Der Brief an die Römer

Kapitel 10

Der Brief an die Römer

Während uns im vorigen Kapitel die unumschränkten Ratschlüsse Gottes im Blick auf das Volk Israel vorgestellt wurden, finden wir in diesem Kapitel seine Wege gegen dasselbe während der gegenwärtigen Periode.

Trotz der unabänderlichen Ratschlüsse Gottes und seiner Gerichte gegen Israel, bleibt das Herz des Apostels, der mit so inniger Liebe an seinem Volk hing, mit dem Gedanken an ihre Errettung beschäftigt. Diese zukünftige Errettung blieb der Gegenstand seiner Freude und seines Gebets zu Gott. Eine solche Gesinnung wird immer in einem Herzen gefunden werden, in dem Liebe und Erbarmung wohnt. Das Gebet für alle, die die Liebe und das Erbarmen Gottes brauchen, wird nie durch die Ratschlüsse Gottes geschwächt oder verhindert werden. Gottes eigenes Herz unterweist uns in dieser Gesinnung, denn wir lesen am Ende dieses Kapitels die aus Jesaja 65,2 angeführte Stelle: „Ich habe den ganzen Tag meine Hände ausgebreitet zu einem widerspenstigen Volk“.

Die Liebe des Apostels zu seinem Volk zeigt sich auch darin, dass er auf eine sehr zarte Weise über dessen Zustand redet, indem er ihn nicht der Bosheit, sondern einem falschen Eifer für Gott zuschreibt – einem Eifer, der nicht mit der wahren Erkenntnis Gottes verbunden war. Sie waren nicht bereit, sich der Gerechtigkeit Gottes zu unterwerfen, sonst würden sie sicher nicht daran gedacht haben, ihre eigene Gerechtigkeit – eine Gerechtigkeit aus Gesetzeswerken – aufzurichten (Vers 3). Und wie töricht war ihr Streben, da der Mensch unmöglich das Gesetz, worin eine vollkommene Erfüllung aller Gebote gefordert wird, zu halten imstande ist. Außerdem ist auch Christus des Gesetzes Ende (Vers 4). In Ihm hat das Gesetz mit allem, was damit zusammenhängt, sein Ende gefunden. Das Gesetz fordert wohl eine Gerechtigkeit, aber es gibt keine; und weil der Mensch keine hat, so verurteilt es ihn. Christus nun ist das Ende des Gesetzes und seiner Folgen; und gleichzeitig ist Er der Gegenstand des Glaubens und für den Glaubenden die Gerechtigkeit. Der ganze Grundsatz des ersten Adams, nämlich der Grundsatz der Verantwortlichkeit des Menschen vor Gott, hat in Christus völlig sein Ende gefunden. In Ihm ist alles auf eine neue Grundlage gestellt. Er ist selbst die Gerechtigkeit Gottes – eine Gerechtigkeit, die das Teil jedes Glaubenden wird und in der er von Gott angenommen ist.

Der Apostel stellt hier also die Wahrheit, dass Christus des Gesetzes Ende ist, klar und bestimmt fest; aber gleichzeitig liefert ihm das 5.Buch Mose einen unerwarteten Beweis zu diesem von ihm aufgestelltem Grundsatz. Er führt aus diesem Buch einige Stellen an, die Mose dort zu dem Volk Israel spricht. Sie enthielten den einzigen Ausweg für dieses Volk, wenn unter dem Gesetz alles verloren war, wenn die Züchtigung des Herrn sie wegen ihrer Übertretungen fern unter die Nationen verstoßen hatte. Wir wissen, dass die Gerechtigkeit eines Juden in dem Beobachten des Gesetzes mit allen seinen Vorschriften und Satzungen bestand; und diese Satzungen waren mit der Niederlassung Israels im Land Kanaan verbunden und konnten auch nur da erfüllt werden, wo Gott seinen Altar aufgerichtet hatte. Sobald aber Israel weggeführt war, war es unmöglich, eine Gerechtigkeit zu erlangen. Auf diesem Weg war ihnen, solange sie in der Gefangenschaft waren, jede Umkehr zu Gott abgeschnitten. Deshalb eröffnet ihnen Gott im Voraus in diesem Kapitel aus 5.Mose einen neuen Weg, um wieder mit Ihm in Verbindung treten zu können. Er verkündigt ihnen den Weg zu Ihm durch Glauben. Wir lesen in Kap 30,1: „Wenn alle diese Worte über dich kommen, der Segen und der Fluch, die ich dir vorgelegt habe; und du es zu Herzen nimmst unter all den Nationen, wohin der Herr, dein Gott, dich vertrieben hat...“. Dann lesen wir in den Versen 11–14, die der Apostel in dem vorliegenden Kapitel auch anführt: „Denn dieses Gebot, das ich dir heute gebiete, ist nicht zu wunderbar für dich und ist nicht fern. Es ist nicht im Himmel, dass du sagen könntest: Wer wird für uns in den Himmel steigen und es uns holen und es uns hören lassen, dass wir es tun? Und es ist nicht jenseits des Meeres, dass du sagen könntest: Wer wird für uns jenseits des Meeres hinüberfahren und es uns holen und es uns hören lassen, dass wir es tun? Sondern sehr nahe ist dir das Wort, in deinem Mund und in deinem Herzen, damit du es tust“.

Diese Worte eröffneten für Israel den Weg des Glaubens. Doch Mose stellte erst dann die Gerechtigkeit auf dem Grundsatz des Glaubens vor, als es, wie wir aus den vorhergehenden Versen gesehen haben, mit der Erlangung einer Gerechtigkeit auf dem Grundsatz des Gesetzes zu Ende war. Israel befand sich seines Ungehorsams wegen in Gefangenschaft. Das Gesetz hatte also getan, was es tun konnte: es hatte Israel als Übertreter offenbart, und der Übertretung wegen war der Zorn des Herrn auf ihm. Alles war jetzt verloren. Sie waren unter dem Gericht; und seitens des Gesetzes war nichts mehr zu erwarten „Der Herr hat sie herausgerissen aus ihrem Land im Zorn und im Grimm und in großem Unwillen, und hat sie in ein anderes Land geworfen, wie es an diesem Tage ist“ (5. Mo 29,27). Bleibt aber für Israel keine Hoffnung, um zurückkehren zu können? Mose fügt in Vers 28 hinzu: „Das Verborgene ist des Herrn, unseres Gottes; aber das Offenbarte ist unser und unserer Kinder in Ewigkeit, damit wir alle Worte dieses Gesetzes tun“.

Das Offenbarte enthielt die Vorschriften ihres Verhaltens, die in diesen Worten zusammengefasst werden können: Gehorcht, und ihr werdet im Land bleiben; wenn aber nicht, so werdet ihr vertrieben werden. Sie gehorchten aber nicht und wurden deshalb vertrieben. Was aber ist das Verborgene? Die Gnade bei Gott für die Zeit, wenn Israel sich unter dem Gericht befinden sollte. Das ist der Hauptgegenstand der prophetischen Zeugnisse.

Die Verbindung dieser zwei Kapitel (5. Mo 29 und 30) offenbart uns also einen ganz neuen Grundsatz, dass nämlich, wenn die Erfüllung des Gesetzes unmöglich geworden, wenn Israel seines Ungehorsams wegen aus seinem Land vertrieben war, Gott dieses Volk, wenn es sich von Herzen zu Ihm wenden würde, wieder annehmen würde. Israel mochte noch so weit von Gott entfernt sein, es durfte im Geist immer wieder zum Herrn zurückkehren, und zwar auf dem Grundsatze des Glaubens. Das Gesetz war übertreten, und infolgedessen war Israel unter dem Gericht; aber die Gerechtigkeit des Glaubens sagte jedem, der fragte: Wo muss ich hingehen, um das Verlorene wiederzuerlangen? dass er sich im Glauben zu Gott wenden möchte: „Sage nicht in deinem Herzen...“ (Vers 6). Paulus beantwortet solche Überlegungen des Herzens Gott gemäß. Es war unnötig, in den Himmel hinaufzusteigen, um Christus herunterzuführen (Verse 6 und 7), weil von Gott das Wort zu ihnen gekommen war. Es handelte sich nur darum, dieses Wort zu glauben. „Das Wort ist dir nahe, in deinem Mund und in deinem Herzen; das ist das Wort des Glaubens, das wir predigen, dass, wenn du mit deinem Mund Jesus als Herrn bekennst und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn aus den Toten auferweckt hat, du errettet werden wirst. Denn mit dem Herzen wird geglaubt zur Gerechtigkeit, mit dem Mund aber wird bekannt zum Heil“ (Verse 8–10). Herrliche Verheißung! – so einfach und bestimmt und sogar noch bestätigt durch eine Anführung aus dem Alten Testament: „Jeder, der an Ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden“ (Vers 11).

Die Worte in deinem Mund und in deinem Herzen stehen in 5. Mose 30 im Gegensatz zu der buchstäblichen Beobachtung des Gesetzes. Eine solche Beobachtung war unmöglich, weil die Israeliten dort schon als zerstreut und in Gefangenschaft betrachtet werden, weit entfernt von ihrem Land und dem Altar des Herrn, wo allein das Gesetz seine buchstäbliche Anwendung finden konnte; das Wort Gottes allein war jetzt noch fähig, in den Mund und das Herz eines Israeliten zu kommen, und es war gekommen. Er hatte ebenso wenig nötig, hinauf nach Jerusalem zu gehen, als es auch nicht nötig war, hinauf in den Himmel zu steigen. Der Glaube ist jetzt für den Juden wie auch für alle das einzige Mittel, um Gott zu nahen.

Es ist auffallend, dass der Apostel hier nicht sagt: wenn du mit deinem Herzen liebst, oder wenn dein Herz so ist, wie es vor Gott sein muss, sondern: wenn du mit deinem Herzen glaubst. Man glaubt mit dem Herzen, wenn man mit einem solchen Herzen glaubt, das an der Sache, woran es glaubt, ein wirkliches Interesse hat – wenn man mit der Wahrheit beschäftigt ist und wünscht, dass das, was gepredigt wird, Wahrheit ist – wenn man die Sache wünscht und gleichzeitig an ihrer Wahrheit nicht zweifelt. Man glaubt nicht an den Anteil, den man an dem Gegenstand des Glaubens hat, sondern an den Gegenstand selbst. Es handelt sich hier nicht um menschliche Gefühle, sondern um die Wichtigkeit und die Wahrheit dessen, was dem Menschen im Wort vorgestellt wird. Der Mensch fühlt, dass er das wirklich braucht, was zu seinem Heil offenbart ist, und darum muss er dieses Heil in seiner ganzen Tragweite als Gegenstand seines Glaubens haben; sein Glaube muss auf eine Wahrheit gerichtet sein, die ihm, weil sie auf dem Zeugnis Gottes beruht, völlige Sicherheit gibt. Der Gegenstand des Glaubens ist auch nicht die Gewissheit seiner Errettung, sondern Gott versichert dem, der glaubt, dass die Errettung sein Eigentum ist. Der Glaube zeigt sich in dem Bekenntnis des Namens des Herrn und beweist gerade darin seine Aufrichtigkeit. Wenn jemand überzeugt ist, dass Jesus der Christus ist und weigert sich, Ihn zu bekennen, so wird ihm seine Überzeugung von der Wahrheit die größte Verdammnis einbringen. Der Glaube des Herzens zeigen sich in dem Bekenntnis des Mundes; und das Bekenntnis des Mundes ist der Beweis der Aufrichtigkeit des Glaubens.

Dieses, mit dem Herzen glauben, ist ein Punkt, womit der Geist des Menschen viel beschäftigt ist und dessen Verständnis manchem so schwer wird, selbst wenn er aufrichtig ist, weil so viel Unglaube und eigene Gerechtigkeit bei ihm zurückbleibt. Eine erweckte Seele fühlt Bedürfnis nach Frieden und nach Übereinstimmung mit Gott; aber sie sucht dieses meist auf verkehrte Weise; anstatt zu glauben, dass Gott uns schon geliebt hat, als wir noch Sünder waren, macht sie die Liebe Gottes von ihrer Liebe abhängig- und doch lieben wir nur, weil Er uns zuerst geliebt hat. Gott hat in seiner Liebe ein Werk für uns vollbracht nach unseren Bedürfnissen. Er hat Jesus gegeben, und Jesus hat alles vollbracht, was nötig war, um uns die göttliche Gerechtigkeit besitzen zu lassen. Jeder, der erkennt, dass er ein verlorener Sünder ist und an Jesus glaubt, darf sich seiner Errettung sicher sein, weil Gott selbst es versichert. Es ist daher ganz klar, dass, wenn diese Segnung jedem gehört, der an Jesus glaubt, dann sowohl der Heide als auch der Jude Teil daran hat: „Denn es ist kein Unterschied zwischen Jude und Grieche, denn derselbe Herr von allen ist reich für alle, die Ihn anrufen“ (Vers 12). Es ist sehr schön, hier aufs Neue diesen Ausdruck zu finden: da ist kein Unterschied. Der Apostel hat diesen Ausdruck schon in Kap 3,22 benutzt und hinzugefügt: „denn alle haben gesündigt“. Die Sünde stellt alle Menschen vor Gott gleich, und hinsichtlich der Gnade ist ebenfalls kein Unterschied; denn derselbe Herr ist reich für alle: ,,denn jeder, der irgend den Namen des Herrn anruft, wird errettet werden“ (Vers 13).

Auf diese Erklärung gründet nun der Apostel eine andere Behauptung, mit der er die Wege Gottes, die durch seinen Dienst erfüllt wurden, rechtfertigt. Die Schriften der Juden erklärten, dass jeder, der den Namen des Herrn anrufen würde, errettet werden sollte. Die Juden wussten aber, dass die Heiden den Namen des lebendigen und wahrhaftigen Gottes nicht kannten. Der Apostel musste den Nationen deshalb diesen Namen verkündigen, damit sie Ihn anrufen könnten, wie geschrieben steht: „Wie lieblich sind die Füße derer, die das Evangelium des Guten verkündigen“ (Verse 14 und 15). Paulus behandelt diesen Gegenstand mit den Juden, und darum war es nötig, sich auf die Autorität ihrer eigenen Schriften zu berufen. Die Stelle nun, die er hier anführt, offenbart einen Grundsatz, der sowohl in der Evangelisation unter den Juden als auch unter den Heiden seine Anwendung findet. Und in Wahrheit fand der Jude nicht im Gesetz dessen Verwirklichung; denn das Gesetz war nicht die Verkündigung einer frohen Botschaft. Dennoch hatte Israel das Evangelium gehört, und um das zu beweisen, führt Paulus eine Stelle aus Jesaja an, die erklärt, dass Israel an eine Predigt, an eine offenbar verkündigte Wahrheit nicht geglaubt hatte. Es muss also der Glaube an eine offenbarte Wahrheit vorhanden sein – an eine Wahrheit, die im Wort verkündigt ist (Verse 16 und 17).

Die Verkündigung dieser Wahrheit hatte stattgefunden. Israel war ohne Entschuldigung; und nicht allein Israel, sondern auch die Heiden – alle, sowohl Juden als Heiden, hatten diese Wahrheit gehört; denn „ihr Schall ist ausgegangen zu der ganzen Erde und ihre Sprache zu den Grenzen des Erdkreises“ (Vers 18). Wenn man die hier angeführten Worte aus Psalm 19 mit dem folgenden Teil des Psalms vergleicht, so ist da eine scheinbare Schwierigkeit vorhanden. Man bedenke aber, dass der Apostel diese Stelle nicht als ein prophetisches Wort anführt, sondern allein, um den Juden aus ihren eigenen Schriften zu beweisen, dass das Zeugnis der Wahrheit in den Gedanken Gottes allgemein war. Er will ihnen hiermit zeigen, dass Gott nicht allein zu ihnen, sondern auch zu den Heiden gesprochen hatte und dass also sein Wort überall hingelangt war. Und indem er sich jetzt ganz bewusst an Israel wendet, sagt er: „Hat Israel es etwa nicht erkannt?“ Hat es nicht gewusst, dass dieses Zeugnis auch zu den Heiden gekommen ist, dass die Gnade auch ihnen verkündet wurde, um sie in Verbindung mit Gott zu bringen? Gewiss; denn Mose hat schon gesagt, dass Gott sein Volk eifersüchtig machen würde über ein unverständiges Volk (Vers 19); und Jesaja hat sich erkühnt, ganz bestimmt zu sagen, dass Gott von einem Volk gefunden werden würde, das Ihn nicht suchte – und über Israel sagte er, dass Gott den ganzen Tag seine Hände zu einem ungehorsamen und widersprechenden Volk ausgestreckt habe – mit einem Wort: es war zuverlässig angekündigt, dass die Nationen Gott finden und Israel sich gegen Ihn auflehnen würde.

Ganz deutlich und klar hat nun der Apostel den Zustand der Juden und Heiden ohne Rückhalt und Schonung vorgestellt. Die Heiden sind angenommen, Israel ist in Feindschaft. Das ist das Zeugnis der Propheten. Hierauf folgt jetzt unmittelbar die natürliche Frage: „Hat Gott etwa sein Volk verstoßen?“ – und auf diese Frage finden wir in Kapitel 11 eine ausführliche Antwort.

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