird, kommt, weggeht, dieses oder jenes will, austeilt und unterschiedliche Handlungen verrichtet. Ich zweifle, ob man ein passenderes Wort finden kann als dasjenige, wodurch die Heiligen ihre tiefe von Gott gegebene Überzeugung des Glaubens seit Jahrhunderten ausgedrückt haben. Es ist sogar zu befürchten, dass jemand, der ein zum Ausdruck einer Wahrheit allgemein gebrauchtes Wort bestreitet, ohne ein besseres dafür zu haben, mit der in diesem Wort enthaltenen Wahrheit selbst streitet. Ich sage dieses, um den Leser zu versichern, dass ich weit davon entfernt bin, einfache Seelen durch verfängliche Schwierigkeiten, oder durch den Widerstand gegen die in den Schulen gebildeten Ausdrücke zu verwirren. Wenn ein Diener Gottes bloß die Absicht hat, der Gefahr der Gesetzlosigkeit, welche die Freiheit, zum Deckmantel der Bosheit macht – wozu das Fleisch, wie wir aus der Schrift wissen, völlig fähig ist – entgegenzutreten, so werde ich gewiss nicht sein Gegner sein; und wenn er auf die Gottseligkeit, als die notwendige Frucht des Glaubens dringt, selbst wenn er dieses das moralische Gesetz nennt, so werde ich mich betreffs der Sache selbst von ganzem Herzen mit seiner Absicht vereinigen können, obwohl ich seine unbestimmte, schriftwidrige Ausdrucksweise, seinen Mangel an geistlicher Einsicht und Kraft bedaure, weil dieser ihn verhindert, Christus, nach der gesegneten Weise der Schrift, zum Mittelpunkt seiner moralischen und belehrenden Ermahnungen zu machen. Gewiss wird auch kein gegründeter und aufrichtiger Christ einen Augenblick sagen, dass solche Ermahnungen nicht notwendig und an ihrem Platz seien; nie wird er leugnen, dass ein Christ schuldig sei, sowohl nach den Vorschriften des Neuen Testaments zu wandeln, als auch nach dem Licht, das er für seinen Wandel aus dem Alten Testament, sei es aus den zehn Geboten oder aus anderen Stellen, sammeln kann. Wollte dies jemand bestreiten, so könnte ich ihn nicht als auf christlichem Boden stehend anerkennen. Nicht dass ich mir anmaßen will, der Richter eines solchen zu sein; aber ich bin verpflichtet, die Grundsätze, die er bekennt, zu verurteilen und als äußerst böse und unchristlich zu verwerfen. Überhaupt unterscheidet sich jemand, der irgendwie in der wahren göttlichen Kenntnis voranschreitet, von einem ketzerisch gesinnten Menschen dadurch, dass er stets an dem moralischen Fundament – der unbeweglichen und unwandelbaren Scheidewand zwischen Recht und Unrecht, wie sie in der göttlichen Natur besteht und im Wort offenbart ist – festhält, während der letztere diese Scheidewand gar nicht beachtet, oder sie ganz aus dem Gesicht verliert. Dieser Grundsatz wird uns sehr deutlich in Römer 2,6–10 gezeigt, also gleich im Anfang eines Briefes, die so ausführlich, in methodischer und gesegneter Weise, auf der Rechtfertigung aus Glauben und durch Gnade besteht. Es handelt sich in dieser Stelle um den Grundsatz oder um das in Rede stehende moralische Fundament: dass Gott gerecht ist und einem jeden vergelten wird nach seinen Werken: dem, der das Gute tut – ewiges Leben, Herrlichkeit, Ehre und Frieden, und dem, der das Böse tut, der Wahrheit ungehorsam, der Ungerechtigkeit aber gehorsam ist – Horn und Grimm, Trübsal und Angst.

Es könnte nun jemand die Frage erheben: „Kann denn der Mensch das Gute tun? Lehrt nicht dieselbe Brief, dass ‚da nicht einer ist, der Gutes tut‘? Und wird nicht das ewige Leben, die Herrlichkeit usw. dem Glaubenden aus Gnaden zu Teil? Steht nicht dieser Grundsatz mit den übrigen Belehrungen dieser Brief oder der Schrift überhaupt im Widerspruch?“ – Der Apostel beschäftigt sich hier nicht mit diesen Fragen und lässt sich mit keinerlei Erklärungen bezüglich der Übereinstimmung dieses Fundamentalgrundsatzes mit den übrigen Lehren der Schrift ein, damit jener nicht etwa dadurch geschwächt werde. Diese Übereinstimmung müssen wir in anderen Schriftstellen suchen, die uns, wenn wir sie mit einander vergleichen, ohne Zweifel Licht darüber geben. Aber hier haben wir die große Wahrheit in ihrer ganzen unbeweglichen und unerschütterlichen Festigkeit, gegründet auf die Natur Gottes und die Verantwortlichkeit des Menschen. Ich mag einsehen, dass ich auf diesem Grund in mir selbst, in meinem Zustand von Natur verdammt werden muss, ich mag meine Zuflucht zu der einzigen in der Gnade dargebotenen Hoffnung nehmen und also finden, was sonst nirgends zu finden ist: die Gerechtigkeit in Christus, sowie ein Leben, das, wie es in Römer 2 gefordert wird, im Gutestun verharrt; aber es war die vorhandene, unwandelbare Gerechtigkeit, die das Finden dieser Dinge notwendig machte, wie unendlich weit auch die erlangte Gnade und Herrlichkeit das Maß der Verantwortlichkeit, die mich zum Suchen derselben zwang, überschreiten mag. Hierdurch wird aber jener Grundsatz der unveränderlichen Gerechtigkeit weder zerstört, noch geschwächt. Ich sage daher noch einmal, dass meine Einwendungen gegen die Art und Weise, in welcher man von dem moralischen Gesetz spricht, um die Christen unter das Gesetz zu stellen, nicht aber gegen die Aufrechthaltung moralischer Verpflichtungen gedichtet sind; denn diese sind ganz an ihrem Platz. Aber indem man sich des Ausdrucks: „moralisches Gesetz“, bedient, und zwar unter Anführung von Schriftstellen, in denen der Apostel vom Gesetz spricht, verdreht man die Lehre des Apostels und setzt sie praktischer Weise in höchst wichtigen Punkten bei Seite. Es handelt sich also um wesentliche Wahrheiten, und nur aus diesem Grund, nicht aber um zu streiten, möchte ich etwas näher auf diesen Gegenstand eingehen.

Wenn man von einem „moralischen Gesetz“ spricht, (was die Schrift nicht tut) so macht man durch den Ausdruck selbst die Befreiung vom Gesetz zu einer gefährlichen Sache. Paulus erklärt aber, dass der Christ vom Gesetz befreit ist. Mache ich nun aus dem Gesetz ein moralisches Gesetz, welches die Vorschriften des Neuen Testaments und alle Moralität im Herzen und im Leben in sich einschließt, so würde es Unsinn oder äußerst freche Gottlosigkeit sein. Zu sagen, dass man davon befreit sei. Eins solche Befreiung könnte man sicher nicht als Christentum bezeichnen. Die Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen, die sich namentlich im Gehorsam gegen die Gebote kundgibt, ist sowohl die Freude, als auch die Pflicht einer erneuerten Seele. Zwar hat das Wort: „Gehorsam gegen die Gebote“, für viele etwas Abschreckendes, als schwäche es die Liebe und das innige Verhältnis zu Christus, in welches wir als eine neue Kreatur gestellt sind; allein die Schrift lehrt uns das Gegenteil. Der Gehorsam und das Halten der Gebote dessen, den wir lieben, ist der Beweis dieser Liebe und die Wonne der neuen Natur. Wenn ich in allem recht handelte, und täte es nicht aus Gehorsam, so würde ich in nichts recht handeln, weil das wahre Verhältnis und die wahre Beziehung des Herzens zu Gott fehlte. „Denn dies ist die Liebe Gottes, dass wir seine Gebote halten“ (1. Joh 5,3). Wir sind geheiligt zum Gehorsam Christi (1. Pet 1,2), der uns ein Vorbild gelassen hat; denn Er selbst sagt: „Der Fürst der Welt kommt und hat nichts in mir; aber auf dass die Welt erkenne, dass ich den Vater liebe und also tue, wie mir der Vater geboten hat“ (Joh 14,30–31). Seine größte Tat der Liebe war seine größte Tat des Gehorsams. Aber gerade deshalb ist es so verderblich, den Christen unter das Gesetz zu stellen, die schriftgemäße Ausdrucksweise zu verändern und von dem moralischen Gesetz als von einer, dem Christen gegebenen Lebensregel zu sprechen; und weil man diesen Ausdruck nicht in der Schrift findet, so führt man Aussprüche von Paulus an, die vom „Gesetz“ handeln, von welchem wir, wie er sagt, befreit sind. Er besteht hierauf als einem Hauptgegenstand seiner Lehre. Er erklärt nicht nur, dass aus Gesetzes Werken kein Fleisch gerechtfertigt wird, (was doch stattfinden müsste, wenn das moralische Gesetz gehalten würde, denn es heißt, „die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden“) sondern dass wir vom Gesetz befreit sind. Der Christ ist von demselben befreit, weil es in seinen Wirkungen verderblich ist, sobald es irgendwie auf den gefallenen Menschen angewandt wird. Ich spreche hier nicht von dem Zeremonialgesetz, 1 denn dieses konnte der Mensch erfüllen, wie beschwerlich es auch immerhin für ihn sein mochte. Es ist das moralische Gesetz, das in seinen Wirkungen für jeden gefallenen Sohn Adams verderblich ist. Ist die Moralität oder der Gehorsam gegen die Gebote Christi verderblich? Das zu behaupten wäre eine Gotteslästerung und ein Anstoß für jedes christliche Gemüt. Ich spreche vom Gesetz, von dem der Apostel in Römer 7 erklärt, dass es sich für ihn zum Tod erwiesen habe, obwohl es zum Leben gegeben war, und welches er in 2. Korinther 3,7.9 als „einen Dienst des Todes und der Verdammnis“ bezeichnet. Ebenso sagt er in Galater 3,10: „Denn so viele aus Gesetzes Werken sind, (d. h. auf dem Boden des Gesetzes stehen, dessen Werke an und für sich nicht schlecht sind) sind unter dem Fluch.“ Nach der Belehrung des Apostels bedeutet also das Gesetz etwas anderes als eine Richtschnur oder Verhaltensmaßregel. Es ist ein Grundsatz, nach welchem Gott mit den Menschen verkehrte, und der sie unvermeidlich vernichtete und verdammte. In dieser Art und Weise gebraucht der Geist Gottes das Gesetz in seinem Gegensatz zu Christus; aber nie stellt er in der christlichen Lehre die Menschen unter das Gesetz, sondern zeigt aufs sorgfältigste, dass sie von demselben befreit und ihm nicht mehr unterworfen sind. Auch sagt die Schrift nirgendwo: Ihr seid nicht unter dem Gesetz in der einen Weise, aber ihr seid es in einer anderen; ihr seid es nicht in Bezug auf eure Rechtfertigung, aber wohl in Bezug auf euren Wandel. Sie erklärt ganz einfach und bestimmt, dass wir nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade sind, und dass derjenige, welcher unter Gesetz ist, verdammt und unter dem Fluch ist. Das Gesetz musste seine besondere, ihm eigentümliche Kraft und Wirkung haben, und es wird in der Schrift als ein der Gnade entgegengesetzter Grundsatz hingestellt.

Es möchte vielleicht jemand sagen: „Ihr tut uns Unrecht; wir sagen nicht, dass ein Christ unter dem Gesetz ist, sondern dass die Verpflichtungen des Gesetzes für ihn noch fortbestehen.“ Doch ich frage: Kann mich ein Gesetz verpflichten, wenn ich nicht unter ihm stehe, oder wenn ich von ihm befreit bin? Gewiss nicht, der Apostel besteht mit aller Sorgfalt darauf, dass das Gesetz gut ist, und dass es nicht dessen Schuld ist, wenn wir, sobald wir mit dem Gesetz zu tun haben, durch dasselbe verdammt werden; aber er erklärt ebenso bestimmt, dass wir verdammt sind, sobald wir mit ihm zu tun haben, und dass wir wirklich vom Gesetz befreit sind. Denn er sagt: „Wenn ihr aber durch den Geist geleitet werdet, so seid ihr nicht unter Gesetz“ (Gal 5,18). Kurz er bedient sich des Gesetzes, um einen Grundsatz, eine Verfahrungsweise von Seiten Gottes vorzustellen, im Gegensatz zur Gnade. In dieser Weise spricht er vom Gesetz. Ich wiederhole es: Die Schrift erklärt ausdrücklich, dass wir vom Gesetz als von einer Sache, die den Tod und den Fluch bringt, befreit – dass wir nicht mehr unter demselben sind. Wohin muss es also führen, wenn man solchen Wahrheiten gegenüber von einem „moralischen Gesetz“ spricht? Ebenso macht der Apostel in Galater 3 den Schluss: „Wenn ich das, was ich abgebrochen habe, wiederum aufbaue, so stelle ich mich selbst als Übertreter dar.“ Er will sagen: ich habe das Gesetz verlassen, um zu Christus zu kommen; wenn ich es nun wieder aufrichte, so bekenne ich damit, dass ich Unrecht getan habe, es abzubrechen. Nun aber hat Christus mich veranlasst, dieses zu tun, und folglich ist Er die Ursache gewesen, dass ich etwas Unrechtes getan habe. Ich mache also dadurch, dass ich das Gesetz wieder aufrichte, Christus zum Diener der Sünde.

Überall hatte der Apostel die Wiederaufrichtung des Gesetzes, nachdem Christus in die Welt gekommen war, zu bekämpfen. Die Christen wurden, weil sie das Gesetz überhaupt als ein System nicht (nur, weil es nicht rechtfertigen konnte) aufgegeben hatten, der Gesetzlosigkeit beschuldigt. Dieser Beschuldigung begegnet nun der Apostel nicht dadurch, dass er das Gesetz in einer anderen Gestalt wiederaufrichtet, sondern durch die Erklärung, dass der Christ eine neue Natur besitze und berufen sei, nicht dem Gesetz, sondern Christus gemäß zu wandeln, und dass er wandelnd im Geist und geleitet durch denselben, nicht mehr unter dem Gesetz sei, sondern Früchte hervorbringe, wider welche es kein Gesetz gebe.

Zur besseren Übersicht und zum Beweis, dass ich diesen Gegenstand nicht leichtfertig behandele, noch in meiner Behauptung zu weit gehe, will ich einige Schriftstellen anführen: „So viele aus Gesetzes Werken sind, sind unter dem Fluch“ (Gal 3,10). „Das Gesetz aber kam daneben ein, auf dass die Übertretung überströmend sei“ (Röm 5,20). Man beachte hier den Ausdruck: „kam daneben ein.“ Es war ein Grundsatz, ein System, eine Verfahrungsweise, die eingeführt wurde. „Die Sünde wird nicht über euch herrschen, denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade“ (Röm 6,14). „Der Stachel des Todes aber ist die Sünde, die Kraft aber der Sünde ist das Gesetz“ (1. Kor 15,56). „Ich aber lebte einst ohne Gesetz, als aber das Gebot kam, lebte die Sünde auf. Ich aber starb“ (Röm, 7,9). Spricht der Apostel hier vom Zeremonialgesetz? Gewiss nicht; er spricht von der moralischen Natur und dem Wesen des Gesetzes. Er sagt: „Ich hätte nichts gewusst von der Lust, wenn das Gesetz nicht gesagt hätte: Lass dich nicht gelüsten.“ Und nachdem er in Römer 6,14 gesagt hat: „Denn die Sünde wird nicht über euch herrschen, denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade“, fügt er unmittelbar hinzu: „Was nun? Sollten wir sündigen, weil wir nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade sind?“ Das zeigt offenbar, dass es sich hier nicht um das Zeremonialgesetz, noch um die Rechtfertigung handelt, sondern dass einfach vom Dienen oder Nichtdienen der Sünde die Rede ist. Der Apostel behandelt die ganze Frage des Gesetzes in einer Weise, die von der vielfach vorkommenden evangelischen Lehre darüber ganz verschieden und ihr entgegengesetzt ist. Doch wollen wir noch einige andere Stellen untersuchen: „Die Sünde aber, durch das Gebot Anlass nehmend, bewirkte jegliche Lust in mir“ (Röm 7,8). „Ist nun das Gute mir zum Tod geworden? Das sei ferne! Sondern die Sünde, auf dass sie als Sünde erschiene, indem sie durch das Gute mir den Tod wirkte, auf dass die Sünde überaus sündig würde durch das Gebot ..“ (Röm 7,13). Hier spricht doch der Apostel sicher nicht vom Zeremonialgesetz, sondern vielmehr von einem Grundsatz, nach welchem Gott, „vierhundert und dreißig Jahre nach der Verheißung“, mit dem Menschen verkehrte, und welcher der Übertretungen wegen hinzugefügt wurde, bis der Same käme, dem die Verheißung gemacht war (Gal 3,17.19). Jetzt aber ist dieser Same gekommen, und jetzt sind wir vom Gesetz befreit. Was das Gesetz nicht tun konnte, weil es durch das Fleisch kraftlos war, das hat Gott auf eine andere Weise getan (Röm 8,3). Ich werde sogleich auf diesen Punkt zurückkommen, nämlich auf die Frage, wie die Befreiung vom Gesetz bewirkt wurde, ohne dass dadurch der Sünde Vorschub geleistet wird. Für jetzt zeige ich nur aus den angeführten Stellen, dass die Schrift die Frage bezüglich des Gesetzes in ganz anderer Weise behandelt wie es so vielfach geschieht. „Bevor aber der Glaube kam, waren wir unter dem Gesetz verwahrt ... da aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter einem Zuchtmeister“ (Gal 3,23.25). „Wenn die Erbschaft aus Gesetz ist, so nicht mehr aus Verheißung; dem Abraham aber hat sie Gott durch Verheißung geschenkt“ (Gal 3,18). Das Gesetz war eine hinzugefügte Sache. Weiter lesen wir: „Wenn ein Gesetz gegeben wäre, das lebendig machen könnte, dann wäre wirklich die Gerechtigkeit aus Gesetz. Die Schrift aber hat alles unter die Sünde eingeschlossen ..“ (Gal 3,21–22). „Ich bin durch es Gesetz dem Gesetz gestorben, auf dass ich Gott lebe“ (Gal 2,19). „Wenn ihr aber durch den Geist geleitet werdet, so seid ihr nicht unter Gesetz“ (Gal 5,18). „Also seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus, dass ihr eines anderen werdet“ (Röm 7,4). Und in 2. Korinther 3,7 wird das Gesetz „der Dienst des Todes“ genannt, „eingegraben in Steine.“ Wie wäre es möglich, wenn ein Christ durch das Gesetz, unter dem Namen „moralisches Gesetz“, gebunden wäre, dass der Apostel hätte sagen können: „Also seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus?“ Würde nicht auf diese Weise, wie Paulus sagt, Christus zum Diener der Sünde gemacht werden? Niemand möge einwenden, dass der Apostel in der angeführten Stelle von der Rechtfertigung aus Gesetzes Werken spreche. Er sagt: „Also seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus, dass ihr eines anderen werdet, des aus den Toten Auferweckten, auf dass wir Gott Frucht bringen.“ Es handelt sich also hier nicht um Rechtfertigung, sondern um das Fruchtbringen – und der Weg dazu ist, dem Gesetz gestorben zu sein. So auch in Galater 2,19: „Ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, auf dass ich Gott lebe.“ Man muss also in beiden Fällen, sei es um Frucht zu bringen, oder um Gott zu leben, dem Gesetz gestorben sein. In Verbindung mit dem Gesetz können wir ebenso wenig Gott leben, als gerechtfertigt werden. Aber es geht noch viel weiter; nicht nur kann man durch Gesetzes Werke nicht gerechtfertigt werden, sondern es verdammt uns unbedingt, wenn wir unter demselben sind. Es wirkt Zorn; nicht nur kann es das Leben nicht geben, sondern es bringt den Tod. Der Apostel sagt: „Es erwies sich für mich zum Tod.“ Er nennt es den „Dienst des Todes“, und „die Kraft der Sünde.“ Die Sünde nimmt durch das Gebot Anlass, um „jegliche Lust in uns zu bewirken – um dem Tod Frucht zu bringen.“ Durch das Gesetz werden die sündigen Lüste aufgeweckt, und die Sünde wird durch dasselbe „überaus sündig“ (Röm 7,13). Ich frage nun: Ist dieses alles der Schrift gemäß oder nicht?

Wenn ich sage: Ich muss sündigen, so heißt das, die Grundlagen des Christentums verleugnen. – Wenn ich sage: Ich kann nicht sündigen, so betrüge ich mich selbst. – Wenn ich sage: Ich habe nicht nötig zu sündigen, gebe ich dadurch ein göttliches Vorrecht kund (Fortsetzung folgt).

Fußnoten

  • 1 Das Zeremonialgesetz enthielt die Anordnungen bezüglich des jüdischen Kultus, der Opfer, der Einweihung, Kleidung und Beschäftigung der Priester und Leviten, der Feste usw.
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