Botschafter des Heils in Christo 1878

Der Tod ist unser - Teil 2/2

Was vermag ich euch von der Seligkeit der Hingeschiedenen mitzuteilen? Ich kann nur mit einer anderen Frage antworten: Was kennt ihr von der Anziehungskraft Christi, von der Seligkeit, bei dem Herrn zu sein? Denn wenn das Ich und die Selbstsucht euch erfüllen, so kann ich nur sagen, dass diese Dinge ihre Nahrung in dieser Welt finden. Wenn wir von unserem eigenen Ich erfüllt sind, von dem, was uns angenehm oder unangenehm ist, von unserem Vor– oder Nachteil, so werden wir aus der Lehre von der Seligkeit derer, welche „ausheimisch aus dem Leib und einheimisch bei dem Herrn sind“, wenig Nutzen ziehen. Sie verträgt sich nicht mit unserer Selbstsucht, und wir lieben es auch nicht, zur Rechenschaft gezogen zu werden, ob wir mehr Anziehendes in Christus finden, als in allem anderen. „Heute wirst du mit mir im Paradies sein“, war das gesegnete Wort des Herrn an den bekehrten Räuber. Was wusste der arme Räuber von dem Paradies oder seiner Seligkeit? Wahrscheinlich gar nichts. Doch hatte er soeben einen neuen Freund gefunden, desgleichen sonst keiner zu finden ist. Der Glaube hatte ihm das offene und anziehende Herz des hochgelobten Herrn offenbart. Durch den Glauben war das Herz des Räubers für die Heiligkeit, sowie für das Bekenntnis geöffnet; es war mit Vertrauen zu seinem Richter erfüllt und wurde durch die köstliche zusage angezogen, nie mehr von diesem Herrn getrennt zu werden: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43). „Mit Ihm“, das war genug. „Ausheimisch von dem Leib und einheimisch bei dem Herrn sein“ (2. Kor 5,8), war das „weit bessere“, welches Paulus als das Teil eines hingeschiedenen Heiligen kannte.

Was nun die Herrlichkeit betrifft, so kommt wohl keine Beschreibung jener gleich, die wir in den Worten ausgedrückt finden: „Und so werden wir allezeit bei dem Herrn sein“ (1. Thes 4,17). Doch gerade dieses führt uns auf die Frage bezüglich des Maßes unserer Erkenntnis und Wertschätzung des Herrn Jesus Christus zurück. Diejenigen, welche Ihn gut kennen und Ihn über alles schätzen, werden auch viel Trost und Freude in dem Gedanken finden, bei Ihm zu sein. Sie haben seinen Geist, sie wandeln in demselben, und dieser Geist kennt für den Heiligen nichts, was diesem „einheimisch bei dem Herrn sein“ gleichkäme. Wenn das Ich uns regiert, dann verlangen wir nach Umständen und nach eingehenderen Beschreibungen, damit wir heraussuchen können, was einem Menschen angemessen ist, der an sich und seine Umstände denkt.

Wenn ihr aber einen Heiligen liebt, der eben hinaufgegangen ist wie Stephanus, so lasst doch in eurem Herzen und Sinne ein wenig Raum für den Gedanken an die Freude dessen, den ihr liebt, und der die Gegenwart des Herrn und den Genuss derselben zu würdigen wusste. Wie glücklich ist dieser jetzt in der verwirklichten Gegenwart des Herrn! Wenn ihr ihn liebhattet, so lasst doch die gegenwärtige Seligkeit dessen, den ihr liebtet, und der nun in der Gegenwart des Herrn ist, das Gefühl eures Verlustes und eurer Entbehrung aufwiegen. Es dauert nur noch eine kleine Weile, vielleicht eine sehr, sehr kleine Weile, bis der Herr sich erheben wird. Wenn Er jetzt käme, so würde dieser vor uns liegende Leib nicht in die Gruft gesenkt werden, sondern er würde auferstehen zum Leben und zur Herrlichkeit, und wir würden verwandelt werden und Zugleich mit ihm entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft und also „allezeit bei dem Herrn sein.“ Wenn wir dem Herrn begegnen, so werden wir Ihn erkennen, obwohl wir Ihn nie zuvor gesehen haben. Kein Irrtum kann stattfinden, kein anderer in Gottes Gegenwart mit Ihm verwechselt werden. Er wird alle die Seinen kennen, die an jenem Tag um Ihn versammelt sein werden, und diese werden sich auch unter einander erkennen.

Eine grobe Verirrung des Unglaubens hat jetzt in manchen Gemütern Eingang gefunden, indem man meint, dass man sich, weil irdische Bande und Verhältnisse im Himmel aufhören, droben nicht kennen oder das gegenseitige Interesse nicht fortbestehen werde. Die törichte Verkehrtheit dieses Gedankens liegt auf der Hand. Ich kenne und liebe und werde gekannt und geliebt von vielen, die einst auf Erden meine Herren oder meine Knechte waren. Das Verhältnis hat aufgehört, aber Gott sei Dank! nicht die gegenseitige Liebe und Achtung, welche in demselben in unseren Herzen entstanden. Ein Kind Hort auf ein Kind im elterlichen Haus zu sein, wenn es sich verheiratet; er oder sie ist nach Gottes Ordnung aus dieser Stellung herausgetreten, aber die Liebe und das Interesse dauern fort. Oder wird etwa eine verheiratete Tochter nicht mehr geliebt, weil sie einem anderen Haus vorsteht und nicht mehr die Pflicht und Verantwortlichkeit eines Kindes im elterlichen Haus hat? Das frühere Verhältnis des Apostels zu den Thessalonichern mag aufhören, aber nicht seine Liebe zu denselben, noch die ihrige zu ihm, wie sie sich unter ihnen gebildet hatte, als sie noch auf Erden waren. Sie werden ihn in der Herrlichkeit umringen als seine Freude, seine Krone des Ruhmes. „Denn wer ist unsere Hoffnung, oder Freude, oder Krone des Ruhmes? Nicht auch ihr vor unserem Herrn Jesus bei seiner Ankunft?“ (1. Thes 2,19) Beachtenswert ist auch der Ausdruck: „Auf dass ihr euch nicht betrübt, wie auch die übrigen, die keine Hoffnung haben“ (Kap 4,13). Der Zustand derer, welche dieses nicht einsehen, ist fleischlich; weil sie mit sich und den Umständen beschäftigt sind, so können sie nicht aufwärts schauen, sich nicht zu der Freude und Gnade des Herrn erheben.

Nur noch eins möchte ich hinzufügen. Es könnte von etlichen zu mir gesagt werden: „So wäre also der Tod, ihrer Meinung nach, gar nichts.“ Darauf möchte ich erwidern: Keineswegs; doch der Tod mag sein, was er will, aber Christus ist mehr; Er macht das Dunkel licht, das Bittere süß. Der, welcher in Christus ist, aber auch nur ein solcher, kann sagen: „In diesem allen sind wir mehr als Überwinder durch den, der uns geliebt hat.“ Nur ein solcher kann sagen: „Wo ist, o Tod, dein Stachel? Wo ist, o Hades, dein Sieg?“ Der Tod war im Menschen die Frucht der Sünde; in dem Tod des Leibes zeigte sich auf furchtbare Weise die vernichtende Zerstörung, welche die Sünde über den Leib des Menschen gebracht hatte; und er wies zugleich auf den zweiten Tod hin, „wo ihr Wurm nicht stirbt, und ihr Feuer nicht verlöscht.“ Wenn auch der Sohn Gottes als Sohn des Menschen den Schwierigkeiten der Lage, in welcher der Mensch als Sünder war, entgegengekommen ist, indem Er das dem Sünder zukommende Gericht auf sich nahm, so konnte, so durfte Er es dennoch, weder moralisch, noch gerichtlich, mit der Sünde leichtnehmen. Im Gegenteil, als Er auf dem Kreuz das unseren Sünden zukommende Gericht trug, da wurde aufs klarste bewiesen, dass der Lohn der Sünde weit schrecklicher ist, als der Mensch es je gedacht hat, als er es je zu ergründen oder auszusprechen vermag, ja, dass dieser Lohn sich erweist in dem endlichen Verstoßen des Sünders aus der Gegenwart Gottes in „den Feuersee, der bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln.“ Das Kreuz Christi bewies, dass sogar zwischen dem Sohn des Menschen, der in seinem Dienst treu war, und Gott keine Gemeinschaft stattfinden konnte, ja dass kein Lichtstrahl von Gott auf Ihn herniederfallen konnte, als Er für den Sünder den Platz eines Stellvertreters eingenommen hatte. Er rief aus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Er hat überwunden, aber Er hat auf der Siegesbahn sein Leben hingeben müssen. Von dem Gericht über die Sünde bleibt nichts übrig, was die Seele eines an Christus Jesus Glaubenden treffen könnte. Sein Gericht war unsere Befreiung; doch sind wir, obschon befreit, wie wir wohl wissen, nicht ausheimisch von diesem Leib der Sünde und des Todes. Wenn es unser Teil ist, abzuscheiden und diesen Leib zu verlassen, so kann der Herr sich den Seinen zeigen, wie Er sich dem Stephanus zeigte. Und mag kommen, was da will, abzuscheiden ist weit besser; es heißt „ausheimisch von dem Leib und einheimisch bei dem Herrn sein.“ Es ist nicht befremdend, sondern gesegnet, bezüglich der Erfahrung, soweit es für einen erlösten Jünger möglich ist, unserem Herrn in irgendeinem Teil seiner Laufbahn hienieden ähnlich gemacht zu werden. Wir glauben nun, dass Jesus sowohl gestorben, als auch wieder auferstanden ist. Wenn ich seinen Tod in Verbindung mit dem Ertragen des von mir verdienten Zornes betrachte, so weiß ich, dass er vorüber ist, und der Glaube in mir verwirft den Gedanken, dass ich ihn je schmecken werde; in diesem Sinn werde ich nie den Tod schmecken. Wenn ich aber seinen Tod betrachte als ein Aufhören, unter den Menschen hier auf Erden zu wohnen, in einem Leib, der zu sterben fähig war, so war jene Stunde eine Erlösungsstunde für Ihn, und warum dann nicht auch für mich durch Ihn?

So viel

Als einen Riegel öffnen ist es nicht;

Ein Schritt ins Freie ist's – aus einem Zelt,

Das schon erleuchtet ist, weil strahlend Licht

Von außen durch die dünnen Wände fällt.

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