Der Brief an die Römer

Kapitel 14

Der Brief an die Römer

Dieses Kapitel belehrt die Christen in Rom, wie sie gegen die Schwachen im Glauben handeln sollen. Diese Schwachen waren aber nicht solche, die Christus weniger liebten oder die Sünde weniger hassten als die Starken, sondern solche, die noch unter den jüdischen Elementen standen, die von den durch Moses gegebenen Verordnungen nicht völlig befreit waren. Ihre Schwachheit bestand also nicht in der Trägheit oder Nachlässigkeit des Wandels – im Gegenteil, sie waren äußerst gewissenhaft und gerade deshalb so ängstlich im Essen der Speisen und im Halten der Tage. Es war noch ein Überrest von der Gesetzlichkeit in ihnen vorhanden – ein Schwachsein im Ergreifen der gesegneten Stellung, die wir durch Christus und in Ihm als dem Auferstandenen empfangen haben. Für die Bekehrten aus den Nationen gab es in dieser Beziehung weniger Schwierigkeiten. Sie hatten das ganze System ihres Dienstes als falsch und blind erkannt und verworfen, und liefen darum auch weniger Gefahr, noch an einzelnen Teilen desselben festzuhalten. Für sie aber gab es eine andere Gefahr, nämlich die noch unter dem Gesetz Gefangenen oder Schwachen im Glauben gering zu schätzen und ihre Aufnahme zu verweigern; und auf diese Weise wurden die äußeren Dinge zu einem Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht, wodurch die innere Kraft des Lebens geschwächt wurde. Der Apostel führt nun verschiedene Gründe an, die das gegenseitige Verhalten der Christen, insbesondere die Gesinnung und das Betragen der Starken den Schwachen gegenüber, leiten soll.

Die menschliche Natur ist immer auf die eine oder andere der Gefahren, die den Heiligen in Rom drohten, gerichtet. Wenn im Dienst für Christus die Freiheit nicht praktisch verwirklicht wird, so wird bald das Gewissen abstumpfen; und wenn die Verantwortlichkeit nicht mit einer völligen und ungetrübten Ruhe in der Gnade Gottes verbunden geht, so wird sie bald in eine niederdrückende und ängstliche Gewissenhaftigkeit ausarten.

Der Christ ist mit Christus gestorben und auferstanden, und darum ist er von solchen irdischen Beschränkungen wie: „Berühre nicht, koste nicht, betaste nicht...“, (Kol 2,21) frei. Diese Dinge sind nur für solche, die noch in der Welt leben. Der Christ aber ist dazu befreit, seine Sinne auf solche Dinge zu richten, die im Himmel sind, „wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes“ (Kol 3,1). Das ist seine Stellung in Bezug auf seine eigene Person; aber außerdem ist für seine Brüder die Liebe da, die Rücksicht nimmt auf das Gewissen des Schwachen – das Gewissen, das gerade durch die Dinge, von denen er befreit ist, versucht wird. Die Liebe leitet die Gefühle des Glaubens nie zu einer ungebundenen Freiheit; sie legt nie dem Bruder etwas in den Weg, was diesem zum Anstoß oder zum Fall sein könnte.

Der Apostel ermahnt nun, den Schwachen im Glauben aufzunehmen, aber „nicht zur Unterscheidung strittiger Überlegungen“ (Vers 1), d.h. in solchen Fragen, in denen das Gewissen des Schwachen in Anspruch genommen wird. Der Christ sollte natürlich über solchen Dingen stehen, wie z. B. Gemüse essen (Vers 2), eine Sache, die wahrscheinlich aus den levitischen Verordnungen hergeleitet wurde. Wenn er sich aber darüber ein Gewissen macht, so soll er den nicht richten, der darin frei ist; und umgekehrt soll der Freie den nicht verachten, der nicht frei darin ist; und beides soll deshalb nicht geschehen, weil Gott den einen wie den anderen angenommen hat (Vers 3).

In Vers 4 wird der Nachdruck besonders auf das Richten gelegt, und gerade der Schwache ist in Gefahr, den Starken zu richten, während der Starke in Gefahr ist, den Schwachen gering zu schätzen. „Wer bist du, der du den Hausknecht eines anderen richtest“? Er ist nicht unser Knecht, sondern der Hausknecht des Herrn. Er hat ihn in sein Haus aufgenommen, und darum steht und fällt er auch seinem Herrn. „Er wird aber aufrecht gehalten werden, denn der Herr vermag ihn aufrecht zu halten“ (Vers 4). Da nun jeder dem Herrn angehört und nicht uns, so tut er auch alles, was er tut, dem Herrn, und danksagt Gott (Verse 5 und 6).

Wir gehören also völlig dem Herrn – nicht nur im Leben, sondern auch im Tod (Verse 7 und 8). Wir sind Ihm völlig geweiht, und darum ist es auch unsere Berufung auf der Erde, alles für Ihn, zu seiner Ehre und Verherrlichung zu tun; „denn keiner von uns lebt sich selbst, und keiner stirbt sich selbst. Denn sei es, dass wir leben, wir leben dem Herrn; sei es, dass wir sterben, wir sterben dem Herrn. Sei es nun, dass wir leben, sei es, dass wir sterben, wir sind des Herrn. Denn hierzu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden: um zu herrschen sowohl über Tote als auch über Lebende“(Verse 7–9).

Welche Festigkeit und Sicherheit für den Glauben! Wir sind in dem Fürsten des Lebens, in dem Überwinder des Todes. Da nun eine solche Herrlichkeit unser Teil ist, wie dumm ist es dann, sich mit solchen unwichtigen Sachen, wie das Streiten über das Erlaubte oder Nichterlaubte hinsichtlich der Speisen, aufzuhalten! Wenn wir uns mit unseren Vorrechten beschäftigen, so wird alles andere von selbst wegfallen und verschwinden. Außerdem ist es auch in Bezug auf die Ewigkeit nur Verlust, wenn man sich mit solchen Fragen aufhält. Vor dem Richterstuhl des Christus, wo wir alle offenbar werden müssen, wird es uns klar sein, dass dieses alles uns keine Frucht, sondern vielmehr Schaden gebracht hat.

Der Apostel will uns aber zu gleicher Zeit durch die Darstellung dieser Wahrheit sowie durch die, dass Jesus über Tote und Lebende herrschen wird, die Torheit und die Ungehörigkeit des Richtens über andere vor Augen stellen. Wenn alle zusammen vor seinem Richterstuhl offenbar werden sollen und der Herr Jesus allein das Urteil über alle unsere Taten zu fällen hat, so ist es gewiss sehr verwerflich, durch unser Richten in seine Rechte einzugreifen. „So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben“ (Vers 12). Es ist aber wohl zu beachten, dass wir nicht deshalb vor den Richterstuhl des Christus gestellt werden, um gerichtet, sondern um offenbar zu werden (2. Kor 5,10). Wir sind schon in Christus gerichtet und von Gott angenommen, und deshalb ist es unmöglich, dass wir noch einmal gerichtet werden können. Auch werden wir verherrlicht vor dem Richterstuhl des Christus erscheinen, und da wird es zu spät sein, noch von unserem Gericht oder unserer Verurteilung zu reden. Wenn es sich in dieser Beziehung irgendwie um uns handelt, so wird gezeigt werden, dass wir Gottes Gerechtigkeit in Christus sind.

In einer Beziehung stellt der Richterstuhl des Christus sogar etwas sehr köstliches vor unsere Seele; wir werden dann in vollem Licht die zärtliche Liebe und wachsame Sorge verstehen, womit der treue Heiland während der ganzen Reise durch die Wüste unsere Schwachheit umgeben hat.

In den Versen 14 und 15 sagt der Apostel, dass wir uns nicht durch das Essen einer Speise, die wir nicht für unrein halten, versündigen; dass wir aber nicht nach der Liebe handeln würden, wenn wir durch dieses Essen unserem Bruder Anstoß geben würden. Wir würden in letzterem Fall auch in völligem Gegensatz zu der Gesinnung und Handlungsweise Christi stehen. Er hat für den Schwachen sein Leben gelassen, um ihn aus seinen Sünden zu erretten, während wir uns nicht einmal um seinetwillen unserer Freiheit im Blick auf eine Speise enthalten können; und indem wir den Bruder durch unsere Freiheit zu Dingen verleiten, die gegen sein schwaches Gewissen sind, so verleiten wir ihn zur Sünde und verderben ihn. Auf diese Weise aber wird unser Gut, d.i. die christliche Freiheit, verlästert. Sie hat den Anstoß und Fall des schwachen Bruders zur Folge und wird also, anstatt zum Segen, zum Unsegen sein (Vers 16).

Es folgt nun eine einfache, aber wichtige Beschreibung des Reiches Gottes. Dieses Reich „ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist“ (Vers 17). Gott anerkennt den Geist und nicht das Fleisch. Speise und Trank aber gehören nicht dem Geist, sondern dem Fleisch. Sie können durch den, der im Geist ist, zur Ehre Gottes gebraucht werden; aber sie gehören immer dem Fleisch an. Wenn Gott im Herzen herrscht und wohnt und das Gewissen vor Ihm rein ist, dann werden Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist uns erfüllen. Wenn die Gesinnung Gottes unser Herz regiert, dann sind wir fähig, Christus in allem zu dienen; und wer Christus dient, der dient Gott und ist Ihm wohlgefällig (Vers 18).

Es ist für den Christen sehr notwendig, oft zu fragen: Wie und worin kann ich Christus dienen? Dabei aber ist es sehr zu beachten, dass nichts vor Gott angenehm und den Menschen nützlich sein kann als nur das, was in der Kraft des Heiligen Geistes durch uns bewirkt wird. Und deshalb ist nur der, der in Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist – dem wahren Charakter des Reiches Gottes – Christus dient, Gott wohlgefällig und den Menschen bewährt oder nützlich (Vers 18).

Es ist überhaupt der Zweck des Apostels in diesem Kapitel, die Gedanken der Gläubigen aus allen strittigen Punkten auf das hinzuleiten, was zum Frieden und zur gegenseitigen Erbauung dient. Die wahre Freiheit entspringt aus der Liebe, und die Liebe wird immer den schwachen Bruder berücksichtigen. Sie wird ihre Freiheit in diesen äußerlichen Dingen nicht gebrauchen, wenn der schwache Bruder dadurch Anstoß und Ärgernis nimmt (Verse 20 und 21).

Vers 22 enthält ein für alle Zeiten wichtiges Zeugnis von dem Unterschied zwischen einer geistigen Freiheit und – was dieser entgegengesetzt ist – einer fleischlichen Zügellosigkeit. Es ist sicher nötig, dass jeder in Sachen, die das Gewissen betreffen, in seinem eigenen Gewissen vollkommen überzeugt ist. Ist er das nicht, so darf er auch nicht handeln, selbst wenn es auch viele andere tun. Hat jemand Glauben, um sich von allen traditionellen Gewohnheiten abzusondern, und sieht er, dass diese gar keinen Wert haben, dann ist sein Gewissen frei. Jedoch darf er kein Stein des Anstoßes für seinen Bruder werden. „Hast du Glauben?“ (hinsichtlich dieser äußeren Dinge) „Habe ihn für dich selbst vor Gott“ (Vers 22). Es ist wichtig, zu beachten, dass unsere Freiheit nur auf unseren Glauben gegründet sein kann, dass alles, was wir uns erlauben, aus dem Glauben hervorgehen muss. Ist das nicht der Fall, so ist es wohl möglich, dass man mit der Schrift in der Hand beweisen kann, dass man zu dem, was man tut, berechtigt ist, aber die Freiheit ist dann zur Ungebundenheit geworden. Und wer zweifelt, wenn er isst, der ist verurteilt, weil er es nicht aus Glauben tut. „Alles aber, was nicht aus Glauben ist, ist Sünde“ (Vers 23).

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