Botschafter des Heils in Christo 1878

Die Vollkommenheit - Teil 2/4

3.: Meine Leser werden sagen, dass es jetzt doch bald an der Zeit sei, uns mit der Vollkommenheit zu beschäftigen. Allein ich war der Meinung, dass wir es nicht eher tun konnten, als bis alle die oben besprochenen Punkte erörtert waren. Wir haben vor uns der Brief über die Vollkommenheit, und ich wusste wirklich nichts Besseres zu tun, als die Ordnung, die Gott selbst darin befolgt hat, ebenfalls einzuhalten.

Sprechen wir also zuerst vom Hohepriestertum. – Der Grundsatz eines menschlichen Hohepriestertums ist in Israel fünfzehn Jahrhunderte hindurch auf die Probe gestellt worden. Es gab damals ein von dem Volk getrenntes Hohepriestertum, das dem Dienst und der Verehrung Gottes geweiht war. Die Geschichte aller Völker beweist, dass dieser Grundsatz von den Menschen geschätzt wird. In der Tat ist es merkwürdig, dass dieser häufig unter dem Namen „Klerus und Laientum“ bekannte Grundsatz von allen heidnischen Religionen auf der Erde anerkannt ist. Die rohen Germanen wie die seinen Griechen, die Ägypter des grauen Altertums wie die Chaldäer – alle haben ihre Priester gehabt. Aber in Israel „nimmt nicht jemand sich selbst die Ehre, sondern als von Gott berufen, gleich wie auch Aaron“ (Kap 5,4). Somit hatte das jüdische Priestertum nicht nur ein hohes Alter für sich, sondern auch die göttliche Autorität. Alles dieses wird in unserem Brief völlig anerkannt. Jetzt aber ist die Frage: Bestand denn die Vollkommenheit in diesem errichteten Hohepriestertum? Nein; denn „wenn die Vollkommenheit durch das levitische Priestertum war, (denn in Verbindung mit demselben hat das Volk das Gesetz empfangen) welches Bedürfnis war noch vorhanden, dass ein anderer Priester aufstehe nach der Ordnung Melchisedeks?“ Das Hohepriestertum war daher geändert, und es mühte notwendig auch eine Änderung des Gesetzes stattfinden, „denn das Gesetz hat nichts zur Vollendung gebracht.“

Vergegenwärtigen wir uns, von welch großartigen Veränderungen hier gesprochen wird. Der glänzende und feierliche Dienst des Hohepriestertums, das ganze System selbst und der Dienst des Gesetzes sind bei Seite gesetzt, weil sie nichts zur Vollendung brachten. Der Jude hatte den Tempel, das Priestertum, das Gesetz und seinen prächtigen Ritus; was hatte der Christ? Einen materiellen Tempel auf Erden konnte er nicht aufweisen, wenn man nicht seinen Leib oder die Gesamtheit der Christen als solchen betrachtet; denn es steht geschrieben: „Ihr seid der Tempel.“ Hatte er ein Hohepriestertum? Durchaus nicht; selbst wenn Christus auf Erden wäre, so würde Er doch nicht Hohepriester sein. Gab es nicht wenigstens einen rituellen Dienst? Nein; der Christ soll sich vielmehr hüten, zu diesen armseligen Elementen zurückzukehren. Aber wenn der Jude alles hatte, worauf das Auge des Menschen mit Wohlgefallen ruhen konnte, was hat dann der Christ? Mochten wir es alle wahrhaft erkennen und zu schätzen wissen! Der Christ hat dieses: „Die Hauptsumme aber dessen, was wir sagen, ist: Wir haben einen solchen Hohepriester, der sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones der Majestät in den Himmeln.“

Ich möchte zum besseren Verständnis des Lesers hier ein sehr einfaches Beispiel anführen. Wenn der Morgen zu tagen beginnt, so werden alle Lichter, die während der Nacht die Stadt beleuchteten, ausgelöscht. Warum? Weil sie, wie groß auch ihr Nutzen in der Finsternis sein mochte, jetzt ganz unnütz sind, da die Sonne am Himmel glänzt. Das levitische Priestertum war, wie die Lichter, nützlich, solange die Nacht herrschte, aber jetzt ist das wahre Licht aufgegangen und scheint mit herrlicherem Glänze als die Mittagssonne.

Dieser einzig große und erhabene Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks, der Priester und der König, war in den Psalmen und allen Propheten klar und deutlich angekündigt worden. Und dennoch – es ist traurig zu sagen, aber leider eine wirkliche Tatsache – will man jetzt, nachdem Er erschienen ist, in der bekennenden Kirche ein besonderes Priestertum, einen Klerus haben. Die große Masse der Christenheit, anstatt zur Vollkommenheit fortzuschreiten, ist mehr oder weniger zu der Finsternis und den Schatten des Judentums zurückgekehrt.

Neun man bei Hellem Tag in einer Stadt die Lichter anzündet, so drückt man damit aus, dass die Sonne nicht genügt. Richtet man auf Erden ein menschliches Priestertum auf, so leugnet man dadurch die Allgenügsamkeit Christi, unseres einzigen großen Hohepriesters, der zur Rechten des Thrones der Majestät in den Himmeln sitzt. Möchte Er den Ihm gebührenden Platz vor der Seele einnehmen, dann wird sicher jedes andere Priestertum, außer dem seinen, einer leichten Wolke gleich, verschwinden. Er hat ein unveränderliches Priestertum; Er vermag auch völlig zu erretten, die durch Ihn zu Gott kommen. „Da er die Seinen liebte, liebte er sie bis ans Ende.“ Er ermangelt nie, unsere Füße zu waschen und unsere Seelen wiederherzustellen. Als wahrhaftiger Gott und wahrhaftiger Mensch vereinigt Er eine unendliche Macht mit dem Zärtlichsten Mitgefühl. Möchte ein jeder Leser dieser Zeilen das erhabene Hohepriestertum Christi betrachten, wie es uns in diesem Brief offenbart wird, und also vorwärtsschreiten; denn in Ihm findet er die Vollkommenheit.

Der zweite Punkt bezüglich der Vollkommenheit ist der Zugang zu Gott. In Hebräer 9,1–7 haben wir die Beschreibung der ersten Hütte und des Dienstes, der darin ausgeübt wurde; dann lesen wir: „Wodurch der Heilige Geist dies anzeigt, dass der Weg zum Heiligtum noch nicht offenbart sei, solange die erste Hütte noch Bestand habe“, und ferner, dass all dieser Dienst und die Opfer „dem Gewissen nach nicht vollkommen machen können.“ Wir werden über das Gewissen, wenn wir im 10. Kapitel zu diesem Gegenstand kommen, eingehender sprechen; für jetzt beschäftigen wir uns mit dem Zugang zu Gott. Das Gesetz und das Hohepriestertum vermochte die den Gottesdienst Übenden nicht in die Gegenwart Gottes zu bringen. Beide waren in dieser Beziehung unzulänglich, indem sie nichts vollenden, noch vollkommen machen konnten; wir aber, d. h. die Gläubigen, haben „Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu.“ Das ist die Vollkommenheit. Ich kann zu dem, der bezüglich des Zutritts zu Gott wohl unterrichtet ist, nicht sagen: „Lass uns fortschreiten.“ Er ist bereits da; er weiß, dass dies der Platz eines jeden Kindes Gottes durch das Blut Jesu ist, im Gegensatz zu dem Juden unter dem Gesetz, der niemals hinzunahen konnte. Das Hohepriestertum war unvermögend, ihn dort einzuführen. Aber Christus besitzt die Vollkommenheit; in Ihm haben wir sie gefunden. In den himmlischen Örtern, wozu Er uns den Zutritt eröffnet hat, gibt es gar keinen Unterschied zwischen Priestern und Volk, zwischen Klerus und Laien. Wie wäre dies möglich, da doch alle auf gleiche Weise, als gereinigte Anbeter, eingeführt sind? Der eigentliche Grundsatz, der den Klerus charakterisiert, ist dieser: „Ich bin drinnen und du draußen“, oder auch: „Ich bin Gott nahe, aber du bist fern – so fern, dass ich dein Mittler bei Ihm sein muss, und sein Mittler bei dir.“ Dies ist ein schreckliches, in der Christenheit eingeführtes Nebel. Wenn jeder Gläubige durch das Blut Jesu Freimütigkeit oder Freiheit hat zum Eintritt in das Heiligtum, und wenn dennoch ein von Menschen eingesetzter Klerus und ein von ihnen errichtetes Priestertum dem Laien sagt oder zu verstehen gibt: „Ich bin Gott näher, als du“, – was muss man daraus schließen? Dass er entweder nicht an den Wert des Blutes Jesu glaubt, oder an etwas glaubt, das einen größeren Wert hat und ihn Gott näherbringt, als den einfachen Gläubigen, der nur auf das Blut Christi vertraut.

Man gebraucht oft den Ausdruck „Geistliche“, um damit Männer zu bezeichnen, die gewisse religiöse Amtsverrichtungen ausüben. Ich würde nicht viel dagegen einzuwenden haben, wenn man unter diesem Titel einfach Diener Christi, die das Evangelium verkündigen, oder den Gläubigen das Wort Gottes bringen, verstände. Ist es aber nicht weit besser, sich keines solchen Ausdrucks zu bedienen, der den Gedanken eines schriftwidrigen und gefährlichen Unterschiedes zwischen Klerus und Laien hervorbringt? Ist es nicht besser, Bezeichnungen zu gebrauchen, die in der Schrift angewandt sind, wie Evangelisten, Hirten, Lehrer usw.?

Doch hüten wir uns wohl, indem wir von diesen Bezeichnungen Gebrauch machen, sie ohne weiteres und eigenmächtig gewissen Männern beizulegen, die durch andere eingesetzt sind, und die somit eine eigene getrennte Klasse bilden, einen Klerus, wie man es zu nennen pflegt. Dass es gewöhnlich also geschieht, ist ein Beweis, wie sehr diese Sache in den Geist der Christenheit eingedrungen ist.

Der dritte Punkt, den wir zu betrachten haben, ist die Vollkommenheit in Betreff der Erlösung.

Der Christ kann sagen: „Wir haben die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Vergehungen.“ Gesegnete Tatsache! Wer könnte den Wert derselben aussprechen? Worauf konnte sich ehemals ein Jude in dieser Beziehung stützen? Er war erlöst von der Knechtschaft Ägyptens, das ist wahr, aber wo war er in Betreff seiner Sünden? Das Höchste, was er sagen konnte, war, dass die Sünden des Volkes für das ganze Jahr auf dem Kopf des Bockes Asasel am Versöhnungstag bekannt wurden (3. Mo 16). Der Bock wurde alsdann fortgeschickt und kam nicht wieder zurück. Das Blut der Versöhnung war vergossen und auch die Besprengung des Gnadenstuhls vollzogen worden. Aber so köstlich dies als Vorbild dessen, was hernach kommen sollte, auch war, so konnte es doch dem Juden keine vollständige Erlösung verschaffen. Er konnte sagen: Ich habe die Erlösung für ein Jahr; aber war dieses etwas Vollkommenes? Wenn du hundert Mark gibst, um einen armen Sklaven für ein Jahr loszukaufen, wäre dies eine vollkommene Befreiung? Gewiss nicht; es würde ihn nur umso mehr das Elend seiner Stellung empfinden lassen, wenn er in seine harte Knechtschaft zurückkehren müsste. Um ihm eine völlige Befreiung zu Teil werden zu lassen, genügt ein unvollständiges Lösegeld nicht; man muss eine Summe bezahlen, die ihn für immer in Freiheit setzt. Von unserem herrlichen Erlöser aber steht geschrieben, dass Er mit seinem eignen Blut ein für alle Mal in das Heiligtum eingegangen ist, als Er eine ewige Erlösung erfunden hatte (Heb 9,13). Er hat uns nicht für eine beschränkte Zeit erkauft; dies wäre kein vollkommenes Werk gewesen. Beachte es wohl, geliebter Leser, dass, wenn du die Erlösung hast, es eine ewige Erlösung ist und sein muss. Wie klein ist die Zahl derer, die diese Tatsache, die von so unendlichem Wert ist, erfassen! Wie wenige glauben sie wirklich! Besitzest du für dich selbst diese so wertvolle und ewige Erlösung durch das Blut Jesu? Wie könnte sie in ihrer Wirksamkeit weniger als ewig sein? Dies ist der Wert des Blutes Christi vor Gott für alle diejenigen, welche für immer gewaschen und erkauft sind; und dieser Wert bleibt ewig derselbe. Hat diese Erlösung für deine Seele denselben Wert, den sie in den Augen Gottes hat? Hast du ihr diesen Wert noch nicht beigelegt, hörst du zu der Klasse derer, die von Messen oder oft erneuerten Opfern für die Sünde und von einer wiederholten Anwendung des Blutes Christi sprechen, so höre doch und überzeuge dich durch das Wort Gottes, dass deine Erlösung, wenn sie dir wirklich zu Teil geworden, eine ewige ist. Das Beispiel, dessen ich mich oben bediente, kann dir vielleicht zum Verständnis dessen, was ich sage, behilflich sein. Wenn der Loskauf eines Sklaven keine vollständige und für immer gültige ist, wenn sie nur für 1,2 oder selbst 10 Jahre gilt, so muss sie nach Ablauf dieser Zeit immer wieder erneuert werden. Wenn aber das Lösegeld zur völligen Loskaufung genügt, so ist nichts mehr zu bezahlen; der Sklave ist gänzlich und für immer frei. Bist du aber in Bezug auf diesen so überaus wichtigen Punkt noch nicht zu dem vollen Wüchse des Christus gelangt, hast du nicht dem Wort Gottes gemäß begriffen, dass das Blut Jesu einmal für alle Glaubenden zu einer ewigen Erlösung vergossen wurde, so ist es gewiss, dass du keinen wahren Frieden hast, sondern mit einem unruhigen Gewissen zu neuen Anwendungen des Blutes Christi deine Zuflucht nehmen wirst. Die Schrift aber spricht von nichts dergleichen.

Doch man wird vielleicht sagen, dass viele von denen, welche die Heiligkeit bekennen, von der Notwendigkeit einer wiederholten Anwendung des Blutes Jesu sprechen. Es beweist dies einfach, dass diese Personen in Bezug auf die Erlösung nicht zu dem vollkommenen Wüchse gelangt sind. Denn sie sollten mit allen Kindern Gottes wissen, dass jeder Christ in Christus eine ewige Erlösung hat; eine ewige Erlösung aber ist eine vollkommene; es gibt da nichts hinzuzufügen, nichts zu wiederholen. Man muss vorwärtsschreiten, bis man diese Vollkommenheit in Christus ergriffen hat.

Der vierte Punkt, auf den ich die Aufmerksamkeit des Lesers richten möchte, ist die Vollkommenheit in Betreff des Gewissens. Wir werden sehr klar unterwiesen, dass das Gesetz diese Vollkommenheit nicht geben konnte. „Denn da das Gesetz einen Schatten der zukünftigen Güter, nicht der Dinge Ebenbild selbst hat, so kann es nimmer mit denselben Schlachtopfern, die sie alljährlich ununterbrochen darbringen, die Hinzutretenden vollkommen machen. Denn würden sie sonst nicht aufgehört haben, dargebracht zu werden?“ (Heb 10,1–2)

Lasst uns jeden Ausdruck dieses Kapitels sorgfältig erwägen. Wir hören zuerst, dass das Blut der Stiere und Böcke durchaus keine Sünden hinwegnehmen kann. Alsdann werden wir in den Ratschlüssen der Vergangenheit an die Worte des ewigen Sohnes erinnert, der sich anschickt zu kommen, um, koste es, was es wolle, das große, für jeden anderen unmögliche Werk zu erfüllen. „Siehe“, sagt Er, „ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun.“ Diese Worte werden noch einmal wiederholt. „Er nimmt das Erste weg“, (das Gesetz, das nichts zur Vollendung brachte) „auf dass Er das Zweite aufrichte, durch welchen Willen wir geheiligt sind, durch das ein für alle Mal geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi.“ Welch vollkommene Widmung, welche Absonderung für Gott! Wir sind aber nicht durch eine Handlung unserseits in dieser Weise geheiligt. Er ist es, der gesprochen: „Siehe, ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun; Er hat es vollbracht.“ O möchte diese einzige, ein für alle Mal dargebrachte Gabe des Leibes Jesu Christi ihren wahren Platz vor unserer Seele haben! Beachten wir wohl, dass alle unsere Sünden – ich spreche zu denen, die gerettet sind – auf Ihn gelegt wurden, und dass sie alle damals noch zukünftig waren. Kein Opfer hätte den Bedürfnissen unseres Gewissens entsprechen können, weil keines der Forderung Gottes Genüge leisten konnte. Die ehemaligen Opfer konnten die Sünde nicht wegnehmen. „Er aber, nachdem Er ein Schlachtopfer für die Sünden dargebracht, hat sich für immerdar gesetzt zur Rechten Gottes.“ Gab es jemals eine Herrlichkeit, die dieser ähnlich wäre? Und die Wirksamkeit des Opfers dauert für uns solange, wie die Herrlichkeit für Ihn. „Denn durch ein Opfer hat Er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden.“ Glaubst du dieses? Können wir je darüber hinausgehen? Kann es eine größere Vollkommenheit geben als diese: „auf immerdar vollkommen?“ Was unendlich ist, braucht nicht wiederholt zu werden und kann es selbst nicht. Ein Akt von unendlichem Wert – die ein für alle Mal dargebrachte Gabe des Lebens Jesu – macht auf immerdar vollkommen, die geheiligt werden.

Haben wir daher diese Vollkommenheit durch jene einzige Gabe erreicht, so haben wir, als ein für alle Mal gereinigte Anbeter, kein Gewissen mehr von Sünden. Wir können in unserem täglichen Wandel irgendeine Sünde oder einen Fehltritt auf unserem Gewissen haben, und dann muss gewiss Buße und Bekenntnis vor Gott stattfinden; denn das ist der Weg, um für die gegenwärtige Zeit die unterbrochene, praktische Gemeinschaft mit Gott und der Seele wiederherzustellen. Dies ist die Waschung mit Wasser durch das Wort. Handelt es sich aber um den Eintritt in das Heiligtum droben, so haben wir kein Gewissen mehr von Sünden, denn alle sind von Christus auf dem Kreuz getragen und dort gerichtet worden; sie sind somit hinweggenommen und können nicht wieder in Erinnerung gebracht werden. „Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken.“

Gott hat dies erklärt, und wir haben zwei Zeugen für diese Wahrheit: den Sohn Gottes, der sich, nachdem Er sein Werk vollbracht, zur Rechten Gottes gesetzt hat, und den Heiligen Geist. Der Herr gebe, dass wir diese Vollkommenheit, die wir in Ihm haben – „für immerdar Vollkommen gemacht“ – völlig zu schätzen vermögen! Niemand, der wirklich die Tragweite dieser Worte versteht, kann von einer wiederholten Anwendung des Blutes Christi, oder von einem für die Sünde zu wiederholenden Opfer sprechen. Dies alles ist bei Seite gesetzt; das, was allein Bestand hat, ist das einzige Opfer und die immer dauernde Vollkommenheit. „Wo aber eine Vergebung derselben (Sünden und Gesetzlosigkeiten) ist, da ist nicht mehr ein Opfer für die Sünde.“ Lasst uns unseren gesegneten Platz innerhalb des Vorhangs einnehmen – dort, wo „wir Freimütigkeit haben zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu.“ 4.: Es ist wohl zu beachten, dass in keiner der Stellen, die wir bisher untersucht haben, irgendwie von etwas die Rede ist, das wir zu erwerben haben. Was uns dargestellt wird, ist die Vollkommenheit, die das Teil eines jeden Kindes Gottes ist. Ein solches mag ganz unmündig sein und diese Dinge nicht wissen; aber sie bestehen, sie sind eine Wirklichkeit und gehören ihm an. Wir sehen, dass diese Lehre gerade an solche gerichtet ist, die Unmündige waren, und dass sie ihnen mitgeteilt wurde, um sie zur Vollkommenheit zu führen. Lasst uns aber Zugleich auch beachten, dass diese Vollkommenheit nicht in ihnen, sondern in Christus Jesus ist.

Wir haben auch gesehen, dass die Vollkommenheit in Christus in direktem Gegensatz steht zum Gesetz, das nichts zur Vollendung gebracht hat. Das menschliche Hohepriestertum hat gleichfalls nichts zur Vollendung gebracht 5 aber unser großer Hohepriester hat das Werk der Versöhnung vollkommen vollbracht und jetzt, da Er vollendet ist, hat Er sich zur Rechten der Majestät in den Himmeln gesetzt und vermag vollkommen zu erretten – und Er wird es tun – alle, die durch Ihn zu Gott kommen.

Unter dem Gesetz verbarg der Vorhang Gott dem Menschen, jetzt ist der Vorhang Zerrissen, und der einzig wahre Platz eines jeden Kindes Gottes ist innerhalb und nicht außerhalb desselben. Und hinsichtlich der Erlösung war es unmöglich, dass der Tod Jesu, der von einem so hohen Werte ist, nur eine unvollkommene Erlösung von beschränkter Dauer erwerben konnte; sie ist und muss vollkommen und ewig sein. Köstliche und unschätzbare Gabe! Was das Gewissen betrifft, so vermochten die Opfer des Gesetzes, wie wir gesehen haben, niemals den vollkommen zu machen, der hinzunahte; aber das einmalige Opfer des Leibes Jesu Christi, durch welches wir geheiligt sind, macht uns auf immerdar vollkommen. Die Gnade erhebt sich somit weit über jeden menschlichen Gedanken. Aber diese Wahrheit vermag nur durch den Glauben, der sich mit Ergebenheit vor dem Wort Gottes beugt, erfasst zu werden.

Vielleicht sagst du: „Das ist alles gut und wahr, aber werde ich, wenn ich in einem Augenblick der Versuchung falle und sündige, nicht auf einmal alle diese Vollkommenheit, die ich in Christus besitze, verlieren?“ – das ist es gerade, worin das Gesetz mangelhaft war; es war eine beständige Wiederholung des Opfers nötig. Dies aber ist nicht der Fall bei dem ein für alle Mal geschehenen Opfer des Leibes Jesu Christi. Von allen christlichen Wahrheiten ist diese für die Seele der untrüglichste Prüfstein, um zu wissen, ob man auf jüdischem oder christlichem Boden steht. Denke ich an eine neue Besprengung des Blutes, so befinde ich mich auf jüdischem Terrain, nicht auf dem der Vollkommenheit, die durch das ein für alle Mal geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi auf immerdar vollbracht ist. Alle, welche durch Messen oder durch Wiederholung der Blutbesprengung einige Erleichterung für ihre Seele suchen, stellen den Tod des Sohnes Gottes auf gleiche Höhe mit den Opfern der Stiere und Böcke.

„Aber“, könnte man weiter fragen, „was geschieht mit den Sünden des Gläubigen?“ – alles wurde auf dem Kreuz geordnet.

„Wie! Meine zukünftigen Sünden?“ – Ich sollte niemals so sprechen oder denken, als wenn ich in Zukunft Sünden begehen müsste.

„Das ist wahr; aber wenn ich sündige, so ist es doch für den jetzigen Augenblick eine zukünftige Sünde.“ – Ganz recht; aber waren in dieser Hinsicht nicht alle unsere Sünden zukünftig, als Christus auf dem Kreuz starb, um sie zu tilgen? Ist Er nur für einige unserer Sünden oder für alle gestorben? Vor allem war Er unser Stellvertreter in Bezug auf alle unsere Sünden, die ohne Ausnahme zukünftig waren. Alles, was unsere Sünden betrifft, ist in der glorreichen Person dessen, der unseren Platz eingenommen hat, geordnet, und zwar so völlig geordnet, dass wir bezüglich unseres Gewissens auf immerdar vollkommen gemacht sind. Dieses ein für alle Mal vergossene kostbare Blut reinigt uns von aller Sünde. Und wenn wir im Licht wandeln, so wissen wir es. O, wie wenige Seelen geben diesem Opfer den ihm gebührenden Platz! Gott sei gepriesen, dass es seinen wahren Wert vor Ihm hat! Er sieht das Blut und sagt: „Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken. Wo aber eine Vergebung derselben ist, da ist nicht mehr ein Opfer für die Sünde.“ Wäre es nicht so, wären nicht alle unsere Sünden auf Ihn gelegt worden, so hätte Er oftmals leiden müssen von Grundlegung der Welt an.

Man mag weiter fragen: „Wenn aber der Gläubige gesündigt hat, ist alsdann der Heilige Geist nicht betrübt? Empfindet der Gläubige keinen Schmerz in seiner Seele und eine Unterbrechung in seiner Gemeinschaft mit Gott? Was muss er in diesem Fall, wenn er nicht zu einer neuen Anwendung des Blutes Christi seine Zuflucht nehmen kann, tun?“

Er hat zu Gott, zu seinem Vater, zu gehen und seine Sünden zu bekennen; dies ist das einzige Mittel, Vergebung zu empfangen. „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist Er treu und gerecht, dass Er unsere Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit“ (1. Joh 1,9).

Wenn jemand das Judentum verlassen und im Christentum seinen Platz genommen hatte, indem er bekannte, an das ein für alle Mal geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi zu glauben, und dann freiwillig die schreckliche Sünde beging, zu den verschiedenen von dem Gesetz für die Sünde vorgeschriebenen Opfern zurückzukehren, ein solcher fand, dass dieselben keinen Bestand mehr hatten, und dass es auf diesem Boden keine Barmherzigkeit mehr gab, sondern ein furchtvolles, schreckliches Erwarten des Gerichts. Wir finden deshalb am Ende des 10. Kapitels in Bezug hierauf die feierlichsten Warnungen. Wie wichtig ist es deshalb, Glauben, unerschütterlichen Glauben an die fortdauernde Wirksamkeit dieses einzigen, für die Sünde ein für alle Mal dargebrachten Opfers zu haben. Es ist gewiss, dass es einmal dargebracht wurde, und nur um uns zu ermutigen, durch den Glauben diese köstliche Wahrheit ohne Zögern zu ergreifen, führt der Heilige Geist in Kapitel 11 die Wolke von Zeugen, die Gott geglaubt haben, vor unsere Seele.

5.: Wenden wir uns jetzt zum 12. Kapitel unseres Briefes. Dort finden wir den Wettlauf – den Wettlauf, mit welchem die Menschen gewöhnlich ihre Bücher über die Vollkommenheit beginnen, und mit dem Gott das seinige beendigt. Ist dies nicht beachtenswert? In allen Werken, die ich über diesen Gegenstand gelesen, habe ich zuerst den Wettlauf gefunden, bald länger, bald kürzer, aber immer in erster Linie. Die Vollkommenheit ist am Ende des Wettlaufs, sie ist der Zweck desselben. Welch ein Kontrast! In diesem Brief sind zehn Kapitel dazu bestimmt, die Vollkommenheit Christi vor uns zu enthüllen und uns erkennen zu lassen, wie wir durch sein Werk auf immerdar vollkommen gemacht sind; dann folgt ein Kapitel, welches die große Wichtigkeit zeigt, diese Dinge durch den Glauben, zu ergreifen, und erst dann kommen wir zu dem praktischen Wettlauf. Die Methode Gottes ist die einzig richtige, alle anderen sind trüglich. Hast du daher bis jetzt der Heiligkeit auf einem verkehrten Wege nachzujagen gesucht, indem du ihr den Rücken gewandt hast, so ist es kein Wunder, wenn du dich getäuscht siehst.

Wenden wir uns indessen zu dem Wettlauf. Er soll, mit Ausharren gelaufen werden. Man kommt nicht ans Ende desselben auf einmal, mit einem Sprung durch einen; Akt des Glaubens. Israel legte nicht in einer Tagereise den Weg von Ägypten nach Kanaan zurück. Auch müssen wir nicht – lasst uns wohl darauf achten! – einer auf den Anderen blicken, noch auf uns selbst, sondern allein, auf Jesus (V 2). Wie groß war sein Ausharren! Wie viel hat Er erduldet! Betrachten wir Ihn, wenden wir unsere Blicke von allem anderen hinweg und nur auf Ihn hin. Man sieht oft Personen, welche die Heiligkeit bekennen, sich an menschliche Systeme aller Art hängen, in denen das Böse herrscht; sie setzen dieselben nicht bei. Seite, sie gehen nicht von ihnen aus und trennen sich somit nicht von der Ungerechtigkeit. Ach, dies ist nicht der Wettlauf. Denken wir mit Ernst daran. „Wer den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit“ (2. Tim 2,19). Ohne Zweifel ist der Weg, auf dem wir Christus zu folgen haben, schmal und mit Dornen besät, aber das Licht des Weges nimmt immer mehr zu, bis es vollkommen Tag ist. „Denn betrachtet den, der so großen Widerspruch von den Sündern gegen sich erduldet hat, auf dass ihr nicht ermüdet, indem ihr in euren Seelen ermattet“ (V 3).

Es möchte nun jemand einwenden: „Wenn Gott uns innerhalb des Vorhangs als Anbeter empfängt, die auf immerdar durch das ein für alle Mal geschehene Opfer Christi vollkommen gemacht sind, hat es dann nicht den Anschein, als ob Er leicht über unsere Sünden und Vergehungen hinweggehe? Ich weiß wohl, dass Er dieselben aus dem Kreuz völlig zugerechnet hat, aber ich meine, dass seine gegenwärtige Handlungsweise mit uns solche Gedanken hervorrufen könnte.“

Das 12. Kapitel beantwortet diese Frage in der bestimmtesten Weise. Zuerst möchte ich jedoch darauf aufmerksam machen, dass Gott uns nicht mehr als Sünder, sondern als Söhne behandelt: „Denn wen der Herr liebt, den züchtigt Er; Er geißelt aber einen jeglichen Sohn, den Er aufnimmt.“ Es ist von Wichtigkeit, diesen Gegenstand, die väterliche Zucht, wohl zu erwägen. Sie ist hier völlig am Platz und findet auf jeden Sohn ihre Anwendung. Was mich betrifft, so danke ich Gott, meinem Vater, für alle die Züchtigungen, die Er an mir seit 40 Jahren ausgeübt hat. Die väterliche Zucht hat ein weites Feld; die Erforschung desselben ist für die Kinder Gottes von großem Nutzen.

Unsere Stellung in einer ununterbrochenen Vollkommenheit in Christus mittels des einzigen Opfers, das Er selbst dargebracht hat, darf nicht mit der praktischen Heiligkeit verwechselt werden. Ein Christ kann sich nicht mit der Bitte an Gott wenden, auf immerdar vollkommen gemacht zu werden. Er ist es; es ist eine geschehene Tatsache, die unmöglich wiederholt werden kann; denn eine immerwährende, ununterbrochene Vollkommenheit kann nicht erneuert werden. Unser großer Hohepriester hat das Werk, das uns für immer in diese Vollkommenheit eingeführt hat, vollbracht. Aber der Christ kann der praktischen Heiligkeit nicht genug nachjagen; er kann nicht genug die Hilfe Gottes anflehen, um in derselben zu wandeln. Diese Heiligkeit ist der Zweck, den der Vater bei aller Zucht, die Er an uns ausübt, zu erreichen sucht. Sie ist zu unserem Nutzen, „damit wir seiner Heiligkeit teilhaftig werden“, und „hernach“ gibt sie „die friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die durch sie geübt sind.“

Nachdem wir erkannt, was die Vollkommenheit in Christus ist, oder nachdem wir zu derselben fortgeschritten sind und dann gesehen haben, welchen Zweck Gott im Auge hat, wenn Er uns züchtigt, wie passend erscheinen uns dann die folgenden Ermahnungen: „Jagt dem Frieden nach mit allen und der Heiligkeit, ohne welche niemand den Herrn schauen wird.“ Man kann die göttliche Ordnung nicht umstoßen. Wir sollten nicht damit anfangen, der Heiligkeit in der Absicht nachzujagen, um durch sie zur Vollkommenheit in Christus zu gelangen. Wir müssen zuerst den gesegneten Platz, der uns innerhalb des Vorhangs, als auf immerdar vollkommen gemacht, gegeben ist, kennen und durch den Glauben eingenommen haben, und alsdann muss als das Maß der Heiligkeit, dem wir fleißig nachzustreben haben, Gott selbst und nichts Geringeres vor der Seele stehen.

Gott sei gepriesen für die Klarheit seines Wortes! Wenn Er so vor der Seele steht, wird man nicht Menschen folgen, sondern mit denen, die im Licht seiner Gegenwart wandeln, seine Wege ziehen. Was heißt der Heiligkeit nachjagen? Es heißt nicht nur siegreich über unsere Begierden sein, obwohl dies, Gott sei Dank! auch wahr ist, sondern sich wirklich von jeder Art des Bösen trennen. Es wird ohne Zweifel viel kosten, aber wenn wir aufrichtig sind, so wird der Herr uns beistehen und uns von allem befreien, was einer heiligen Gemeinschaft mit Ihm hinderlich ist. Der gläubige Überrest der Juden war berufen, aus dem Lager des Judentums auszugehen, zu Christus hin, seine Schmach tragend. Die Person eines verworfenen Christus außerhalb der religiösen Welt war damals, wie jetzt, der Prüfstein einer wirklichen Treue. Wenn man die sieben Sendschreiben der Offenbarung, die an die Versammlungen gerichtet sind und die allmählige Entwicklung der Geschichte der Christenheit beschreiben (Off 2 und 3), mit Aufmerksamkeit liest, so sieht man, dass Thyatira ein genaues Gemälde des Zustandes der römischen Kirche liefert, während Sardes seinerseits mit ebenso viel Wahrheit den Zustand der protestantischen Kirchen schildert. Aber in Philadelphia haben wir einen kleinen, schwachen Überrest, der außerhalb des Lagers versammelt ist und der Person des Herrn Jesus, „des Heiligen und Wahrhaftigen“, anhängt. Kann uns dieses ohne allen Eindruck lassen? Wissen wir nicht, dass sich die Christenheit, papistisch oder protestantisch, in diesem traurigen und beschämenden Zustand befindet, wo sie von der Wahrheit Gottes abgewichen ist? Inmitten dieser Verwirrung ist Jesus, der köstliche Jesus, durch den Geist Gottes vor uns gestellt, und wenn wir der Heiligkeit nachzujagen begehren, so müssen wir Ihm folgen. „Lasst uns zu Ihm hinausgehen, seine Schmach tragend.“

Fern ist mir der Gedanke, ein einziges Wort zu schreiben, das dazu dienen könnte, einen aufrichtigen und ernsten Wunsch nach Heiligkeit zu schwächen. Ich wünsche vielmehr von Grund meines Herzens auf ihrer Notwendigkeit zu bestehen; Gott ist mein Zeuge. Aber es ist nötig, dass der wahre Gegenstand vor uns sei, und dies ist Christus außerhalb des Lagers (Fortsetzung folgt).

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