Botschafter des Heils in Christo 1878

Die Feigenblätter

„Wie lange kennen Sie schon den Herrn?“ fragte mein Freund einen alten Mann aus N. „Seit drei Wochen, mein Herr; doch bin ich bereits vierzig Jahre beschäftigt gewesen, Feigenblätter zusammen zu flechten.“

Diese kurze Antwort ist sehr beachtenswert, und Tausende sind, gleich diesem alten Mann aus N. mit derselben unnützen Anstrengung, mit derselben fruchtlosen Arbeit beschäftigt, Feigenblätter zusammen zu flechten, denn indem sie das Heil ihrer Seele von der Beobachtung gewisser Vorschriften, Zeremonien. Sakramente oder von allerlei gottesdienstlichen Übungen abhängig machen, tun sie eben nichts anders, als Feigenblätter zusammenflechten. Dasselbe tut ein jeder, der in dieser Beziehung sein Vertrauen auf seine Gebete, auf sein Fasten oder auf gute Werke setzt.

Alle diese Dinge mögen gut sein, und viele von ihnen sind es in der Tat, wenn sie an ihrem rechten Platze sind. Aber sobald eine Seele sie zur Grundlage ihrer Vergebung und ihres Friedens macht, sobald sie dieselben als ein Anrecht betrachtet, einem heiligen und gerechten Gott nahen zu können, sobald sie dieselben zu einem Fundament macht, um darauf bezüglich der Ewigkeit bauen zu können, tut sie nichts anders, als Feigenblätter zusammenflechten; und als solche werden sie sich – aber ach, vielleicht zu spät – für alle erweisen, die ihr Vertrauen daraufgesetzt haben.

Doch wenden wir uns für einen Augenblick zu dem dritten Kapitel des ersten Buches Mose, wo wir zum ersten Mal in dieser Welt den Versuch finden, Feigenblätter zusammen zu flechten. „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“, und wir können in Adams Schürze von Feigenblättern das erste Bild sehen, welches die Schrift uns von der Gerechtigkeit des Menschen in jeder Art und Weise gibt – die erste Darstellung und Erklärung der menschlichen Anstrengungen, welche von dem Tag an, da der Mensch im Garten Eden fiel, bis auf diesen Tag gemacht werden, um die moralische und geistliche Blöße des Sünders zu bedecken.

Kaum hatte der Mensch von der verbotenen Frucht gegessen, als auch seine Augen geöffnet wurden. Aber ach, welch ein Öffnen war dieses! Welch eine Entdeckung! Er sah, dass er nackt war. Er erlangte ein Gewissen zur Erkenntnis des Guten und Bösen; und dieses Gewissen machte einen Feigling aus ihm. „Und es wurden ihrer beider Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren.“ Welch eine traurige Entdeckung! Sie hatten auf die Schlange gehört, und der Erfolg war: eine offenbarte Blöße und ein feiges Gewissen. Bis dahin hatten sie in wonnevoller Unschuld und glückseliger Unwissenheit bezüglich des Bösen gelebt, indem sie nur das Gute kannten. Jetzt aber war alles verändert. Sie hatten die Erkenntnis ihrer eigenen Blöße erlangt, und die wahre Erkenntnis Gottes verloren.

Und was taten sie jetzt? Wie suchten sie diesem neuen Zustand abzuhelfen? Sie hefteten gleich jenem alten Mann aus N. Feigenblätter zusammen und machten sich Schürzen. Der Leser wolle diese zwei Wörtchen beachten: „Sie hefteten.“ Dies war nicht das Werk Gottes, sondern ihr eigenes. Es war, so zu sagen, nicht ein einziger Stich in der Schürze, den Gott getan hatte. Von Anfang bis zu Ende war sie das Werk des Menschen; und alle seine Werke sind in dieser Weise charakterisiert. Es ist unmöglich, dass ein gefallenes Geschöpf sich durch sein eigenes Werk aus dem Verderben, in welches es sich gestürzt hat, erheben kann. Es mag sich darin abmühen, aber es kann nichts daran ändern. Wir lesen deshalb unmittelbar darauf die Worte: „Und sie hörten die Stimme Jehovas Gottes, wandelnd im Garten bei der Kühle des Tages. Und der Mensch und sein Weib versteckten sich vor dem Angesicht Jehovas Gottes, in die Mitte der Bäume des Gartens.“ Sie wagten es nicht, sich auf ihre Schürzen von Feigenblätter zu verlassen. Und wenn sie sich selbst nicht dadurch befriedigt fanden, wie konnten diese sie schirmen vor dem erforschenden Auge eines gerechten Gottes? Sie bezeugten nur ihre Schwachheit und ihr Elend.

„Und Jehova Gott rief den Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du? Und er sprach: ich hörte deine Stimme im Garten und fürchtete mich, denn ich bin nackt, und ich versteckte mich.“ Man beachte die Worte: „Ich bin nackt.“ Hatte er seine Schürze vergessen? Fast scheint es so; aber die Tatsache ist, dass sie für ihn selbst ganz und gar keinen Wert hatte.

Dieses ist stets mit allen menschlichen Anstrengungen der Fall; sie erweisen sich wertlos, sobald sie auf die Probe gestellt werden. Geschieht dieses, so kann nichts bestehen, als nur das Werk Gottes; aber diese Schürze Adams war kein Werk Gottes, sondern nur dasjenige des Menschen. Aber wir können versichert sein, dass uns nichts helfen und nichts Frieden geben kann, als nur das, was von Gott ist. Es gibt bis jetzt unter dem ganzen Himmel keine Seele, die, gestützt auf menschliche Anstrengungen, welcher Art sie auch sein mögen, wahren Frieden besitzt. Nur dadurch, dass eine Seele einfach ruht in dem, was völlig und gänzlich von Gott ist, kann sie einen wahren, dauerhaften und göttlichen Frieden besitzen.

Letzteres, nämlich das, was von Gott ist, wird uns in den Röcken von Fell vorgestellt, welche Jehova Gott für Adam und sein Weib machte, und womit er sie bekleidete. Der große Unterschied zwischen den Schürzen und den Röcken bestand darin, dass Gott nicht einen Stich in jene, und der Mensch nicht einen Stich in diese getan hatte. Jene waren ganz und gar von dem Menschen, und deshalb waren sie nutzlos; diese waren gänzlich von Gott, und deshalb waren sie völlig genügend, und der Mensch hatte nichts dabei zu tun.

O möchte jede Seele diese Belehrungen, welche uns zum ersten Mal in den Schürzen und Röcken gegeben werden, wohl erwägen! Sie enthalten eine ernste Unterweisung für uns. Wir können versichert sein, dass sie ein ernster Mahnruf für alle Zeiten, besonders aber für die gegenwärtige sind. Die Christenheit gleicht von einem Ende bis zum anderen einem aufgehäuften Lager von Schürzen aus zusammengehefteten Feigenblättern. Millionen Hände sind mit dieser nutzlosen Arbeit beschäftigt. Und diese Schürzen mögen gut genug sein bis zu dem Augenblick, da sich die Stimme Gottes wird hören lassen und ihre Wertlosigkeit entdeckt wird, wenn es zu spät ist. „Ich hörte deine Stimme und fürchtete mich, denn ich war nackt.“

Welche Ausdrücke! Die Stimme Gottes! Furcht! Nacktheit! Geliebter Leser, denke an diese Dinge. Denke jetzt daran. Worauf verlässt du dich? Worauf setzest du dein Vertrauen? Auf das Werk des Menschen oder auf das Werk Gottes? Wende dich nicht gleichgültig oder ärgerlich von diesen Fragen ab, sondern beantworte sie dir jetzt in diesem Augenblick mit aller Aufrichtigkeit; denn lange genug Haft du damit gezögert, schiebe nicht länger auf. Von der Beantwortung dieser großen Fragen hängen die Folgen für Zeit und Ewigkeit ab. Vertraust du auf deine eignen Werke, oder ruhst du in vollkommenem Vertrauen auf dem kostbaren Blut Christi, welches von aller Sünde reinigt? Prüfe die Grundlage deines Vertrauens genau und gründlich. Betrachte deine Werke, worauf du deine Ansprüche gründest, im Licht Gottes; denn es ist schrecklich für dich, zu spät zu der Überzeugung zu gelangen, dass du dein Heil auf den menschlichen Schutthaufen und nicht auf den Felsen der Zeitalter gebaut hast.

Höre die folgenden lieblichen und ernsten Worte, welche der Geist Gottes dir erklären und deiner Seele tief einprägen möge: „Darum, so spricht der Herr, Jehova: Siehe, ich gründe einen Stein in Zion, einen bewährten Stein, einen kostbaren Eckstein gegründeter Gründung; wer glaubt, wird nicht beschämt werden“ (Jes 28,16; 1. Pet 2,6).

Hier ist ein Fundament, welches Gott selbst gelegt hat. Er erwartet nicht von dir, dass du etwas hinzufügen, sondern dass du dich einfach darauf stützen, darauf vertrauen, daran glauben sollst. Und wenn du in Wahrheit nur an Jesus glaubst, so versichert dich das Wort dessen, der nicht lügen kann, dass du nimmer beschämt werden wirst. „Wer an den Sohn glaubt, hat das ewige Leben; wer aber dem Sohn nicht glaubt, wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm“ (Joh 3,36).

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