Botschafter des Heils in Christo 1878

Die Vollkommenheit - Teil 1/4

In diesen letzten Tagen begegnet man in vielen Seelen dem ernsten Wunsch nach einer zunehmenden Heiligkeit; und gewiss, inmitten des Verfalls um uns her und der allgemein vorherrschenden Kalte der Herzen, müssen dieser Wunsch und dieses Streben, in der Heiligkeit zu wachsen und sich Gott zu widmen, auf alle mögliche, gottgemäße Weise gefördert werden. Dies ist der Zweck, den ich mir beim Niederschreiben einiger Gedanken über diesen Gegenstand vorsetze. Mögen diese Zeilen jeder geängstigten Seele zu Hilfe kommen und für keine zu irgendwelchem Hindernis werden!

Wir begegnen zunächst einer Frage, die manches Herz niederdrückt. Wie kommt es, dass eine große Zahl derer, welche die Heiligkeit des Herzens bekennen oder aufrichtig suchen, so schmerzlich entmutigt und getäuscht worden sind, und dass viele von ihnen, indem sie daran verzweifelten, jemals dahin zu gelangen, beinahe ganz aufgehört haben, ihr nachzustreben? Nicht wenige, welche die Heiligkeit bekannt haben oder noch bekennen, hört man fragen: Woher kommt es, dass sich so wenig Fortschritte zeigen? Man besucht Konferenzen und Versammlungen, man Hort Predigten, welche die Heiligkeit zum Gegenstand haben, und dennoch muss man mit Schmerz erkennen, dass man nur wenig oder gar nicht vorwärtskommt. Welches ist die Ursache? Ich hoffe, dass der Herr mich befähigen wird, diese Fragen zu beantworten. Er allem vermag es zu tun. Es ist von höchster Wichtigkeit, dass wir alle Stellen der Schrift, die von diesem Gegenstand reden, wohl verstehen. Der Herr Jesus hat gesagt: „Der aber auf die gute Erde gesät ist, dieser ist es, der das Wort hört und versteht, der wirklich Frucht bringt; und der Eine trägt hundert–, der Andere sechzig–, der Andere dreißigfältig“ (Mt 13,23). Es gibt daher keine Schwierigkeit hinsichtlich der Wahrheit, dass jeder Fortschritt und jede wirkliche Frucht die Folge einer angemessenen Annahme und einer richtigen Erkenntnis des Wortes Gottes sind. Wird dies aber von uns genügsam beachtet? Nehmen wir z. B. die wenigen Worte: „Lasst uns fortfahren zum vollen Wüchse.“ 1 (Heb 6,1) Wer sind die Personen, an welche sie gerichtet wurden 2 Woher kamen sie, und welches ist die Vollkommenheit, nach der sie vorwärts zu schreiten hatten? Man hat vielleicht diesen Text angewandt und angeführt, als wenn er alle Christen angehe und bedeute, dass wir vorwärtsschreiten sollen, indem wir das Fleisch kreuzigen oder töten – sei es nach und nach, oder sei es auf einmal durch einen Akt des Glaubens – um die innere Reinheit zu erlangen. Auf die eine oder andere Weise ist diese vollkommene, innere Reinheit für manche die Vollkommenheit, von welcher hier die Rede ist. Ich werde jedoch auf die Frage der Kreuzigung oder Tötung des Fleisches für jetzt nicht weiter eingehen, sondern mich vielmehr mit der vorhin erwähnten Schriftstelle beschäftigen.

Nehmen wir der Brief an die Hebräer zur Hand, aus welcher obige Worte entnommen sind, und erforschen wir sorgfältig, was sie sagen wollen. Es ist eine bekannte Tatsache, dass die ganze Brief an Hebräer oder Juden, die das Christentum bekannten, gerichtet war. In Apostelgeschichte 21,30 wird von den Juden zu Jerusalem, die geglaubt hatten, gesagt: „Alle sind Eiferer des Gesetzes“, und nach unserem Brief gab es solche, die „im Hören träge geworden“ waren. „Denn“, fahrt der Apostel fort, „da ihr der Zeit nach Lehrer sein solltet, bedürft ihr wiederum, dass man euch lehre, welches die Elemente des Anfangs der Aussprüche Gottes sind; und ihr seid solche geworden, die der Milch bedürfen und nicht der festen Speise. Denn ein jeglicher, der der Milch teilhaftig wird, ist unerfahren im Wort der Gerechtigkeit, denn er ist ein Unmündiger; die feste Speise aber gehört den Erwachsenen“ (den Vollkommenen) (Heb 5,11–14). Wir müssen diese Worte wohl beachten und uns stets daran erinnern, dass die Personen, an welche sie besonders gerichtet wurden, Juden waren, die Christen zu sein bekannten, die aber hinsichtlich der vollkommenen Lehre Christi Unmündige waren.

Die Parteiungen und Sekten verfolgen dieselbe traurige Richtung, (oder selbst eine noch schlimmere) nämlich uns fleischlich oder wie Unmündige bleiben zu lassen. So konnte Paulus zu den Korinthern nicht als zu Vollkommenen, sondern „als zu Fleischlichen, als zu Unmündigen in Christus“ reden (Siehe 1. Kor 2,6; 3,1–3). Wollen wir daher den Gegenstand, der uns beschäftigt, wohl verstehen, so müssen wir uns vor jenen feierlichen Warnungen beugen und sie in unseren Herzen erwägen. Waren sie nur an gläubige Juden, die in großer Gefahr waren, zum Judentum zurückzukehren, oder an die Korinther, die sich von dem Parteigeist hinreißen ließen, gerichtet? Zeigt sich uns die große Masse der Christen gegenwärtig nicht als jeder Art von Parteiung überlassen, und gibt es nicht eine Menge, die das Christentum bekennen, die aber zum Judentum zurückkehren oder zurückgekehrt sind, indem sie sich an Formen und Zeremonien hängen? Ach, leider ist dies nur zu wahr.

Diese Stimme: „Lasst uns fortfahren zum vollen Wuchs“, spricht daher ebenso wohl zu uns, als zu den damals lebenden Christen. Der ganze Brief an die Hebräer beschäftigt sich vornehmlich mit diesem Gegenstand: das zu verlassen, was nicht zur Vollkommenheit führt, und sich zu dem zu wenden, was für immer vollkommen macht.

Die Wege Gottes sind nicht unsere Wege. Gewöhnlich blickt man in sich selbst, um die Vollkommenheit zu finden, um zu sehen, ob man dahingelangt ist. Gott aber belehrt uns in diesem Brief über das Vorwärtsschreiten nicht also. Ich räume ein, dass es die Absicht und der Gegenstand des Briefes ist, zur Vollkommenheit zu führen und diejenigen, die noch Unmündige sind, dahin zu bringen. Wodurch aber wird dies geschehen. Zunächst dadurch, dass wir den, der vollkommen ist, vor uns stellen. Ja, der Weg Gottes ist ungemein einfach. „Das Gesetz hat nichts zur Vollendung gebracht“, sondern alle Vollkommenheit findet sich in Christus. Er ist vollkommen, und durch Ihn beginnt Gott.

Das erste Kapitel enthüllt vor unseren Augen die Herrlichkeiten des Sohnes Gottes. In seiner Gnade und zärtlichen Liebe hatte Gott mit Geduld die Versammlung zu Jerusalem getragen. Er wusste, wie schwer es den Juden fiel, alles, was sichtbar war, zu verlassen. Der prächtige Tempel, wo sie noch anbeteten, ihre Opfer und gottesdienstlichen Gebräuche, das alte Hohepriesteramt – alle diese Dinge übten eine große Macht auf sie aus. Und dazu mussten sie die Herrschaft ihres Messias verschoben (Apg 3,19–21) und für eine Zeit lang jede irdische Verheißung bei Seite gesetzt sehen. Außerdem war der Gottesdienst der Kirche oder Versammlung im Anfang ein rein geistlicher. Es gab für sie keinen besonderen Ort der Anbetung auf der Erde, keine vom Volk unterschiedlichen Priester, überhaupt nichts, worauf das Auge des natürlichen Menschen verweilen konnte. Jesus selbst war gen Himmel gefahren. Bald nachher kamen die römischen Heere, zerstörten den Tempel und verwüsteten Jerusalem; nach einem schrecklichen Blutbad der verworfenen Juden zerstreute sich der Rest unter die Nationen. Dies alles war vor den Augen Gottes. Er bewies sich daher in vollkommener Gnade gegen die gläubigen Juden, indem Er ihnen diesen Brief sandte, die bestimmt war, sie von den Schatten hinweg zu dem Körper, welcher Christus ist, hinzuführen (Kol 2,17).

Die Zerstörung Jerusalems war nahe, sie wussten es nicht, aber Gott wusste es. Die Vernichtung Babylons, der großen Abtrünnigen, ist gleichfalls nahe; wenn es die Menschen auch nicht wissen, so weiß es doch Gott (1. Thes 2,3; Off 17,18), und in seiner Liebe für uns will Er uns aus einer judaisierenden Christenheit, die nichts zur Vollendung bringt, herausnehmen, um uns zu dem hinzuführen, der vollkommen ist in seiner Person, sowie zu dem vollkommenen Werk, das Er für immer vollbracht hat.

Es ist absichtlich und dem allgemeinen Zweck dieser Brief entsprechend, dass der Verfasser derselben nicht genannt ist. Gott spricht, und der Schreiber stellt sich mit dem gläubigen Überrest Israels auf ein und denselben Boden. Gott, der ehemals in den Propheten geredet, spricht jetzt oder hat zu uns gesprochen im Sohn, den Er zum Erben, nicht nur Palästinas, sondern aller Dinge gesetzt, durch den Er auch „die Welten gemacht“ hat. Herrlichkeit um Herrlichkeit ziehen, als dem Sohn gehörend, so an unseren Augen vorüber. Er ist nicht gemacht worden, sondern Er ist „der Abglanz der Herrlichkeit Gottes und der Abdruck seines Wesens“; Er erhält „alle Dinge durch das Wort seiner Macht.“

Dann folgt eine noch vortrefflichere Herrlichkeit des Sohnes Gottes: „Nachdem Er durch sich selbst die Reinigung der Sünden gemacht, hat Er sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe.“ In dem Brief an die Epheser zeigt uns der Apostel Issum als den, welchen Gott aus den Toten auferweckt und gesetzt hat zu seiner Rechten in den himmlischen Örtern über jedes Fürstentum und jede Gewalt und Kraft, als Haupt seines Leibes, welcher die Versammlung ist (Kap 1,30–33). Hier aber ist Er in seinem Recht als Sohn, nachdem Er dieses glorreiche Werk – die Sühnung der Sünden – in der Herrlichkeit seiner eigenen Person vollbracht hatte, in die Himmel eingegangen und hat sich dort gesetzt. Wie unendlich weit überstieg dies alles, was die Juden herrliches erwarten konnten. Ihr Messias hatte sich nicht in den Tempel gesetzt, sondern in den Himmel zur Rechten der Majestät in der Höhe.

Aber, wird man fragen, was haben alle diese Herrlichkeiten mit unserer Vollkommenheit oder mit dem „Fortfahren zum vollen Wüchse“ zu tun? Sehr viel, antworte ich. Es ist dies zwar nicht der Weg des Menschen; der Mensch würde beständig mit sich selbst beschäftigt sein, aber Gott entfaltet die Herrlichkeiten des Sohnes – die Herrlichkeiten dessen, der vollkommen ist, und „wir alle, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit als durch den Herrn, den Geist“ (2. Kor 3,16).

Möge Gott uns befähigen, die Herrlichkeiten seines Sohnes, die Er vor unseren Augen entfaltet, in dieser Weise anzuschauen! Die Juden erinnerten mit Recht daran, dass ihre Vater von Engeln besucht worden seien; sie priesen ihren Dienst und hatten vor diesen himmlischen Wesen große Ehrfurcht. Aber welch einen erhabenen Kontrast bildet der Sohn zu allen geschaffenen Wesen! Alle Engel müssen Ihn anbeten; alle sind seine Diener. Was Ihn betrifft, so ist Er wahrhaftig Gott; denn es steht geschrieben: „Dein Thron, o Gott, ist in das Zeitalter des Zeitalters.“ Zugleich ist Er wahrhaftiger Mensch: „Du hast Gerechtigkeit geliebt und Gesetzlosigkeit gehasst, darum hat dich Gott, dein Gott, gesalbt mit Öl des Frohlockens über deine Genossen.“

Welch wunderbare Gnade, mit dieser glorreichen Person, dem Genossen Jehovas (Sach 13,7), in Verbindung gebracht zu sein! Er nimmt die schwache, kleine Herde in Besitz, und in seiner Auferstehung erkennt Er diejenigen, aus denen sie besteht, als seine eigenen Genossen an (Siehe Joh 20,17). Welch eine vollkommene Güte! Welch kostbare Gnade! Und dies ist eine so wahrhaftige Tatsache, dass die Engel, die seine Diener sind, auch uns dienen, wie am Ende des 1. Kapitels geschrieben steht. O, möchte dieser Gedanke unsere Herzen erfüllen! Während wir unsere mühsame Reise verfolgen, begleiten diese heiligen Wesen, die seinen Willen tun, unsere Schritte, und sein Wille ist, dass sie uns dienen.

Im zweiten Kapitel finden wir zunächst feierliche, an die hebräischen Christen gerichtete Warnungen, dass sie nicht eine so große Errettung vernachlässigen mochten. Dann wird uns die Autorität der Worte des Herrn Jesus dargestellt. Diese sind bestätigt worden durch die Apostel welche sie gehört hatten, und Gott zeugte mit ihnen durch mancherlei Zeichen und Wunder. Hierauf wird Jesus wiederum im Gegensatz zu den Engeln dargestellt: nicht Engeln hat Er den zukünftigen Erdkreis unterworfen, sondern Ihm, als dem Sohn des Menschen. Wir sehen noch nicht alles unter seine Herrschaft gestellt, „wir sehen aber Jesus.“ Betrachten wir dieses herrliche Angesicht. Derjenige, der den Tod erduldet, der während seines Lebens hienieden gelitten hat – Ihn sehen wir dort, mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt, vollendet als der Anführer unserer Errettung. Und indem Er viele Söhne zur Herrlichkeit bringt, stellt Er sie als eins mit sich selbst Gott dar. „Denn sowohl der, welcher heiligt, als auch die, welche geheiligt werden, sind alle von einem, um welcher Ursache willen Er sich nicht schämt, sie Brüder zu nennen“ (V 11). Welche Freude für unseren erhabenen Erlöser, zu sagen: „Ich will deinen Namen kundtun meinen Brüdern, inmitten der Versammlung will ich dir lobsingen!“ Und wiederum sagt Jesus: „Siehe, ich und die Kinder, die Gott mir gegeben hat.“ Und auf diese Weise ist Er als unser barmherziger und treuer Hohepriester eingeführt. Er hat sich nicht der Engel angenommen, um sie zu Gott zu führen, sondern des Samens Abrahams.

Alles dieses ist ohne Zweifel besonders an die Gläubigen aus der Nachkommenschaft Abrahams gerichtet, aber es ist gewiss nicht weniger für uns in diesen letzten Tagen voll der tiefsten Belehrung.

Man wird vielleicht nochmals fragen: Aber was hat denn dies alles mit der christlichen Vollkommenheit zu tun? Es ist völlig verschieden von dem, was ich je über diesen Gegenstand gelesen habe. Das mag sein, aber diese Brief ist die Abhandlung Gottes über die Vollkommenheit. In Wahrheit: „Seine Wege sind nicht unsere Wege, und seine Gedanken nicht unsere Gedanken.“ Unsere Gedanken über die Vollkommenheit würden uns unvermeidlich zu der undankbaren Aufgabe führen, uns selbst zu betrachten. Nicht so dieser Brief, und nicht so die Gedanken Gottes. Er stellt uns seinen Sohn in der Herrlichkeit vor und lässt uns zurufen: „Daher, heilige Brüder, Genossen der himmlischen Berufung, betrachtet den Apostel und den Hohepriester unseres Bekenntnisses, Jesus.“ Blicken wir auf uns selbst, beschäftigen wir uns mit uns selbst, so werden wir unfehlbar Dürftigkeit und geistliche Armut entdecken. Vergleichen wir uns mit anderen, so mangelt es uns an Weisheit. Begehren wir aber, in der Gnade, in der Heiligkeit und Gleichförmigkeit mit Christus zu wachsen, so lasst uns Jesus betrachten, wie Ihn Gott vor uns hinstellt. Das was uns nötig ist, ist ein ernsteres Erforschen des Wortes mit vielem Gebet und einer völligen Unterwerfung unter das, was es uns sagt.

Danach folgen in der uns beschäftigenden Brief feierliche Warnungen vor dem Unglauben, und am Ende des 4. Kapitels nochmals die Herrlichkeiten unseres großen Hohepriesters, der in die Himmel eingegangen ist, Jesu, des Sohnes Gottes. Dies führt den Geist Gottes dahin, zu zeigen, welches die Stellung dieser Hebräer ist, die Christen zu sein bekannten. Sie waren nicht fortgefahren zum vollen Wüchse. Sie waren hinsichtlich der göttlichen Wahrheit Unmündige, die Neigung hatten, zu den Verordnungen des Gesetzes zurückzukehren. Ist ihre Stellung nicht ein trauriges Bild von der der Christenheit unserer Tage? 2.: Die Personen, von denen im 6. Kapitel die Rede ist, sind Hebräer, die Gläubige zu sein bekannten, und der Schreiber der Brief stellt sich mit ihnen auf ein und denselben Boden. Er behält alle die Herrlichkeiten und die Vollkommenheit des Sohnes Gottes im Auge und sagt: „Deshalb, das Wort von dem Anfang des Christus lassend, lasst uns fortfahren zum vollen Wüchse.“ Dies würde man nicht zu solchen haben sagen können, die ihren vollen Wuchs erreicht hatten, d. h. vollkommen waren. Wohin hätten diejenigen, welche das Judentum völlig verlassen hatten oder davon ausgegangen waren, um sich zu Christus zu wenden, gehen können, wenn nicht zu Ihn? Im Judentum wiederholte man fortwährend die nämlichen Dinge, weil in demselben nichts zur Vollendung gebracht wurde. In Christus ist alles göttlich vollendet, und in Folge dessen kann es nicht wiederholt werden. Deshalb lesen wir: „Und nicht wiederum einen Grund legen mit der Buße von toten Werken und dem Glauben an Gott.“ Wenn ein ehemaliger Jude gesündigt hatte, so gab es für ihn die Buße und dann das Blut von Stieren und Bocken; bei jeder begangenen Sünde musste er immer wieder von neuem beginnen. „Wie viel mehr wird das Blut des Christus, der durch den ewigen Geist sich selbst ohne Flecken Gott geopfert hat, euer Gewissen reinigen von toten Werken, um dem lebendigen Gott zu dienen.“ Die Buße eines Juden führte diesen nie in die Gegenwart Gottes. Der Weg zum Allerheiligsten war nicht geöffnet, so dass der Israelit stets draußen bleiben musste. Das war der Platz des Anbeters vor dem Tod Christi. Als aber Christus gekommen war, „verkündigte Er Frieden – euch den Fernen und Frieden den Nahen. Denn durch Ihn haben wir beide den Zugang durch einen Geist zu dem Vater“ (Eph 2,18). „Da wir nun, Brüder, Freimütigkeit haben zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu, den neuen und lebendigen Weg, den Er uns eingeweiht hat durch den Vorhang, das ist sein Fleisch, und einen großen Priester über das Haus Gottes, so lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in voller Gewissheit des Glaubens, die Herzen besprengt und also gereinigt vom bösen Gewissen, und den Leib gewaschen mit reinem Wasser“ (Heb 10,19–22). Ist das nicht ein auffallender Gegensatz?

Ebenso verhält es sich mit „dem Glauben an Gott.“ Wie lebendig auch der Glaube eines Juden an den verheißenen Messias sein mochte, so war er doch unendlich Verschieden von dem, was jetzt der Glaube an Gott ist, durch den wir wissen, dass Er seinen Sohn gesandt, dass wir die Erlösung durch sein Blut und die Vergebung unserer Sünden haben! Sicher, von diesem Glauben zurückkehren zu dem, welchen ein Jude haben konnte, ehe Christus gestorben und auferweckt war, hieße leugnen, dass Jesus im Fleisch gekommen ist.

Wir lesen ferner von „der Lehre von Waschungen und dem Händeauflegen.“ Diese Reinigungen des Körpers im Fall des Aussatzes oder der Befleckung waren früher von Gott verordnet und sind als Vorbilder und Schatten auch jetzt noch köstlich zu betrachten. Hatte z. B. ein Jude gesündigt, so legte er seine Hand auf den Kopf des Opfers und bekannte seine Sünde. Dies bezeichnete die völlige Einsmachung des Opfernden mit seinem Opfer. Die Sünde wurde dem dargebrachten Tier zugerechnet; dieses wurde getötet, und der Jude erlangte die Vergehung. Es war dies an seinem Platz von hohem Wert; es war das Wort von dem Anfang des Christus. Wollte man aber jetzt nach seinem Tod, dem Tod des einzigen Opfers für die Sünden, zu jenen Opfern und zu jenem Händeauflegen zurückkehren, so hieße das den Wert des Blutes Christi verkennen und es gleichsam mit Füßen treten.

Wir kommen jetzt zu „der Auferstehung der Toten und dem ewigen Gericht.“ Es ist dies ein wichtiger Punkt der Wahrheit. Nach dem Geschichtsschreiber Josephus, wie auch nach den Worten Martas (Joh 11,24): „Ich weiß, dass er auferstehen wird in der Auferstehung am letzten Tage“, wurde von den Juden zu jener Zeit die Lehre festgehalten, dass alle Menschen sterben müssten, dass eine allgemeine und gleichzeitige Auferstehung aller Toten stattfinden und dass alle vor den Thron Gottes gebracht werden würden, um da nach ihren Werken gerichtet zu werden, und dass das Urteil des Gerichts ein ewiges sei. Diese Lehre ist auch die der Mohammedaner und der römischen, griechischen und protestantischen Kirche. Aber es ist nicht die vollständige Wahrheit, es ist nur der Anfang derselben. Der Tod wie die Auferstehung der Toten ist eine Wirklichkeit. Dies sind Tatsachen und, mit den Lehren der menschlichen Philosophie verglichen, große Wahrheiten. Aber die vollkommene oder vollständige Wahrheit ist die Auferstehung aus den Toten. „Und ebenso wie es den Menschen gesetzt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht, also wird auch der Christus, einmal geopfert, um vieler Sünden zu tragen, zum zweiten Mal ohne Sünde erscheinen denen, die Ihn erwarten zur Seligkeit“ (Heb 9,27–28). Mehrere andere Stellen bestätigen diese Tatsache. Es werden wenigstens 1000 Jahre zwischen der ersten und zweiten Auferstehung verstießen (Off 20). Und was das Gericht anlangt, so ist die Grundwahrheit, die darin eingeschlossen ist, von höchster Wichtigkeit. Wenn alle ins Gericht kommen, so werden auch alle verdammt werden, denn alle sind schuldig. Hieraus erhellt der unermessliche Wert der klaren und vollkommenen Wahrheit in Bezug auf diesen Punkt. Wenn ich vor Gott erscheinen muss, um gerichtet zu werden, so bin ich verloren. Aber Christus ist geopfert worden, um meine Sünden zu tragen. Er ist auf dem Kreuz als mein Stellvertreter gerichtet worden. Meine Sünden, alle meine Sünden sind auf Ihn gelegt worden. Das ist es gerade, was den großen Unterschied ausmacht. Mein Stellvertreter, der meine Sünden auf sich genommen, hat das Gericht auf dem Kreuz erduldet, und ich werde nicht ins Gericht kommen; diejenigen aber, die Christus verwerfen, werden vor dem großen, weißen Thron gerichtet werden. Es muss notwendigerweise ein Gericht über die Sünde erfolgen und dieses muss entweder in der Vergangenheit stattgefunden haben oder noch in der Zukunft stattfinden. Gott sei Dank, dass nicht beides Zugleich der Fall sein kann. „Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tod in das Leben hinübergegangen“ (Joh 5,24). Das sind für den Gläubigen die drei göttlichen Wirklichkeiten, die durch den Mund des Erlösers selbst bestätigt worden sind.

Somit ist die Lehre, dass alle Menschen sterben müssen, und dass alle Toten auferstehen und einem allgemeinen, zukünftigen Gericht anheimfallen, nur der erste Anfangsgrund, nicht aber die vollkommene christliche Wahrheit. Ein Christus, der – wenigstens 1000 Jahre vor dem Gericht vor dem weißen Thron – für diejenigen, welche Ihn erwarten, (ohne Sünde zur Seligkeit, da Er ihre Sünden getragen hat) kommt, ist die vollständige Wahrheit – mit anderen Worten: die Vollkommenheit. Es ist die gesegnete Hoffnung, an der alle Gläubigen festhielten, bevor die bekennende Kirche zum Judentum zurückkehrte. Und in Bezug hierauf ermahnt der Apostel: „Lasst uns fortfahren zum vollen Wüchse.“ Möge der Herr durch seinen Geist einem jeden Leser dieser Zeilen geben, seins in folgenden Stellen enthaltenen Gedanken zu verstehen: Johannes 14,1–3; Römer 3,23; 1. Korinther 1,7–8; 15,21.23.51–52; Philipper 3,20–21; Kolosser 3,4; 1. Thessalonicher 1,10; 2,19; 3,13; 4,13–18; 5,23; 2. Thessalonicher 2,1; Titus 2,12–13; Offenbarung 20,5–12.

Dieses köstliche Vorrecht aber, bei der Ankunft Christi aus den Toten auferweckt, oder, wenn man in jenem Augenblick noch lebend auf der Erde weilt, verwandelt zu werden und Ihm gleichgemacht zu sein – im Gegensatz zu den übrigen der Menschen, die während der 1000 Jahre in ihren Gräbern verbleiben, und die nur zum Gericht auferstehen werden – ja, dieses Vorrecht zeigt den unendlichen Wert der Versöhnung, die allen zu Teil wird, die an Christus glauben. Zu der Lehre einer allgemeinen Auferstehung der Toten und einem allgemeinen Gericht zurückkehren – was, wie ich nicht zweifle, aus Unwissenheit geschieht – heißt daher nichts anders, als den Wert des Todes Christi herabwürdigen oder verringern.

Denken wir nicht, dass die Schrift mit sich selbst im Widerspruch stehe. Niemals ist dies der Fall. „Ich dachte“, wird vielleicht jemand sagen, „dass Matthäus 25,31–46 bestimmt die allgemeine Auferstehung aller Toten lehre, und dass dort alle, sowohl Schafe als Böcke, zusammen vor dem Thron des Gerichts stehen.“ Mit welcher Nachlässigkeit lesen wir nur zu oft die Schrift! Ich vermag kaum zu sagen, wie sehr ich überrascht war, als ich bemerkte, dass diese feierliche Stelle nicht von allen Toten, als vor diesem Gericht stehend, spricht, sondern dass überhaupt gar nicht von den Toten die Rede ist. Es sind die Nationen, welche auf dieser Erde leben, wenn Jesus kommen wird, um zu herrschen, und welche gerichtet werden, je nach dem sie das Zeugnis des jüdischen Überrestes aufgenommen und gegen denselben davon Gebrauch gemacht haben. Aber werden wir nicht alle vor dem Richterstuhl Christi offenbart und wird nicht unsere Arbeit und unser Dienst geprüft werden? Ganz gewiss, und dies ist eine sehr köstliche Wahrheit. Aber ist es dasselbe, als unserer Sünden wegen gerichtet zu werden? Sicher nicht. Erforschen wir die Schrift, indem wir alle Hindernisse, die uns abhalten, zu der Vollkommenheit fortzuschreiten, bei Seite lassen. Die Christen stellen sich nicht vor, bis zu welchem Punkt sie rückwärts geschritten oder vielmehr, wie wenig sie zur Vollkommenheit vorwärtsgeschritten sind.

Verlieren wir nicht aus dem Auge, dass viele von denen, an welche der Brief gerichtet ist und die das Christentum bekannten, in großer Gefahr waren, ins Judentum zurückzufallen. Die Klasse von Personen, von welchen hier gesagt wird, dass sie „einmal erleuchtet waren und geschmeckt haben die himmlische Gabe und teilhaftig geworden sind des Heiligen Geistes und geschmeckt haben das gute Wort Gottes und die Wunderwerke des zukünftigen Zeitalters“, sind dieselben, die der Herr in Matthäus 13,20–21 als solche beschreibt, die das Wort hören und es sogleich mit Freuden aufnehmen, aber keine Wurzel in sich selbst haben. Betrachten wir mit Furcht und Zittern bis wie weit man gehen und sich dennoch selbst täuschen kann. Das Licht und der Geschmack Christi, als der himmlischen Gabe, sowie die Macht des Heiligen Geistes und die Autorität des Wortes Gottes waren der Art, und die zukünftige Welt erschien der anfänglichen Kirche so nahe, dass es für jemanden unmöglich war, das Judentum zu verlassen und – sei es selbst nur als bekennend – inmitten einer solchen Szene Platz zu nehmen, ohne äußerlich eine gewaltige Veränderung zu erfahren und zu gleicher Zeit eine große Freude zu genießen. Brach aber eine Zeit der Prüfung herein, so konnte unmöglich eine Frucht hervorkommen, wenn keine Wurzeln vorhanden waren. Christus verlassen und zum Judentum zurückkehren, hieß Ihn von neuem kreuzigen. Wäre jemand so abtrünnig geworden, dass er sich wieder in die Synagoge hätte aufnehmen lassen, so hätte er Christus verleugnen und verfluchen müssen. Das ist es, was der Beweisführung des Apostels ihre Kraft verleiht. Man möge sich in dieser Beziehung nicht täuschen. Unter dem Gesetz gab es ehemals eine Erneuerung zur Buße, jetzt aber war dies unmöglich. Der mosaische Ritus war bei Seite gesetzt und ging seiner vollständigen Auflösung entgegen. Ohne Zweifel hätte der abtrünnige Jude seine Gabe für die Sünde noch darbringen und die Hände dem Opfer auflegen wollen, um erneuert zu werden; dies aber war nicht mehr möglich. Schreckliche Lage! Er setzte den Sohn Gottes der Schmach aus.

Viele sind nun in den verhängnisvollen Irrtum gefallen, dies auf einen Christen anzuwenden und zu sagen, dass, wenn ein solcher in die Sünde siele, es für ihn unmöglich sei, zur Buße erneuert zu werden. Dies würde daher für ihn noch schlimmer sein als für einen Juden des alten Bundes; denn für diesen gab es Buße und Wiederherstellung. Wir wissen aber, Gott sei Dank! mit Gewissheit: „wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist Er treu und gerecht, dass Er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit“ (1. Joh 1,9).

Alles wird klar, sobald wir verstehen, dass es sich hier um solche handelt, die Christus verließen, um zum Judentum zurückzukehren. Von den wahren Christen wird gesagt: „Wir aber sind in Bezug auf euch, Geliebte, von besseren und mit der Seligkeit verbundenen Dingen überzeugt, wenn wir auch also reden“ (V 9). (Fortsetzung folgt)

Fußnoten

  • 1 oder „zur Vollkommenheit.“
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