Botschafter des Heils in Christo 1878

Das Gesetz - Teil 4/4

Sollte mir vielleicht jemand vorwerfen, dass ich das Wort zu einseitig nach der Form und dem Charakter betrachte, wie es damals Israel gegeben sei, so erwidere ich ohne Bedenken, während (ich in entschiedenster Weise, ja mit dem größten Ernst auf der göttlichen Eingebung und Autorität der ganzen Schrift bestehe und durch den Geist geleitet zu werden suche) dass ich es allerdings als ein solches betrachte, das Israel angepasst, weil es Israel gegeben war; und nach meiner Überzeugung ist es sehr wichtig, dass wir es so betrachten. Man muss das Wort der Wahrheit recht teilen. Kann ich z. B. als Christ sagen: „Und in deiner Güte vertilge meine Feinde?“ (Ps 143,12) Oder: „Glückselig der, der deine jungen Kinder ergreift und zerschmettert sie am Felsen?“ (Ps 137,9) Oder: „Auf dass du tauchst deinen Fuß in Blut, die Zunge deiner Hunde in das Blut deiner Feinde?“ (Ps 68,23) Und dennoch wird dies alles in der Ausübung der irdischen Regierung Gottes an seinem Platz sein. Als Christ sehe ich darin, als eine allgemeine Wahrheit, die Gerechtigkeit; und ich kann im Blick auf die Regierung Gottes mich erfreuen, dass durch dieselbe – wenn Gott in seiner Geduld alles getan haben wird, was Er tun konnte – die Gottlosigkeit beseitigt wird. Demnach ist eine solche Sprache nicht die gegenwärtige Sprache des Christen. In Psalm 69 wird Christus dargestellt, wie Er die schrecklichste Rache und das furchtbarste Gericht über seine Feinde herabruft (V 22–23). Drückt Er in den Evangelien, wo Er uns gemäß seiner Gnade als ein Muster offenbart wird, je einen solchen Wunsch aus? Wir hören Ihn im Gegenteil, gerade in der Zeit, von welcher der Psalm spricht, ausrufen: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34) Heißt das: „Schütte aus über sie deinen Zorn, und deines Zornes Glut erreiche sie?“ Wir haben hier offenbare Gegensätze, und dennoch wird beides erfüllt werden. Das Eine ist der gnadenreiche, persönliche Wunsch Christi, wie wir Ihn in den Evangelien offenbart wissen, lind hierauf antwortet der Heilige Geist durch Petrus: „Und jetzt, Brüder, ich weiß, dass ihr in Unwissenheit gehandelt habt, gleich wie auch eure Obersten. ... So tut nun Buße und bekehrt euch, dass eure Sünden ausgetilgt werden, damit Zeiten der Erquickung kommen vom Angesicht des Herrn und Er den euch zuvor verordneten Jesus Christus sende ..“ (Apg 3,19–20). Dieses wird sicher am Ende der Tage erfüllt werden. In dem Anderen haben wir die Vereinigung Christi durch den prophetischen Geist mit dem jüdischen Überrest und mit allen denen, welche an dem Wort seiner Knechte festgehalten haben und festhalten werden, verbunden mit der Regierung Gottes, die eine gerechte Rache über die Nation, die Christus verwarf, ausüben wird. Und auch dieses wird völlig erfüllt werden, wie der Vorschmack davon schon über sie gekommen ist – „Zorn bis zum Ende.“ Wenn wir also den jüdischen Geist der Psalmen mit dem Evangelium verwechseln und ihn als den Ausdruck unserer Gefühle annehmen, so verfälschen wir das Christentum. Ohne Zweifel wird man in den Psalmen ein kindliches Vertrauen zum Herrn hinsichtlich seiner Regierung über diese Welt, sowie den Trost der Vergebung, die glückliche Zuversicht eines läutern Herzens, und bemerkenswerte Prophezeiungen in Bezug auf Christus finden; aber wo findet man die himmlischen Hoffnungen, oder die Einheit der Kirche mit einem verherrlichten Christus? Wo das Ausströmen der göttlichen Gnade, wie sich dieses in der Person Jesu auf der Erde offenbarte, oder die gesegneten Zuneigungen, welche den Herzen entströmen, die mit diesen Dingen bekannt sind? Wo finden wir den gesegneten Geist der Sohnschaft? Jeder Heilige kennt die rührenden Ausdrücke der Frömmigkeit, welche uns die Psalmen liefern; aber kein einsichtsvoller Christ kann sich von den Schriften des Johannes zu den Psalmen wenden, ohne sich in einer ganz anderen Atmosphäre zu befinden. Der Herr pries seine Jünger glückselig, weil ihre Augen Ihn sahen, den viele Propheten und Könige vergeblich begehrt hatten zu sehen, und dennoch sagte Er zu ihnen: „Es ist euch nützlich, dass ich hingehe; denn wenn ich nicht hingehe, so wird der Sachwalter nicht zu euch kommen.“ Es wäre folglich widernatürlich, anzunehmen, dass der Heilige Geist, da Er nun gekommen ist, uns nicht Freude, Frömmigkeit, Einsicht, Beweggründe, Erkenntnis Gottes, sowohl des Vaters als auch des Sohnes, den Geist der Sohnschaft, das Bewusstsein, dass wir in Christus sind und Er in uns, sowie die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn mitgeteilt habe – das, was die alttestamentlichen Heiligen nicht besaßen. Der Erbe unterscheidet sich, solange er ein Kind ist, in nichts von einem Knecht, obgleich er Herr von allem ist. Dies ist nach der sorgfältigen Belehrung des Apostels der Unterschied der Stellung der alttestamentlichen Heiligen, während Gott für uns etwas Besseres vorgesehen hat, damit sie nicht ohne uns vollkommen gemacht würden, so dass der Geringste im Reich der Himmel größer ist als der Größte von denen, die zuvor von Weibern geboren worden sind. Leben und Unverweslichkeit sind durch das Evangelium ans Licht gebracht worden. Ich sehe weder Frömmigkeit noch Achtung vor dem Wort Gottes dann, dass man die offenbarten Gaben Gottes, wie sie für uns im Neuen Testament entfaltet sind, leugnet oder unterschätzt. Ist es nichts, dass der Tröster gekommen ist? Wo werden die Heiligen des Alten Testaments aufgefordert, sich selbst Gott als Lebende aus den Toten darzustellen? Dies aber ist unsere Lebensregel. Will man dies Gesetz nennen, so ist das nur ein bloßer Missbrauch der Worte.

Ich weiß sehr wohl, dass man gesagt hat, es sei zwar nicht richtig, die Gerechtigkeit und das Leben durch das Gesetz erlangen zu wollen, aber es sei doch unsere Lebensregel, man dürfe beides nicht mit einander verwechseln. Aber ich sage, dass die ganze Theorie, auf welche man diese Unterscheidung gründet, eine Täuschung ist. Wer gibt uns das Recht, das Gesetz für den einen Zweck bei Seite zu legen und für einen anderen anzunehmen, wenn Gott es für einen bestimmten Zweck gegeben hat? Nach der Erklärung des Apostels verfügt das Gesetz, wenn wir mit demselben zu tun haben, über uns, und nicht wir über das Gesetz. Es bringt uns unter den Fluch, ist für uns der Dienst der Verdammnis und des Todes, ohne uns zu fragen, wie wir es ansehen, oder ob wir damit einverstanden sind. Es verkündigt sein eigenes Urteil über uns. Wird es übertreten, so verflucht es. Mit einem Wort, die Wirkung des Gesetzes über alle, die sich unter demselben befinden, ist der Fluch. Die Schrift gibt nirgendwo Erlaubnis zu sagen: „Ich stelle mich in der Weise nicht unter das Gesetz.“ Aber die Schrift stellt dich in der Weise darunter, sobald du unter dem Gesetz bist. Wenn wirklich der Glaube gekommen ist, so sind wir nicht mehr unter dem Zuchtmeister, und folglich nicht mehr unter seinem Fluch. Unter dem Gesetz zu sein und nicht unter seinem Fluch, wenn es übertreten ist, ist nur eine schriftwidrige Phantasie und Anmaßung des Menschen. Gottes Wort sagt: „Wandelt im Geist, und ihr werdet die Lust des Fleisches gar nicht vollbringen.“ „Wenn ihr aber durch den Geist geleitet werdet, so seid ihr nicht unter Gesetz“ (Gal 5,16.18).

Doch bevor ich schließe, möchte ich noch einmal auf den köstlicheren Teil unseres Gegenstandes zurückkommen, nämlich auf die positive Seite der Frage: Was ist die Lebensregel des Christen? Die Antwort ist: Christus. Er ist unser Leben, unsere Richtschnur oder Regel, unser Muster, unser Beispiel, ja alles. Der Geist belebt uns und ist unsere Kraft, um Christus nachzufolgen. Im Wort Gottes finden wir Ihn offenbart und seine Gedanken im Einzelnen entfaltet. Aber während die ganze Schrift – das eingegebene Wort Gottes – wenn richtig geteilt, unser Licht ist, wenigstens (für solche, welche die Salbung von dem Heiligen haben) werden Christus und der Geist, im Gegensatz zu dem Gesetz, vor uns gestellt als Muster, Leben und Führer; und Christus ist ausschließlich alles für uns. Der Christ ist ein Brief Christi, wie geschrieben steht: „Die ihr offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi seid, angefertigt durch uns im Dienst, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes; nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln des Herzens. ... Wir alle aber mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist“ (2. Kor 3). Wir haben hier also Christus im Gegensatz zum Gesetz, sowie die genaue Bezeichnung dessen, was wir sind, nämlich ein Brief Christi; während wir im Ausblick auf Christus die Kraft haben, die das hervorbringt, was durch das Gesetz nimmer hervorgebracht werden kann. So auch finden wir in Galater 2,20 und 5,16, dass der Geist im Gegensatz zum Gesetz die Kraft der Gottseligkeit ist – dass wir, wenn durch Ihn geleitet, nicht mehr unter dem Gesetz sind und Früchte hervorbringen, gegen welche es kein Gesetz gibt. Wir sind ermahnt, im Geist zu wandeln, aber dies ist nicht das Gesetz. In Römer 13,14 heißt es: „Zieht an den Herrn Jesus Christus, und treibt nicht Vorsorge für das Fleisch zur Erfüllung seiner Lüste.“ Christus ist ein Gegenstand, der das Herz beherrscht, der das Leben und Zugleich der Gegenstand des Lebens ist; Er ist der, dem wir, wie uns verheißen ist, gleichförmig sein werden, und dem wir jetzt schon, nach unserem ernstlichen Wunsch, so viel als möglich gleichförmig zu sein suchender, welcher unsere ganze Aufmerksamkeit in einer Weise fesselt, die jeden anderen Gegenstand ausschließt. Wir sind zuvor bestimmt, dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu sein, damit Er der Erstgeborene unter vielen Brüdern sei. Unsere Wonne in Ihm ist die Quelle unseres Handelns und der uns beherrschende Beweggrund. Dies lasst sich von seiner Person nicht trennen; ich kann Ihn nicht als mein Beispiel und meinen Beweggrund haben, ohne meine Wonne in Ihm zu finden. Je mehr ich Ihn liebe, und je mehr ich die Schönheit, die in Ihm ist, erblicke, desto mehr werde ich meine Wonne darin finden, Ihm gleich zu sein. Es ist keine niedergeschriebene Regel, sondern eine lebendige Darstellung dessen, den ich, indem Er mein Leben ist, wieder offenbaren soll, wie Paulus sagt: „Allezeit das Sterben Jesu am Leib umhertragend, auf dass auch das Leben Jesu an unserem Leib offenbar werde.“ Ohne Zweifel ist das geschriebene Wort das Mittel, um mir die Gedanken und den Willen des Herrn kund zu tun. Aber es ist nicht ein Gesetz als eine Richtschnur, noch ist Christus nur ein Beispiel wie man dasselbe zu befolgen hat. Es ist das Wort, das mir die Vollkommenheit dieses herzgewinnenden Beispiel zeigt und mir kundtut, wer der ist, mit dem ich vereinigt bin. „Wie der von Staub ist, so sind auch die, welche von Staub sind; und wie der Himmlische, so sind auch die Himmlischen. Und wie wir das Bild dessen von Staub getragen haben, so werden wir auch das Bild des Himmlischen tragen“ (1. Kor 15,48–49). „Wir wissen, dass, wenn Er offenbart ist, wir Ihm gleich sein werden, denn wir werden Ihn sehen, wie Er ist. Und ein jeglicher, der diese Hoffnung zu Ihm hat, reinigt sich selbst, gleich wie Er rein ist“ (1. Joh 3,1.3).

Dann aber auch ist Christus für mich die Quelle von allem, worin ich Ihm gleich zu sein begehre. Denn in dem ich „mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschaue, werde ich verwandelt nach demselben Bilde.“ „Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, und zwar Gnade um Gnade“ (Joh 1,16). Das kann nie durch eine Lebensregel erreicht werden; sie kann uns weder verwandeln in jenes Bild, noch hat sie eine Fülle mitzuteilen. Deshalb sagt Jesus: „Heilige sie durch die Wahrheit, dein Wort ist Wahrheit ... und ich heilige mich selbst für sie, auf dass auch sie Geheiligte seien durch Wahrheit“ (Joh 17,17.19). Es ist der Heilige Geist, der uns die Dinge Christi mitteilt und uns also nach seinem Bild gestaltet. Welch eine gesegnete Wahrheit! Jede Zuneigung des Herzens verbindet sich auf diese Weise mit der Heiligkeit, wenn ich sie sehe in dem, der mich nicht nur geliebt hat, sondern auch überaus liebenswürdig ist. Deshalb bin ich berufen, „des Herrn würdig zu allem Wohlgefallen zu wandeln“ – „heranzuwachsen in allem zu Ihm hin, der das Haupt ist, der Christus.“ Paulus suchte einen jeden vollkommen in Christus Jesus darzustellen (Kol 1,28). Christus ist für die Seinen der einzige Gegenstand und in ihnen das wirkliche Leben, damit sie alles das offenbaren, was in Christus ist. Auch bin ich „durch Herrlichkeit und Tugend berufen.“ Das vorgesteckte Ziel ist jetzt für mich nicht mehr auf der Erde; es ist der auferstandene Christus. Dies verursacht, dass mein Wandel im Himmel ist, und wir lesen deshalb in Kolosser 3,1: „Wenn ihr nun mit dem Christus auferweckt seid, so sucht, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnt auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde ist.“ Dadurch, dass ich auf Christus droben blicke, werde ich Ihm gleich, wie Er hier auf der Erde war, und wandle seiner würdig, indem ich wandle, wie Er gewandelt hat. Ich stehe über den Beweggründen, die das Herz an diese Erde fesseln und bin „erfüllt mit der Erkenntnis seines Willens in aller Weisheit und geistlichem Verständnis.“ Dieses kann nicht durch bloße gesetzliche Vorschriften erreicht werden; denn das Gesetz steht in keiner Beziehung zu diesem himmlischen Leben. Wir haben zu prüfen, was das Vorzüglichere ist. Selbst Abraham wandelte in dem vortrefflichsten Teil seines Lebens nicht nach bloßen Vorschriften oder Regeln. Er erwartete die Stadt, welche Grundlagen hat und war ein Fremdling und Pilger im Land der Verheißung. Zurückkehren zu bloßen Lebensregeln heißt die Quelle der wahren Tätigkeit verlieren. Gott will uns nicht ein bloßer Direktor oder Aufseher sein, der durch bestimmte Vorschriften seinen Willen kundtut, sondern Er übt uns in der Geistlichkeit, indem Er das Verständnis seines wohlgefälligen Willens von unserem geistlichen und moralischen Zustand abhängig macht; ein geistliches Verständnis erfordert einen geistlichen Zustand. Nicht dass man sich etwa vorsetzt, die Vollkommenheit zu erreichen, sondern das, was wir nach dem geistlichen Verständnis unseres inneren Lebens von Gott und seinem wohlgefälligen Willen erkennen, wird durch dieses Verständnis selbst für uns sowohl eine Wonne, als auch eine Pflicht; und die Vollkommenheit Christi werden wir sehr wahrscheinlich nicht überschreiten. Dennoch ist sie als das Ziel vor uns gestellt – das Maß des vollen Wuchses der Fülle des Christus. Er ist der Maßstab unseres Wandels, unser Vorbild, unsere Regel, unsere Stärke, unsere Hilfe in Gnade, der Gegenstand unserer Freude, der Beweggrund unseres Wandels, und der, welcher einen völligen Anspruch auf unsere Herzen hat. Sicher geziemt es sich für uns, mit aufrichtigen Seelen, die unter dem Gesetz sind, Geduld zu haben; Gott allein kann sie befreien. Doch ist es sehr wichtig, dass wir um der Verherrlichung Christi und selbst um derer willen, die unter dem Gesetz sind, an der klaren, schriftgemäßen Wahrheit festhalten.

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