Botschafter des Heils in Christo 1853

Der Pharisäer und die Sünderin

In Christus Jesus ist Gnade und Gerechtigkeit vereinigt, und immer noch geht die freundliche Bitte an alle Menschen: „Lasst euch versöhnen mit Gott;“ aber bald wird Er auch seine Gerechtigkeit in seinen Gerichten offenbaren. Er hat ein Werk zu unserer Errettung, ein vollkommenes und vollgültiges Welk vollbracht und umsonst wird es dem geschenkt, der es glaubt und annimmt; es wird darin die Gerechtigkeit Gottes offenbart, die vor Gott allein gilt, und dem Gläubigen zugerechnet. Außer Christus gibt es keine Erlösung von der Sünde und vom Tod und kein ewiges Leben.

„Es bat ihn aber einer der Pharisäer, mit ihm zu essen; und er ging in das Haus des Pharisäers und legte sich zu Tisch“ (Lk 7,36).

Die Beweggründe welche den Pharisäer veranlasst haben mochten, Jesus zu Tische zu laden, sind nicht näher angegeben. Aus seinem Empfang und Benehmen kann allerlei geschlossen werden, doch will ich mich weiter nicht darauf einlassen. Ich sehe hier vielmehr eine Tat Gottes, die mich mit Lob, Preis und Anbetung erfüllt. Gott zeigt hier in Christus seine Gesinnungen gegen eine Sünderin, inmitten einer Tischgesellschaft, die Ihn nicht kannte, und von Gnade und Erbarmen nichts verstand; Er verherrlichte seinen Namen an einer elenden Frau, die in großen Lastern gelebt hatte; er offenbarte die Fülle seiner Liebe und Gnade an einer Person, die durch alle ihre Handlungen nur Fleischlichkeit und Feindschaft wider Gott an den Tag gelegt hatte. Wie rührend ist es doch, zu vernehmen, wie Gott sich um eine einzelne, verworfene Frau bekümmert, woran die Menschen kalt vorüber gehen, und worüber die besten herzlos richten. Nur Gott, der allein beleidigte, öffnet seine Arme und tut ein Werk zu Lobe seiner Gnade. Er offenbart sich, wie Er ist, und dies allein kann den Sünder beruhigen und sein Herz erquicken.

„Und siehe, eine Frau, die in der Stadt war, eine Sünderin, erfuhr, dass er in dem Haus des Pharisäers zu Tisch liege, und brachte ein Alabasterfläschchen mit Salböl, und hinten zu seinen Füßen stehend und weinend, fing sie an, seine Füße mit Tränen zu benetzen; und sie trocknete sie mit den Haaren ihres Hauptes und küsste seine Füße und salbte sie mit dem Salböl“ (Lk 7,37.38).

Und siehe! eine Frau in der Stadt die war eine Sünderin; als solche war sie allgemein bekannt und dies war auch alles, was man von ihr wusste. Ihr ganzes Leben war eine Feindschaft wider Gott und ein Dienst der Welt in Augenlust, Fleischeslust und hoffärtigem Wesen. Allein hier ereignet sich eine Szene, die uns gewiss in Erstaunen setzen würde, wenn wir sie heute zum ersten Male läsen. Die Frau, von der die Geschichte und der Pharisäer nur zu sagen wissen: „Sie ist eine Sünderin,“ – sehen wir hier als eine Freundin Gottes, die sich nicht mehr ihren Buhlen naht, sondern dem Heiligen und Gerechten, die nicht mit Worten, noch mit der Zunge liebt, sondern in Tat und Wahrheit; die ihre Glieder hier nicht im Dienst der Sünde gebraucht, zu Waffen der Ungerechtigkeit, sondern im Dienst Gottes, zu Waffen der Gerechtigkeit. Ihr Haar ist nicht geflochten, noch sind ihre Wangen geschminkt, der Welt zugefallen, sondern mit vielen stillen Tränen benetzt sie die Füße des Herrn, trocknet sie mit den Haaren ihres Hauptes und salbt sie mit köstlicher Salbe. Woher aber hatte diese Verworfene das Herz, sich dem Heiligen also zu nahen? Hier walten Geheimnisse, die nur dem enthüllt sind, der einen Blick in das Herz Gottes getan, und weiß, wie dieses Herz zu Sündern steht. Es sind Beweggründe, die nur der versteht, der Jesus erkannt hat.

Der Pharisäer kannte Jesus nicht; ihm war das Herz des Vaters fremd geblieben.

„Als aber der Pharisäer es sah, der ihn geladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so würde er erkennen, wer und was für eine Frau es ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin“ (Lk 7,39).

So spricht und denkt ein Mensch, dem das göttliche Erbarmen verborgen geblieben ist, und der von dem Werk Christi nichts versteht. Er beschäftigt sich mit seiner eigenen Gerechtigkeit und verwirft alles, was nicht damit harmoniert; ja Gott selbst wird beurteilt und verworfen, wenn Er seine Gnade und Gerechtigkeit kund tut. Nicht um Gottes Willen jagt der Mensch einer Gerechtigkeit nach, sondern um sein selbst willen, entweder aus Furcht vor der Strafe oder aus Liebe zum Lohne. Er denkt nicht daran, Gott zu verherrlichen, sondern sich selbst, und wenn er betet: „Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie andere Leute,“ so lobt er im Grund doch nur seine Gerechtigkeit. Mit Liebe zu Gott ist sein Herz nicht erfüllt, da es nicht versteht, dass Gott die Liebe ist und sogar seines eingeborenen Sohnes um unsertwillen nicht verschont hat, da wir noch Feinde waren. Wer da nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist die Liebe (1. Joh 4,8). Der Mensch dünkt sich Gott gleich zu sein, darum beurteilt er seine Gerechtigkeit nur nach seinem eigenen Maßstab und nicht nach Gott; er will selbst wissen, was gut und böse ist, denn er hält dafür, dass seine Augen aufgetan sind. Überall offenbart sich mehr oder weniger diese Gesinnung, wo man an der Offenbarung Gottes dreht und meistert, und in Leichtfertigkeit seinen Gedanken mehr, denn Gottes Wort folgt.

Der Pharisäer sah seine Frömmigkeit und des Weibes Sünden; aber nicht erkannte er ihre Liebe und Hingabe an den Herrn und seine Herzlosigkeit; – ein Charakterzug des Menschen, der von sich Gutes, und von anderen Schlechtes erwartet. Er hielt die Berührung des Weibes für eine große Verunreinigung und dachte nicht daran, dass alle seine Gedanken und Gesinnungen unrein waren; er meinte, wenn Jesus ein Prophet sei, so wüsste er, wer und welch ein Weib dies wäre, und in diesem Urteil offenbarte er seine Blindheit, denn er kannte weder den Herrn noch dies Weib. „Womit du einen anderen richtest, verdammst du dich selbst.“

Nur durch Gnade treten wir mit Gott in Verbindung, und alle unsere Beziehungen zu Ihm sind allein auf Gnade gegründet. Von der Gerechtigkeit des Menschen weiß Gott nichts, und sie ist ebenfalls eine Feindschaft wider Ihn, weil sie aus dem Hochmut und der Lüge, und nicht aus der Wahrheit kommt. Mancher hört und lernt von Jugend auf, dass vor Gott kein Fleisch gerecht wird, und spricht dennoch: „Das ist ein Sünder oder eine Sünderin,“ und bleibt sich selbst verborgen. Es ist möglich, den Herrn, der allein gerecht und gnädig ist, als Gast an seinem Tisch zu haben, und dennoch nur an seine eigene Gerechtigkeit zu denken und von der Gnade nichts zu verstehen.

Doch dem Weib war diese Gnade und Liebe nicht verborgen geblieben. Ihr Blick war in das erbarmungsvolle Herz Gottes, welches sich in Jesu offenbarte, gefallen, und – o Reichtum der Gnade! o Fülle der Herrlichkeit! – alle ihre Sünde und Missetaten fanden hier Vergebung; ja in diesem Herzen hatten gar die Sünder der ganzen Welt Raum. In Jesu war Gott selbst zu ihr gekommen; nicht, um sie zur Rechenschaft zu ziehen, sondern um ihr mitzuteilen, dass ihrer Sünden und Übertretungen in Ewigkeit nicht mehr sollten gedacht werden. Der Bürge selbst war da, der volle Bezahlung leisten und ein ewig vollgültiges Opfer für ihre Sünden darbringen wollte. So lautet die gute Botschaft, die er selbst brachte: „Ich bin gekommen, zu suchen und selig zu machen, das verloren ist.“ Das ist eine Botschaft, die ein Sünderherz aufrichten und selig machen kann.

Gott hat den Sünder erlöst und seine Schulden getilgt; Er hat für ihn eine Gerechtigkeit erworben und ihm seine Herrlichkeit geöffnet und geschenkt, und sein Wert ist ein vollkommenes. Alles, was der Mensch suchte und vor Gott zu bringen sich bemühte, und nicht konnte, hat sich Gott selbst in Christus in aller Vollkommenheit dargebracht. Wer jetzt seiner Sünden wegen noch zittert, hat dieses Werk nicht erkannt und zweifelt an der Vollgültigkeit des Opfers Christi; wer noch im Dienst der Sünde beharrt, kennt weder die Gnade noch die Gerechtigkeit Gottes wer sich noch nicht seines Gottes freut und rühmt, der beschäftigt sich mit seiner Gerechtigkeit und das Herz Gottes ist ihm verborgen.

Die Sünderin hatte Jesus als den Abglanz der Herrlichkeit Gottes und das Ebenbild seines Wesens erkannt, und als sie ihn gefunden hatte, vergaß sie sich und die Welt. Ihm musste sie ihre Liebe beweisen, mochte auch die ganze Tischgesellschaft darüber murren; sie hatte einen bessern Dienst kennen gelernt, als den der Sünde und des Fleisches. Ihre einzige Sehnsucht war, dem zu dienen und sich ganz hinzugeben, der Eine solche köstliche Botschaft der Gnade und Vergebung gebracht hatte. Ihre Salbe, ihr Haar, ihre Augen, ihr Mund, kurz alles, womit sie früher ihren Buhlen zu gefallen suchte, war jetzt nur dem Dienst Gottes geweiht; ihre Füße, die sonst den Gegenstand ihrer fleischlichen Lust aufsuchten, hatten jetzt den gesucht und gefunden, der alle ihre Sünden trug. Wohl uns, wenn wir verstanden haben, dass Jesus nur gekommen ist, das Verlorene zu erretten; dass Gott in Ihm war, um die Welt mit sich selbst zu versöhnen; wenn wir das Geheimnis seines Willens durchschauen, welches darin besteht, ein Werk seiner Gnade, Weisheit und Kraft zu seinem Lob an uns zu vollbringen, wodurch ein Gottloser und Knecht der Sünde ein Kind Gottes und Knecht der Gerechtigkeit wird, und das allein durch Jesus Christus, ohne Zutun der Menschen. Es ist ein sehr herrliches Evangelium, welches uns verkündigt, dass Gott selbst es nun übernommen hat, den Sünder selig zu machen, und Ihn ewiglich als einen Gegenstand seiner Freude und Wonne zu seiner Rechten in der Herrlichkeit hinzustellen.

„Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber spricht: Lehrer, rede. – Ein gewisser Gläubiger hatte zwei Schuldner; der eine schuldete fünfhundert Denare, der andere aber fünfzig; da sie aber nichts hatten, um zu bezahlen, schenkte er es beiden. Wer nun von ihnen wird ihn am meisten lieben? Simon aber antwortete und sprach: Ich meine, der, dem er das meiste geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt“ (Lk 7,40–43).

Der Herr lässt sich an dem Pharisäer nicht unbezeugt, selbst wenn auch an Ihm das Wort in Erfüllung gehen sollte: „Ich rede zu ihnen durch Gleichnisse; denn mit sehenden Augen sehen sie nicht und mit hörenden Ohren hören sie nicht, und erkennen es nicht“ (Mt 13,13). Er versteht wohl, dass der Schuldner am meisten lieben würde, dem am meisten geschenkt sei. Er konnte sich schnell in die drückende Lage eines Menschen versetzen, der Eine große Summe schuldig sei und nichts zu bezahlen hätte, und dass es gewiss Liebe und Dank erwecken müsse, wenn er von diesem Druck in der Weise erlöst, dass die ganze Summe geschenkt und ihrer gar nicht mehr gedacht würde. Dass ein Sünder Gott gegenüber in einem ähnlichen Verhältnisse stehe, dass dessen Schuld sehr groß sei und er nichts zu bezahlen hatte, war ihm aus eigener Erfahrung verborgen, und darum hatte er auch kein Erbarmen für das Weib. Er hoffte ja nicht auf Gnade, sondern auf sein Tun, und wenn er gefehlt, so bestrebte er sich, es besser zu machen; wie konnte er da an eine so große Schenkung denken. Er zweifelte auch gar nicht daran, dass er selbst, oder ein Wucherer, mit einem armen Schuldner, der nichts zu bezahlen hätte, so viel Mitleiden haben könnte, ihm die ganze Schuld zu schenken, aber der Gedanke, dass Gott gegen ein armes, schuldbeladenes Weib ebenso gesinnt sein könnte, kam nicht in sein Herz. So hoch denkt der Mensch von sich und so gering von seinem Gott.

In seinen Urteilen ist der natürliche Mensch nie gerecht, wenn es sich um ihn selbst handelt. Er kann freilich von sich als Sünder reden, aber ohne das Licht von oben wird er es nur aus Gewohnheit tun, oder gar seine Gerechtigkeit darin suchen. Kommt der Mensch mit der Wahrheit persönlich in Berührung, so beweist er, dass er die Finsternis mehr liebt, als das Licht, und dass seine Gesinnung eine Feindschaft wider Gott ist. Er denkt, Gott zu lieben, solange die Wahrheit ferne von ihm bleibt.

In Betreff des Gleichnisses urteilte Simon richtig; aber die Wahrheit der Gnade Christi, die sich hier im Benehmen des Weibes und des Herrn offenbarte, ärgerte ihn; der natürliche Mensch vernimmt nichts von den Dingen, die des Geistes Gottes sind. Die Handlung, die sich vor seinen Augen zwischen dem Weib und dem Herrn zutrug, verstand er nicht. Eine solche Sünderin in der Nähe eines Mannes Gottes, der doch vielfach wenigstens für einen Propheten oder Lehrer gehalten wurde, sich von derselben anrühren zu lassen, oder gar Ehrenbezeugungen entgegen zu nehmen, war ihm etwas Unbegreifliches. Durfte denn diese Lasterhafte noch auf Errettung hoffen? Ein solcher Gedanke hatte bis jetzt in seinem Herzen nicht Raum gefunden. Er nahte nur Gott im Bewusstsein seiner Gerechtigkeit, wie konnte diese, im Bewusstsein ihrer Schuld, einen solchen Schritt tun? Ging denn jetzt Gnade über Recht? Sollte denn am Ende seine ganze Arbeit, seine ganze Frömmigkeit umsonst sein? Nein, Jesus konnte kein Prophet sein, sonst würde er wohl dies Weib durchschauen. So schwer ist es dem Menschen, zu glauben, dass Gott gnädig ist, und dass wir nur durch Gnade vor Ihm bestehen können.

Der Herr führte nun den Pharisäer weiter in sein und des Weibes Herz; er deckte beider Gesinnungen und Handlungen auf und überließ dann die Frage: Wer dem Herrn am nächsten stehe? – dem Urteil derer, die mit zu Tische saßen.

„Und sich zu der Frau wendend, sprach er zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser auf meine Füße gegeben, diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seitdem ich hereingekommen bin, nicht aufgehört, meine Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; diese aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. Deswegen sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig. Er aber sprach zu ihr: Deine Sünden sind vergeben“ (Lk 7, 44–48).

Je tiefer wir in das Herz Gottes schauen, wie es sich uns in und durch Jesus offenbart hat, desto weiter wird unser eigenes Herz. Wir fangen an zu verstehen, dass wir nur um des Werkes Christi willen leben, und dass dieses Werk nur in dein Maße in uns wirksam ist, als wir es erkennen. Sein Bild gewinnt immer mehr und mehr eine Gestalt in unserem Innern, denn seine Liebe ist ausgegossen in unser Herz. Es ist wichtig, zu wissen, dass unser Heil ein in Ewigkeit vollendetes, ein vollkommenes ist, dass wir aber in der Erkenntnis desselben, in der Erkenntnis Gottes und Christi, immerdar wachsen und zunehmen müssen. Wollten wir denken, unsere Erlösung würde durch unser Verhalten eine völligere, so hielten wir das Opfer Christi nicht für vollgültig und hätten vergessen, dass wir nur dieses Opfers wegen vor Gott so hoch geachtet sind. Nur Liebe und Dank kann es sein, was uns zum heiligen Wandel vor Gott bewegen soll.

Gott selbst sieht nur das Werk Christi an, wenn Er die Reichtümer seiner Gnade und die Fülle seiner Herrlichkeit uns offenbart; nur darum ruht sein Wohlgefallen auf uns, weil Er das Werk seines eigenen Sohnes in uns erblickt. Er steht gar keine Sünde an einer Seele, die in Jesu ruht, weil sein wohlgefälliges Opfer immerdar vor Ihm ist, und weil Jesus als allein würdiger Hohepriester zu seiner Rechten steht und uns vermöge seines ewig gültigen Opfers beim Vater vertritt.

Die Menschen sahen an dem Weib nichts als Sünde und Laster; Jesus aber hatte viel von ihr zu rühmen; Er sähe das Werk Gottes in ihr. Er gedachte ihrer Sünden, als einer Schuld, mit keinem Wort mehr; wusste Er doch, warum Er in die Welt gekommen war; vielmehr sagte Er von ihr: Sie hat viel geliebt. Wunderbare Gnade! Es hatte die Liebe Gottes in ihrem Innern Raum gefunden. Jesus vertritt hier das Vaterherz Gottes; Er offenbart die Gesinnung des Vaters gegen verlorene Sünder. Nicht mehr sähe er die Sünde, sondern das Opfer an, was schon vor Grundlegung der Welt vom Vater und vom Sohn beschlossen war und nun dargebracht werden sollte. Wie konnte der Bürge, voll Liebe und Erbarmen, der gekommen war, den ewigen Ratschluss Gottes zu erfüllen, und für die Sünder völlig in den Riss zu treten, – wie konnte Er das Weib noch an ihre Schuld erinnern? Das konnte nur ein Mensch, der von dem Ratschluss Gottes und von der Vollgültigkeit dieses Opfers nichts verstand. Nur ein solcher konnte noch sagen: Sie ist eine Sünderin.

Mit einer rührenden Liebe vertritt hier Jesus das Weib vor einem Pharisäer, der Ihn nicht kannte und von ihr urteilte: Sie ist eine Sünderin. Sie hatte sich zu Ihm bekannt in der Mitte einer herzlosen Gesellschaft, wie hätte Er es lassen können, sich zu ihr zu bekennen? Nein, wenn alles urteilt: Sie ist eine Lasterhafte und Verworfene; wenn aller Blicke sich auf sie richten und jeder Mund bekennt: Sie ist eine Sünderin, so wendet Er sich zu ihr und spricht: Sie hat viel geliebt! Das ist das wahrhaftige Zeugnis Gottes von einem Weibe, wovon die Menschen nur zu sagen wussten, dass sie vor allen eine Sünderin sei. Jesus allein verstand ihre Tränen, welche auf seine Füße, die der Simon nicht einmal mit kaltem Wasser hatte waschen lassen, herabflossen; Er verstand es, warum das Haar ihres Hauptes zum Reinigen und Trocknen dieser Füße diente; ja Er allein verstand ihre Küsse und ihre Salbung mit dem kostbaren Balsam. So liebt und gibt sich eine Seele hin, die in das Vaterherz Gottes geschaut hat; nichts hält sie für sich und zu ihrem Dienste, alles gehört nun dem, der sie so väterlich aufgenommen hat. Diese Liebe Gottes hat sie in Jesu erkannt und ist in ihr eigenes Herz ausgegossen worden. Sie hatte die Gnade und Liebe des Vaters verstanden, der Seinen geliebten Sohn für Sünder, für seine Feinde schenkte; sie hatte die aufopfernde Liebe dessen erkannt, der sein Leben für Gottlose in den Tod gab, der für ihre Sünden sein Mut vergoss. Wer das Herz Gottes erkannt, wer seine Gesinnung zu den Sündern verstanden hat, der kann nicht anders, als viel lieben. Die Liebe Gottes, ausgegossen in unsere Herzen, ist es allein, die auch wieder zu Ihm geht.

Simon handelte nicht nach der Liebe und nach dem Herzen Gottes, denn er kannte nur sich und seine Gerechtigkeit. Darum handelte Er auch nach seiner Liebe und seinem Herzen, und was er tat, das tat er nicht um Gottes, sondern um sein selbst willen. Er hatte den Herrn in sein Haus zu Tische geladen, er nannte Ihn Meister, und doch zweifelte er sogar daran, dass er ein Prophet sei. Jesus war als Gast bei ihm eingekehrt und doch hatte er Ihm nicht einmal so viel Aufmerksamkeit und Achtung geschenkt, dass er Ihm Wasser für seine Füße, oder einen Kuss gegeben, oder sein Haupt mit Salben gesalbt hätte, wie er es doch einem jeden Gast, der ihm einiger Maßen wert gewesen wäre, getan haben würde. Wie so nackt und bloß ist dieser vor den Menschen gerechte Mann in den Augen Gottes? Mochten auch alle von ihm urteilen, dass er ein frommer Mann sei, Jesus bekennt von ihm, dass er ein Herz ohne Liebe habe; mochte er selbst viel von der Liebe zu Gott reden, seine Gesinnungen und Handlungen offenbarten nur Herzlosigkeit. Die Liebe Gottes war ja nicht ausgegossen in sein Herz, ja er verstand und erkannte sie nicht einmal. Diese Liebe, die den Sohn zum Opfer für die Sünde gab, war ihm noch verborgen; dieses versöhnende Blut war seinem Herzen noch ganz fremd geblieben. Wie konnte er lieben, da er nur seine Liebe kannte? Wie konnte der Reichtum der Gnade Gottes ihn zur Anbetung reizen, da er nur an seine Gerechtigkeit dachte? An ihm fand der Herr nichts zu rühmen, weil er die Liebe Gottes nicht in seinem Herzen sähe; zu ihm konnte Er sich nicht bekennen, weil ja auch Simon sich nicht zu Ihm, sondern zu sich selbst bekannte.

„Und die mit zu Tisch lagen, fingen an, bei sich selbst zu sagen: Wer ist dieser, der auch Sünden vergibt?“ (Lk 7,49).

Gott hatte an einer großen Sünderin seine Gesinnungen zu den Menschen kund getan und Jesus die Absicht seiner Sendung durch eine herrliche Tat offenbart, aber die, welche mit Ihm zu Tische saßen, gerieten darüber in Bewegung. Sein Urteil über das Weib war nicht das ihrige; sein Herz voll Gnade und Liebe stimmte nicht mit ihrer Gerechtigkeit, und war sein Werk Gottes Werk, so waren sie in ihrer Stellung zu Gott ganz verworfen; konnte der Mensch nur durch einen solchen Akt der Gnade vor Gott bestehen, dann bestanden sie nicht, und lag das Heil allein in der Hand dieses Jesu, der da sagte: „Dir sind deine Sünden vergeben;“ so war ihre ganze Frömmigkeit null und nichts. „Wer ist dieser?“ so fragen sie unter einander. Was sie dieser Sünderin gegenüber aus seinem Mund gewiss erwartet hatten – eine scharfe, richtende Predigt des Gesetzes, ernste Verweise und Bestrafungen – auch kein Wort hörten sie von alledem. Er spricht zu ihr, wie zu einer zärtlich geliebten Freundin, Er nimmt sie wie eine teure Schwester in Schutz, gegen alle harte und lieblose Angriffe. Nicht einmal hatte Er gesagt: Gehe hin und wirke zuvor Gerechtigkeit und dann komme wieder; vielmehr hören sie die Worte, die alle ihre Begriffe von Gerechtigkeit so tief verletzen: „Sie hat viel geliebt;“ und: „deine Sünden sind dir vergeben.“ War denn Gott nicht mehr gerecht, indem Er der Sünden und Übertretungen nicht mehr gedachte? Und wer war dieser, dass Er so leichthin Sünden vergab, wodurch nur ruchlose Leute gemacht wurden? So urteilt der Mensch über den Reichtum der göttlichen Gnade. Er versteht nichts von ihrer verborgenen Kraft und von der Macht der Liebe, die stärker ist, als alle knechtische Furcht. Der Ratschluss Gottes war denen, die zu Tische saßen, verborgen, obgleich sie es waren, die doch äußerlich so viel mit Gott verkehrten. Sie wussten es nicht, dass Jesus nur gekommen war, das Verlorene zu suchen und selig zu machen. Sie kannten nur die Gerechtigkeit, die nicht von Gott gewirkt und ihnen geschenkt, sondern das Werk ihrer eigenen Mühe und Arbeit war, obgleich sie hören mussten, dass der in ihren Augen gewiss so hoch geachtete und an vielen „guten Werken“ reiche Simon von dem Herrn dahin gestellt wurde, als ein Mann ohne Liebe. Ihr Herz wurde über die Reichtümer der göttlichen Gnade nicht mit Preis und Anbetung erfüllt, denn sie kannten diese Gnade nicht und lebten nicht von ihrer Fülle, vielmehr erbitterte es sie, dass Gott ein so gottloses Weib ohne Weiteres annehmen sollte. Sie beschäftigten sich damit, ob Jesus ein Recht habe, die Sünden zu vergeben, wo sie doch vielmehr daran hätten denken sollen, dass in ihrem Herzen keine Liebe und kein Erbarmen wohne. Aber sie sind nicht geneigt, sich selbst zu richten, eher noch muss der Herr wieder der Gegenstand ihres Urteils werden.

Manche Seelen beschäftigen sich mehr damit, ob das offenbarte Wort Wahrheit sei, als mit der Fülle der Gnade, Liebe und Herrlichkeit selbst, die uns offenbart ist. Statt von diesen umsonst dargereichten Segnungen Gebrauch zu machen, statt aus ihrem Besitz Kraft und ihrer mächtigen Wirkung den wahren Wert zu erkennen, bleiben sie von Ferne stehen und meistern Gott und klügeln an seinem Worte. Manche beschäftigen sich damit, ob wohl das Werk Christi durch den Glauben allein, auf eine Seele einen so kräftigen und lebendigen Einfluss ausübe, aber sie vergessen das einfältige Annehmen und das kindliche, gläubige Ergreifen dessen, was uns in Christus geschenkt ist, worin allein die Segnung für uns liegt. Solange wir noch den geringsten Wert auf unsere Gerechtigkeit setzen, solange erfreut die Gnade nicht völlig unser Herz; solange das Werk Christi nicht allein der Grund ist, auf welchem ich vor dem Vater stehe, solange ruht dessen Wohlgefallen nicht auf mir. Wenn ich noch nicht verstanden habe, dass ich nur durch die göttliche Gnade vor Gott lebe, solange wird mein Inneres verletzt, wenn ich sehe, wie diese Gnade Gottes sich an einem anderen offenbart und ich werde umso bitterer, je mehr ich sehe, wie dieser Reichtum der Gnade sich an einer Seele kräftig erweist.

„Er sprach aber zu der Frau: Dein Glaube hat dich gerettet; geh hin in Frieden“ (Lk 7,50).

Jesus hatte das Herz seines Vaters offenbart; die Pharisäer hatten es gesehen und gehört, aber nichts davon verstanden. Darum lässt Er sich auch jetzt nicht weiter mit ihnen ein; Er wendet sich zu dem Weibe, welche jene verwarfen, und die in seinen Augen ein so teurer Gegenstand geworden war. Sie war ein Lohn seiner Mühe und Arbeit, eine Frucht des Werkes, was Er vollbringen wollte; Er sähe in ihr die Hingabe und Liebe einer begnadigten Sünderin, die Ihm ihren ganzen Reichtum, ja sich selbst, zum Dankopfer darbrachte. Sie war ein Gegenstand seiner Freude, wofür Er das Kreuz erduldete und sein Leben nicht ansah. Er wusste, warum sie gekommen war, und Er verstand alle Bewegungen ihres Gemüts. Sie hatte Jesus gefunden, der gekommen war, das Verlorene zu suchen und zu erretten. Gott war im Fleisch erschienen, mit einer Fülle von Gnade und Erbarmen; jedes Schuldopfer wäre zu gering für ihre Sünde gewesen, aber hier war das Lamm Gottes, das aller Welt Sünde trug. Nichts hatte bis dahin über sie etwas vermocht; nichts ihrem Sündenleben ein Ziel setzen können; aber solche Gedanken und Gesinnungen warm ihr zu mächtig. Weder die Schande vor der Welt, noch die Furcht vor dem verdammenden Gesetz und dem gerechten Richter hatte sie erschreckt, aber als sie die Gnade und Liebe Gottes in Jesu erkannte, da verließ sie alles und suchte Ihn auf. Sie kam zu Ihm und täuschte sich nicht. „Dein Glaube hat dir geholfen!“ Sie ist errettet, weil sie zuversichtlich geglaubt hat, dass Jesus allein sie erretten könne und wolle; ihre Sünden sind getilgt, weil sie glaubte, dass Jesus, der Sohn Gottes, gekommen sei, alle Sünden hinweg zu nehmen! Ihre Gesinnungen wie ihre Handlungen hatten ihr keine Hoffnung zur Errettung übrig gelassen; nur die Gnade Gottes war noch allein geblieben; von allen Menschen war sie verworfen und verdammt, und nur noch einer war im Himmel und auf der Erde, der sie nicht verwarf, sondern vielmehr gekommen war, sie zu suchen und zu erlösen. O dein Glaube hat dich gerettet! Vor Gott gilt nicht die Gerechtigkeit irgend eines Menschen, nicht eine Gerechtigkeit, die weder Liebe noch Gnade kennt, sondern die Gerechtigkeit Gottes, die dem Glauben zugerechnet wird, und das Herz mit Liebe und Erbarmen erfüllt. Nur das allein gilt vor Gott, was Er selbst dem Menschen in Christus darreicht und schenkt.

Der Glaube macht gerecht und wirkt Frieden mit Gott; er fragt nicht: was ist der Mensch und was hat er getan, um selig zu werden? Im Menschen findet er nichts, was Gott angenehm wäre, oder was ihn zu Gott bringen könnte; er findet alles außer ihm in der Person und dem Werk Christi. Der Glaube ist sich völlig bewusst, dass der Mensch nichts hat und nichts bringen kann, was Gott gefallen könnte, und darum nimmt er zur Gnade Gottes seine Zuflucht. Diese Gnade hat sich in Christus offenbart und sie ist allein der Maßstab meiner Errettung und Annahme bei Gott. Ich bin gerade so rein bei Gott, als das Blut Jesu Christi zu reinigen vermag; meine Errettung ist so vollständig und gültig, als das Opfer Christi vollkommen und vollgültig bei Gott ist. Will ich erkennen, wie viel ich in den Augen Gottes gelte, so brauche ich nur zu erforschen, wie viel Jesus bei Ihm gilt, der unser Lösegeld ist; will ich meine wahre Stellung, die Fülle meines Reichtums wissen, so brauche ich nur zu verstehen, welche Stellung Jesus beim Vater hat und was sein Reichtum ist. Um meiner selbst willen bin ich nichts vor Gott; aber um seinetwillen werde ich vom Vater geehrt und geliebt, wie Er; (Joh 17,33–12,26). ich habe Teil an seiner Herrlichkeit, die Ihm der Vater gegeben hat. Ich kann „Abba, Vater!“ sagen; ich bin Freund, Kind und Erbe Gottes und Miterbe Christi; ich bin ein Glied an seinem Leib und gehöre zu seiner Braut; aber das alles um seinetwillen. Die Gnade Gottes in Christus ist es allein, die es mir umsonst geschenkt hat. Nie hätte mein Verhalten und meine Gerechtigkeit mich in eine so herrliche und gesegnete Stellung einem heiligen und gerechten Gott gegenüber bringen können. Der Glaube findet und nimmt alles in Christus und aus seiner Fülle. Er fragt auch nicht, wie weit es ein Mensch im Christentum gebracht habe; er lässt das vollkommene Opfer Christi nicht aus den Augen und dies allein bewirkt einen innigen Frieden und eine selige Freude in dem Herzen. Er beschäftigt sich stets mit Jesu, weil er weiß, dass der Mensch nur um seinetwillen vor Gott besteht, und so hoch geehrt und geliebt ist. Darum ist auch sein Wandel in der Gemeinschaft des Vaters und des Sohnes, und ein Gott wohlgefälliger.

„Gehe hin in Frieden.“ Des Weibes Sünden waren getilgt; sie war gerettet und Jesus war nun der einzige Gegenstand ihrer Freude; darum kehrte sie jetzt in Frieden heim. „Nun wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus“ (Röm 5,1). Sobald ich mich selbst in keinerlei Weise in Betracht ziehe, sobald ich mein Verhältnis zu Gott allein nach dem Wert des Opfers Christi schätze und mich mit seiner Gnade und seinem Werk allein beschäftige, habe ich Frieden mit Gott, sobald ich aber von diesem Werk absehe und mich mit mir selbst einlasse, ist mein Friede gestört, weil ich dann meine Stellung bei Gott von meinem Verhalten abhängig mache. Selbst in solchen Stunden, wo drückende Verhältnisse auf mich eindringen, oder eine gewisse Erschlaffung mein Gemüt niederdrücken will, wird nur dann mein Friede unterbrochen, wenn ich mich mit diesen Verhältnissen einlasse und dieser Erschlaffung nachhänge. Betrachte ich meine Beziehungen zu Gott nur im Hinblick auf das, was Christus für mich vollbracht hat, so bin ich dem Vater lieb und wert; seine Kraft ist mächtig in mir und die Gesinnung Jesu Christi wird in meinem Wandel offenbar werden; betrachte ich mich aber ohne diesen innigsten Zusammenhang mit Jesu, so bin ich vor Gott verworfen und die Sünde wird über meine Ohnmacht herrschen. So sehr meine Gerechtigkeit vor Gott allein von dem Werk Christi abhängig ist, ebenso sehr ist es auch mein Friede mit Ihm. Die große Sünderin ist von dem Augenblick an errettet, und ihre Sünden sind getilgt, als sie das Wert Christi vor Gott bringt und nur ihre Hoffnung auf Jesus setzt; sie wandelt in Frieden und in Freude, solange sie das Vaterherz Gottes versteht.

Der Herr gebe, dass wir immer mehr die Reichtümer der göttlichen Gnade in Christus erkennen, und verstehen, dass wir nur um Jesu und seines Werkes willen vor dem Vater so geehrt und so hoch geliebt sind.

Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel