Botschafter des Heils in Christo 1878

Das Buch der Erfahrung - Teil 3/5

Kapitel 3,1–14

In dem vorhergehenden Kapitel brachte der Apostel unsere Herzen in Verbindung mit dem Herrn Jesus, welcher seine göttliche Herrlichkeit im Himmel verließ, die Gestalt eines Dieners annahm und sich erniedrigte, dann aber als Mensch hoch erhoben wurde. Ebenso haben wir uns zu erniedrigen; dieselbe Gesinnung soll auch uns leiten.

Nachdem nun der Apostel diesen Gegenstand, den Standpunkt und den Zustand der Seele, worin wir sein sollen, beendigt hat, blickt er jetzt vorwärts zur Herrlichkeit hin. Das, was vor uns liegt, wird die Seele bewahren, dass sie nicht aufgehalten werde, d. h. Christus steht so vor der Seele, dass Er sie ganz in Besitz nimmt. Hier ist nicht die Rede von dem Charakter des Lebens hienieden, von der Gnade und dem rücksichtsvollen Verhalten gegen andere, wie dies im vorhergehenden Kapitel der Fall war, wo unsere Blicke auf Christus gerichtet wurden, als auf den, der sich der Herrlichkeit entäußerte und sich selbst erniedrigte, sondern es handelt sich um die Energie des göttlichen Lebens, das dem Ziel entgegeneilt. – Wir begegnen zuweilen da einem Mangel an Energie wo Liebenswürdigkeit des Charakters vorhanden, ist; andererseits findet sich oft viel Energie da, wo Sanftmut und Rücksicht auf andere mangelt. In den Dingen Gottes jedoch muss man alles zusammen haben, damit jeder einzelne Teil an seinem richtigen Platze sei. Satan mag das Eine oder andere nachahmen; niemals aber wird man in seinen Nachahmungen das Ganze finden. Haben wir aber beides, Gnade und Energie – ist Christus alles – dann wird die Seele von der Selbstsucht befreit, und das Leben offenbart sich, indem man das Wohl der Anderen sucht; doch wird man nie nachgiebig sein, wenn es sich darum handelt, Christus aufzugeben; ich meine nicht, Ihn aufzugeben in Betreff der Errettung der Seele, sondern auf unserem Pfad hienieden. In diesem Sinn sagt Petrus: „Zu der Bruderliebe fügt die Liebe“; denn wenn wir nicht mit Gott unseren Weg gehen, so haben wir keine Kraft, um Gott gemäß in Gnade zu wandeln. Christus ist in den Himmel hinaufgestiegen und ist alles für uns. Er ist als ein Gegenstand vor unserer Seele, und wir dürfen Ihn nicht aufgeben, um dem Fleisch zu gefallen; wohl aber können wir Kraft bei Ihm finden, um voranzueilen.

„Übrigens, meine Brüder, freut euch in dem Herrn!“ Dies ist der Ausgangspunkt für den Apostel: „Freut euch in dem Herrn allezeit! Wiederum sage ich, freut euch!“ Die Beendigung des eigenen Ichs hat zur Folge, dass ich mich allezeit freue, und wenn ich mich allezeit freue, so ist der Herr der Gegenstand meiner Freude. Nichts kann uns von der Liebe trennen, das wissen wir; wenn wir aber eine Segnung genießen, so sind wir in Gefahr, uns auf die Segnung zu stützen und nicht in der Abhängigkeit von dem zu bleiben, der uns segnet. David sagte: „Ich werde nicht wanken ewiglich. O, Jehova, in deiner Huld hast du festgestellt meinen Berg. Du verbargst dein Antlitz – da ward ich bestürzt!“ (Ps 30,6–7) Als sein Berg wich, gewahrte er, dass er auf den Berg und nicht auf den Herrn vertraut hatte. Wenn er sagt: „Der Herr ist mein Hirte“ (Ps 23), so wird er nicht bestürzt, denn er stützt sich auf den Herrn selbst. Wenn das Herz von dem eigenen Ich ausgeleert ist, so ruht es im Herrn; allein dasselbe ist so verräterisch, dass jemand, der als Christ große Freude erfahren hat, hernach oft zu Fall gekommen ist, weil er den Platz der Abhängigkeit verließ. Wir wissen wohl, dass der Herr ihn wiederherzustellen vermag, wie es auch in jenem Psalm heißt: „Er stellt meine Seele wieder her.“

Das Leben des Apostels stand augenblicklich in großer Gefahr. Er hatte schon vier Jahre im Gefängnis zugebracht; die beiden letzten Jahre war er mit einem heidnischen Soldaten zusammengekettet. Auch sagte er, er wisse sowohl niedrig zu sein, als Überfluss zu haben, sowohl satt zu sein, als Mangel zu leiden (Kap 4,11–12). Kummer und Leiden, Freude und Trost – durch alles war er hindurchgegangen; dennoch war er nicht entmutigt, wie man es von jemandem erwarten sollte, der gezwungen wurde, mit ungebildeten und rohen Leuten zu leben, der stets an einen Soldaten gekettet war und vier Jahre lang im Gefängnis zubrachte. Und das war nicht alles; Paulus hatte sagen können: „Ich bin im Gefängnis und kann mich um das Werk des Herrn nicht kümmern.“ Doch nein; er wandelt mit dem Herrn und sagt: „Alles wird mir zur Seligkeit ausschlagen.“ Selbst wenn Christus aus Neid und Streit gepredigt wurde, konnte er ausrufen: „Darüber freue ich mich, ja ich werde mich auch freuen.“ Wenn uns alles entzogen wird, so sind wir auf den Herrn geworfen und fähig, uns in Ihm zu erfreuen; und dies wird der Fall sein, wenn Er uns leitet.

Welch einen herrlichen Gegenstand hatte Paulus in der Person des Herrn vor sich! Welche eine Energie bewirkte er! Sein Blick war auf alles das gerichtet, was jenseits der Wüste liegt; er war ein Reisender, der hindurch zog und auf dem ganzen Wege sich des Herrn erfreute. Mochte er öffentlich predigen oder in der Stille einen jeden in seiner Wohnung empfangen, der zu ihm kam, immer freute er sich. Man setzt sein eigenes Ich in hohem Maß bei Seite, wenn man sich stets im Herrn erfreut. Paulus hatte gehofft, nach Spanien zu gehen, nachdem er die Heiligen ein wenig genossen haben würde (Röm 15,23–24). Hier aber ist weder von Spanien die Rede, noch vom Genuss der Gemeinschaft der Heiligen, und dennoch freute sich Paulus. Es ist unmöglich, in die Festung dessen einzudringen, der sich stets im Herrn freut. Paulus sagt: „In diesem allem sind wir mehr als Überwinder“ (Röm 8,37–39). Engel, Fürstentümer und Gewalten – diese alle sind Geschöpfe, in uns aber wohnt Christus. Er ist dem Herzen nahe, und das ist das große Geheimnis. Wir haben Christus zwischen uns und den Trübsalen, wir verstehen, welch ein Hindernis der Unglaube ist; dies aber ist das Geheimnis, durch welches alle Dinge zum Guten mitwirken. Man rechnet auf die Liebe Gottes; seine Liebe ist in das Herz ausgegossen. Der große Ausgangspunkt, ich wiederhole es, ist: „Übrigens meine Brüder, freut euch in dem Herrn.“

Wie einfach ist alles für den, der auf Christus blickt. Die Religion der Väter, der Satzungen und der Werke – diese drei Dinge, sobald sie vorhanden sind, machen, moralisch gesprochen, einen Juden aus. Diese Religion bestand ganz aus Werken, Satzungen und Überlieferungen. Ware Christus nicht gekommen, so könnte man sich aller dieser Dinge noch in gleicher Weise rühmen. Aber wie urteilt der Apostel darüber? „Seht auf die Hunde“, sagt er, und bezeichnet mit diesem Namen etwas durchaus Schlechtes und Schamloses.

Ich muss mit meinem Gewissen vor Gott sein und von Seiten Gottes Christus haben, oder ich habe nichts. Ein Jude mochte „sein Haupt beugen wie ein Schilf“, und alles vollbringen, ohne dass seine Seele mit Gott war; darum verachtet Gott dieses alles. Er sagt: „Gib mir, mein Sohn, dein Herz“ (Spr 23,26). „Mein ist alles Getier des Feldes, das Vieh auf tausend Bergen ... wenn mich hungerte, ich würde es dir nicht sagen“ (Ps 50,10.12). Was nützt mir all das Bringen deiner Opfergaben? Dich selbst will ich und nicht deine Gaben. Kam hatte viel mehr Mühe mit dem Bebauen des Erdbodens als Abel mit seinem Lamm; allein das Gewissen Kains war niemals vor Gott gewesen, noch hatte er das Verderben erkannt, das durch die Sünde hereingebrochen war. Wir sehen seine Herzenshärtigkeit bezüglich der Sünde und seine Unwissenheit in Betreff der Heiligkeit Gottes; er bringt das dar, was ein Zeichen des Fluches war, das, was er im Schweiß seines Angesichts erworben hatte. Abel brachte ein Lamm dar und wurde angenommen. Wenn wir die wahre Erkenntnis des Werkes der Versöhnung und der Annahme in Christus erlangt haben, so sind wir Abel gleich. Das Zeugnis hinsichtlich der Gerechtigkeit bezog sich auf die Person Abels, war gegründet auf sein Opfer, welches ein Vorbild von Christus war. Gott kann mich nicht abweisen, wenn ich Christus vor Ihn bringe; ich werde von Ihm angenommen auf Grund des Passes, den ich vorweise. Ich darf nicht daran denken, durch irgendwelchen Prozess meine Seele verbessern zu können. Wenn ich Gott nahe, muss es auf dem von Ihm vorgeschriebenen Wege geschehen, und dieser ist Christus und nichts anderes. Auch muss ich mit meinem eigenen Gewissen kommen und nicht mit Satzungen, welche alle äußerlich sind.

Die Art und Weise, in welcher der Apostel diesen Gegenstand hier behandelt, ist bemerkenswert. Er spricht nicht von einem mit Sünde beladenen Gewissen, sondern von der Nutzlosigkeit aller Satzungen; deshalb belegt er das ganze System mit dem verächtlichen Namen: „Zerschneidung.“ Das wahre Gebot ist: unsere Herzen beschnitten zuhaben. „Wir sind die Beschneidung, die wir durch den Geist Gottes dienen.“ Ebenso sagt Jeremias: „Beschneidet euch, ... tut weg die Vorhäute eures Herzens“ (Jer 4,4). Das Fleisch muss gänzlich niedergehalten werden. Es hat eben sowohl eine Religion als es Lüste hat, aber diese Religion muss von der Art sein, dass sie das Fleisch nicht tötet. Zur Befriedigung des Fleisches den Leib zu kasteien – ein eigenwilliger Dienst, Niedriggesinntheit, „Nichtverschonen des Leibes“ (Kol 2,23) – das ist eine leichtere Arbeit als mit dem Fleisch völlig ein Ende gemacht zu haben. Paulus konnte sagen: „Ich bin ein Hebräer von Hebräern ... was die Gerechtigkeit betrifft, die im Gesetz ist, tadellos“ – und somit ein vollkommen religiöser Mensch; wer aber wurde hierdurch geehrt? Paulus – nicht aber Gott oder Christus. Diese Gerechtigkeit hat nicht den geringsten Wert; sie huldigt dem Ich. Es heißt immer „ich“ und nicht Christus. Diese Gerechtigkeit wird daran erkannt, dass sie dem Fleisch Ehre zu Teil werden lässt; sie mag Anstrengung und Mühe kosten, sie mag in Dingen bestehen, durch welche ich mir selbst Strafe auferlege, allein sie ist ganz wertlos. Gewiss werden viele aufs höchste aufgebracht werden, wenn man ihnen sagt, dass eine solche Gerechtigkeit nicht den geringsten Wert habe.

Es ist auffallend, wie der Apostel hier von dieser Gerechtigkeit spricht. Er betrachtet sie nicht als Sünde, sondern als etwas völlig Werthloses; es ist die gesetzliche Gerechtigkeit und eine für das Auge des Menschen sichtbare Religion. „Was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Verlust geachtet.“ Paulus war ein Hebräer von Hebräern und lebte nach der strengsten Sekte des Judentums als Pharisäer; das war ein Gewinn für ihn. Nachher aber sagt er: „Ich achte auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, um – derentwillen ich alles eingebüßt habe, und es für Dreck achte, auf dass ich Christus gewinne.“ Es handelt sich hier nicht um Sünde. Wenn der Apostel in Vers 9 von der Gerechtigkeit redet, so stellt er sie nicht den Sünden gegenüber, sondern bringt sie in Gegensatz zur Gerechtigkeit nach dem Gesetz; diese lässt sich leicht erkennen: was sie auch immer tun mag, alles geschieht, um das Ich hervorzuheben. Darin liegt das Verkehrte und Böse; denn wer möchte auch unflätige Kleider tragen (denn so werden unsere Gerechtigkeiten in Jesaja 64,6 genannt), wenn er Christus zu seiner Gerechtigkeit haben könnte? Paulus hatte eins solche Vorstellung von der Vortrefflichkeit dessen, was Christus in den Augen Gottes war – woran Gott seine Wonne fand – dass er sagte: „Ich mag diese elende Gerechtigkeit nicht behalten, noch sie derjenigen beifügen, die von Gott ist.“ Die trügerischen Lüste sind schlecht genug, dieses religiöse Fleisch aber ist noch schlechter. Jene Gerechtigkeit war keine wirkliche, es war das aufgeblähte, nicht das gerichtete Ich; es war das gepflegte und übertünchte Ich. Paulus aber begehrt von dem Ich frei zu sein und stattdessen Christus zu haben.

Das ist der Standpunkt des Apostels, den er jetzt näher entwickelt. Beachten wir es wohl, er sagt nicht: „Als ich bekehrt wurde, achtete ich alles für Verlust.“ Wenn ein Mensch bekehrt wird, so ist Christus alles für ihn; die Welt ist für ihn nur Trug, Eitelkeit und Nichtigkeit; sie verschwindet aus den Gedanken, und die unsichtbaren Dinge erfüllen das Herz. Doch später, wenn dieser Mensch vorangeht, seinen Pflichten obliegt, mit seinen Freunden verkehrt, so wird er – wenn ihm auch Christus stets kostbar ist – nicht fortfahren, alles für Verlust zu achten; oft hat er bloß alles für Verlust geachtet. Paulus hingegen sagt: „ich achte“ und nicht nur „ich habe geachtet.“ Es ist etwas Großes, so sprechen zu können. Christus sollte stets den Platz einnehmen, den Er hatte, als das Heil zuerst unseren Herzen offenbart wurde. Ich möchte hier noch etwas hinzufügen, das mir soeben in den Sinn kommt. Ohne Zweifel ist ein Mensch, der Christus nicht im Grund seines Herzens hat, gar kein Christ; aber selbst da, wo Christus in einem Menschen wohnt und dieser tadellos wandelt, gibt es vielleicht, wenn man von Christus zu ihm redet, kein Echo in seinem Herzen, wiewohl gegen sein Betragen nichts einzuwenden ist. Er mag Christus im Grund des Herzens besitzen und einen schönen christlichen Wandel zur Schau tragen, aber zwischen beiden liegen hunderterlei Dinge, die mit Christus gar nichts zu tun haben; sein Leben fließt in praktischer Beziehung ohne Christus dahin. Doch das ist nicht alles. Die entsetzliche Leichtfertigkeit des Herzens geht ohne Christus voran, bis sie zum Kanal all der unreinen Dinge wird, welche die Welt in die Seele ausschüttet. Jetzt stellt uns Paulus die Kraft vor, die uns befähigt, alle diese Dinge für Verlust zu achten. Er begehrt Christus zu gewinnen, und es scheint, als ob es ein schweres Opfer sei, dafür allem zu entsagen. Allein es verhält sich damit ebenso wie mit dem Spielzeug eines Kindes. Will man es ihm aus der Hand nehmen, so wird es dasselbe nur umso fester halten; bietet man ihm aber ein hübscheres an, so wird es das erstere fahren lassen. Paulus achtete alles für Verlust und Dreck; alles hatte seinen Wert für ihn verloren. Ich weiß wohl, dass wir Versuchungen haben werden, aber neun Zehntel dieser Versuchungen, die unsere Seele locken und hindern, würden gar nicht vorhanden sein, wenn Christus seinen wahren Platz hätte. Gold und Silber und aller Tand dieser Welt würden uns weder anziehen noch zur Versuchung dienen, wenn „die Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu“ ihren Platz in unseren Herzen hätte. Diese Art des Kampfes wäre beendigt. Wir würden dann die Listen Satans kennen und für andere leiden; unser Kampf würde nicht in der Anstrengung bestehen, unseren eigenen Kopf über dem Wasser zu halten, sondern darin, andere vor dem Ertrinken zu bewahren.

Wenn Christus den rechten Platz im Herzen hat, so haben die anderen Dinge ihren Wert verloren. Das Auge ist einfältig und der ganze Leib voll von Licht. Paulus hatte alles eingebüßt, aber er fügte hinzu: „ich achte es für Dreck.“ Er blickte auf Christus, der für ihn ein so kostbarer Gegenstand war, dass er um seinetwillen alles aufgab. Diesen Platz bewahrte er Christus, und er eilte voran, um Ihn zu gewinnen. Er hatte Ihn noch nicht ergriffen, wohl aber war er von Christus ergriffen worden. Er streckte sich aus, um hin zu gelangen, indem er seinen Blick stets auf das Ziel der Reise richtete. Es kommt nicht darauf an, wie der Weg ist – er mag rau sein, doch man blickt auf das Ziel. Es handelt sich hier um zweierlei: Zuerst, dass ich Christus gewinne, und dann, dass ich nicht meine Gerechtigkeit habe. Wenn jemand einen abgetragenen Rock hat und einen neuen bekommt, so wird er sich des alten schämen. So legte Paulus auch keinen Wert mehr auf die Gerechtigkeit, die er früher hatte. Man kann nicht zu gleicher Zeit seine eigene Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit Gottes besitzen; wer diese letztere kennt, will jene nicht mehr, selbst wenn er sie haben könnte. Wie schön sind die Worte, die wir in 1. Korinther 1,30–31 lesen: „Aus Ihm aber seid ihr in Christus Jesus, der uns geworden ist Weisheit von Gott und Gerechtigkeit und Heiligung und Erlösung.“ – Was wir in dem Leben aus Gott sind, das ist Christus von Seiten Gottes für uns. Der Apostel fährt weiter fort: „Zu erkennen Ihn und die Kraft seiner Auferstehung.“ Das Erste war, Christus zu gewinnen, das Zweite, Christus zu kennen. Darin liegt der Sieg über die ganze Macht des Bösen, über den Tod und alles andere. Der Apostel wollte Ihn kennen – seine vollkommene Liebe und sein Leben; er wollte Ihn als Gegenstand vor sich haben, als den, welcher seine Seele, seinen Sinn und sein Herz beschäftigte, und also zu Ihm hinwachsen; er wollte die Kraft seiner Auferstehung kennen, denn alsdann war die ganze Macht Satans vernichtet. Er hatte von der Gerechtigkeit gesprochen, die er in Christus, nicht in sich selbst, noch im Gesetz suchte; und nun begehrte er die Macht des Lebens zu kennen, die ihren Ausdruck in der Auferstehung Christi fand. Nachdem er Christus als eine Person und den Sieg über den Tod kennen gelernt hatte, konnte er den Dienst der Liebe unternehmen, wie Christus es tat, und „die Gemeinschaft seiner Leiden kennen.“ Wie verschieden ist dieses von den Gefühlen der Apostel, wie sie uns in Markus 10 geschildert werden, als Jesus mit ihnen von seinem Tod sprach; sie verstanden nichts von dem, was Er ihnen sagte; „sie entsetzten sich und, indem sie Ihm nachfolgten, fürchteten sie sich“, anstatt sich darüber zu freuen, dass der Tod vor ihnen war. Wer aber die Kraft der Auferstehung kennt, hat den Tod hinter sich; die ganze Macht desselben ist gebrochen. Christus sagt nach seiner Auferstehung: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“ „Geht hin in die ganze Welt, predigt das Evangelium der ganzen Schöpfung;“ „fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten;“ sie haben meinen Leib getötet.

Wenn mir die Kraft der Auferstehung zu Teil geworden ist, so kann ich in Liebe dienen. Paulus sah dem Tod ins Angesicht und sprach nicht in leichtfertiger Weise davon. Satan sagt: „Du willst Christus nachfolgen?“ – „Ja.“ – „Es ist aber der Tod aus deinem Pfad.“ – „Ganz gut; wenn ich durch den Tod gehe, so werde ich Christus nur umso ähnlicher sein.“

Der Apostel hatte gesagt: „Zu erkennen Ihn und die Kraft seiner Auferstehung;“ jetzt fügt er hinzu: „und die Gemeinschaft seiner Leiden, indem ich seinem Tod gleichgestaltet werde, ob ich auf irgendeine Weise hingelangen möge zur Auferstehung aus den Toten.“ Paulus ging so völlig in diese Gesinnung ein, dass er Ausdrücke gebraucht, deren Christus sich hätte bedienen können: „Ich erdulde alles um der Auserwählten willen“ (2. Tim 2,10). Es war alles aus Gnade; es war eine ganz neue Stellung; jeder Anspruch auf Gerechtigkeit war verschwunden, sowie auch das, was Paulus als Mensch war. Christus, als Gerechtigkeit für ihn, trat an dessen Stelle. Und dann wollte er Ihn – Ihn selbst kennen. Das ist der Weg, auf dem man Fortschritte macht. Die Zuneigungen des Herzens sind alsdann in Übung. Wenn ich die Leiden vor mir sehe, finde ich die Kraft seiner Auferstehung und hernach das Vorrecht der Gemeinschaft seiner Leiden. Paulus hatte dabei ein großes Teil, wir ein kleines. Er sagt: „Ob ich auf irgendeine Weise hingelangen möge zur Auferstehung aus den Toten“, oder mit anderen Worten: „Koste es, was es wolle, mag selbst der Tod auf meinem Weg seines ist mir ganz recht, ich werde das erreichen, was Er erreicht hat – die Auferstehung aus den Toten.“

Dieser Ausdruck „Auferstehung aus den Toten“ ist an dieser Stelle im Grundtext ein ganz besonderes Wort, das man sehr selten, und im Neuen Testamente nur hier findet. Diese „Auferstehung aus den Toten“ ist eine Wahrheit von unendlicher Tragweite. Christus ist der Erstling (1. Kor 15,20–23), selbstredend nicht von den gestorbenen Gottlosen. Gott hat Ihn aus den Toten auferweckt, weil Er in Ihm seine ganze Wonne fand, wegen seiner vollkommenen Gerechtigkeit und weil Er Gott verherrlicht hatte. Ebenso ist es in Bezug auf uns. Die Auferstehung ist der Ausdruck des Wohlgefallens Gottes an denen, welche auferweckt werden; sie ist das Siegel, welches Gott auf das Werk Christi drückt. Christus war der Sohn, an dem Gott seine Wonne hatte, und jetzt sind auch wir um seinetwillen Gegenstände derselben Wonne Gottes. Was Christus betrifft, so war seine eigene Vollkommenheit die Ursache dieser Wonne; wir erfreuen uns ihrer um seinetwillen. Gott erscheint in Macht, um die Seinen aus der Mitte der Toten herauszunehmen, während die Übrigen zurückgelassen werden. „Aus den Toten“, – die ganze Kraft des Ausdrucks liegt in dem Wörtchen „aus.“ Nach der Verklärung auf dem Berg gebot der Herr seinen Jüngern, niemandem zu erzählen, was sie gesehen, außer wenn der Sohn des Menschen „aus den Toten“ auferstanden sei (Mk 9). „Und sie behielten das Wort für sich und befragten sich untereinander: was ist das: auferstehen aus den Toten?“ Es war dies „Auferstehen aus den Toten“, was die Jünger so befremdete. Als Christus im Grab war, trat Gott in Macht dazwischen, weckte Ihn auf und setzte Ihn zu seiner Rechten, und wenn die Zeit gekommen ist, wird Er auch seine Heiligen auferwecken. Diese Auferstehung ist ein unendlich herrlicher Akt der göttlichen Macht, denn die göttliche Gerechtigkeit zeigt sich darin. Es ist nicht eine allgemeine Auferstehung. Das 15. Kapitel des 1. Briefes an die Korinther bezieht sich nur auf die Heiligen; denn die Gottlosen werden nicht in Herrlichkeit auferweckt werden. Ich kenne kaum etwas, das der Kirche mehr geschadet hätte, als der Begriff einer allgemeinen Auferstehung. Wenn alle Toten Zugleich auferstehen, so ist die Frage der Gerechtigkeit nicht erledigt; aber die Schrift sagt uns: „Wenn aber der Geist dessen, der Jesus aus den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird Er, der Christus aus den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen wegen seines in euch wohnenden Geistes“ (Röm 8,11). Ihrem ganzen Charakter, ihrer Natur, ihrer Bedeutung und ihrem Zweck nach ist diese Auferstehung eine ganz besondere Sache; es ist die Auferstehung „aus den Toten“ (vgl. Lk 20,27–36; 14,14; Joh 5,28; Off 20,4–6; 11–15). Dieses „aus“ ist der Ausdruck der göttlichen Wonne an dem, der auferweckt wird; um ihretwillen werden wir alle auferweckt, anders hätte der Ausdruck „hingelangen“, den wir im vorliegenden Kapitel finden, keinen Sinn. Paulus sagt: „Ob ich auf irgendeine Weise“ – selbst wenn es mir das Leben kosten sollte – „hingelangen möge.“ „Auf dass ich Christus gewinne“, ist die erste Sache. Ich werde Ihn gewinnen am Ende der Laufbahn; aber es gibt auch eine gegenwärtige Sache, nämlich: „Ihn zu erkennen.“ Man hat gefragt, ob diese Worte eine gegenwärtige Wirkung ausdrücken oder auf die zukünftige Herrlichkeit Bezug haben. Ich denke, es ist eine gegenwärtige Wirkung, hervorgerufen durch die zukünftige Herrlichkeit.

„Brüder, ich halte mich selbst nicht dafür, es ergriffen zu haben; eins aber tue ich, vergessend, was dahinten, und mich ausstreckend nach dem, was da vorne ist, jage ich, das vorgesteckte Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus.“ Wir sehen hier die unmittelbare Verbindung des Gegenstandes mit der gegenwärtigen Wirkung. Paulus wünschte, Christus jetzt ähnlich zu sein, nicht nur wenn sein Leib im Grab und sein Geist im Paradies sein würde. Sollte er sterben, so wusste er, dass er Ihm dann gleich sein würde; doch das, was er für jetzt suchte, war nicht, dem Bild des Sohnes Gottes in der Herrlichkeit gleichförmig zu sein. Sicher sollte ihm dieses zu Teil werden; aber ich werde nicht eher dahin gelangen, bis Christus kommt und die Toten auferweckt. Darauf warte ich; ich bin mir bewusst, dass ich es hier nie erreichen werde, aber ich warte darauf, und so werde ich Christus von Tag zu Tage ähnlicher, indem ich in der Kraft der Liebe leide, in welcher Er dem Vater gedient hat; und dadurch, dass mein Blick auf Christus in der Herrlichkeit gerichtet ist, werde ich innerlich immer mehr in sein Bild verwandelt (1. Kor 3,18). Die einzige Sache, die mich beschäftigt, ist, Ihm in der Herrlichkeit gleich zu sein und bei Ihm, da wo Er ist.

Das ganze Leben des Paulus war hierauf gegründet und völlig dadurch gebildet. Der Sohn Gottes bildete Tag für Tag seine Seele, und Paulus eilte unaufhörlich zu Ihm hin; nie tat er etwas anderes. Nicht nur als Apostel, sondern auch als Christ ging Paulus in die Gemeinschaft der Leiden Christi und in die Gleichförmigkeit seines Todes ein, und jeder Christ sollte dasselbe tun. Du magst zu mir sagen: „Ich habe Vergebung meiner Sünden.“ Allein ich frage dich: „Was leitet jetzt dein Herz? Ruht dein Auge auf Christus in der Herrlichkeit? Steht die Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu so vor deiner Seele, dass sie alles andere beherrscht und dich alles, was auf dem Weg ist, als Verlust achten lässt? Bist du dahingelangt? Hat diese vortreffliche Erkenntnis alles andere verbannt? Ich frage nicht, ob du äußerlich tadellos wandelst und sagen kannst: Ich liebe Christus, sondern ob der Gedanke an Christus in der Herrlichkeit alle anderen Dinge verbannt hat. Wenn dieses der Fall ist, so wirst du durch die täglichen, nichtigen Dinge sicher nicht geleitet werden.“ Ein Arbeiter, der eine Familie hat, wird über seiner Arbeit gewiss nicht die Liebe zu seinen Kindern vergessen: im Gegenteil, wenn seine Arbeit vollendet ist, legt er sein Werkzeug bei Seite und kehrt umso freudiger heim, weil er von den Seinen getrennt war. Seine Arbeit hat die Liebe seines Herzens weder gehindert noch geschwächt.

Es gibt aber noch eine andere Gefahr, über die wir zu wachen haben, damit wir in unseren täglichen Verrichtungen Christus gemäß handeln, nämlich die Zerstreuungen. Über diese haben wir ebenso sehr zu wachen, wie über die Gegenstände, die uns zu beeinflussen suchen, unser Herz muss stets von einer eifersüchtigen Liebe für Christus erfüllt sein, sonst tritt augenblickliche Schwachheit ein, und wir haben alsdann, wenn wir in die Gegenwart Gottes kommen, unser Gewissen zurecht zu weisen, anstatt uns in dem Herrn erfreuen zu können. Es ist wirklich sehr traurig, wenn unser Wandel in der Welt der Art ist, dass wir bei unserer Rückkehr zu Christus bekennen müssen: wir haben an Ihn darin nicht gedacht. Können wir sagen, wie Paulus zu Agrippa: „Ich wollte zu Gott, dass über kurz oder lang nicht nur du, sondern auch alle, die mich heute hören, solche würden, wie ich bin?“ Sind wir glücklich genug, umso sprechen zu können? Freuen wir uns so sehr in dem Herrn und sehen wir eine solche Vortrefflichkeit in seiner Erkenntnis, dass wir sagen können: „Ich wollte zu Gott, ihr wärt alle wie ich?“ Das Bekenntnis unserer Herzen darf nicht nur sein: „Ich habe geachtet.“ sondern: „ich achte.“ Achten unsere Herzen in diesem Augenblick wirklich alles für Verlust? Wir haben über zwei Dinge zu wachen: dass wir außer Christus keinen anderen Gegenstand haben, und dann, dass wir nicht, was noch weit gefährlicher ist, durch Zerstreuungen von Ihm abgewandt werden. Der Herr möge unsere Augen mit Augensalbe salben, damit wir Ihn so sehen, dass unsere Herzen von anderen Dingen abgezogen werden und keinen anderen Gegenstand vor sich haben, als Ihn allein. Vielleicht müssen wir das Kreuz auf uns nehmen: doch wenn dies der Fall ist, so leiden wir nicht nur, sondern wir leiden stets mit Ihm, wenn auch nicht immer gerade für Ihn. Unser Weg führt durch eine Welt, die sich um Christus nicht kümmert; möchte daher unser Auge so fest auf Ihn gerichtet sein, dass wir Ihn als ein Heiligtum haben, als die Kraft und die Energie, die uns hindurchführt. Der Herr gebe – und es ist sein Wohlgefallen, uns zu geben – dass wir sagen können: „eins tue ich;“ Er gebe uns aufrichtige und eifrige Herzen! (Fortsetzung folgt)

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