Der Brief an die Römer

Kapitel 12

Der Brief an die Römer

Der Apostel stellt den Christen auf den Boden des Erbarmens Gottes als der alleinigen Quelle seiner Errettung. Und dieses Erbarmen soll auch jetzt den Erretteten willig machen, in völligem Gehorsam nur dem zu leben, nur dem sich ganz zu weihen, der ihn errettet hat „Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Erbarmungen Gottes, eure Leiber darzustellen als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer, was euer vernünftiger Dienst ist“ (Vers 1). Diese Worte bezeichnen den wahren Charakter unseres ganzen christlichen Lebens auf der Erde. Sie fordern uns auf, unser Leben als ein Opfer darzustellen. Wir können das tun, weil wir in Christus zu guten Werken geschaffen sind (Eph 2,10); und wir sind auch schuldig, es zu tun, weil wir mit Leib und Seele dem angehören, der uns mit seinem Blut erkauft hat. Gott verlangt von seinen Kindern einen vernünftigen Dienst – nicht einen Dienst durch die Hände allein, noch einen Dienst, der in Zeremonien besteht, den auch der natürliche Mensch vollbringen könnte, sondern einen Dienst, in Geist und in Wahrheit. Er erwartet die völlige Hingabe unserer ganzen Person, mit allem, was wir besitzen. Diese Widmung, diese völlige Hingabe unserer selbst ist als Opfer, das wir Gott darbringen, in jeder Beziehung den früheren Opfern unter dem Gesetz entgegengesetzt. Der Christ soll völlig aufhören, ein Jude zu sein. So wie das Erbarmen Gottes, der alleinige Grund seiner Errettung, im Gegensatz zum Gesetz steht, so steht auch dieses lebendige, heilige, Gott wohlgefällige Opfer im Gegensatz zu den zeremoniellen Opfern der toten Tiere – zu den Opfern, die mit jenem Gesetz in Verbindung standen.

Der Christ soll aber nicht nur von den Systemen der religiösen Zeremonien getrennt sein, sondern auch von der Welt; er soll ebenso wenig ein Heide wie ein Jude sein. „Seid nicht gleichförmig dieser Welt, sondern werdet verwandelt durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr prüfen mögt, was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist“ (Vers 2). Durch diese Erneuerung unseres Sinnes sind wir von dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf getrennt. Das Kreuz Christi hat diese Trennung bewirkt; kein geringeres Mittel war dazu in der Lage. Jetzt sind wir mit dem auferstandenen Christus vereinigt, und sein Kreuz bildet die Scheidewand zwischen uns und der Welt. Die Welt ist uns gekreuzigt und wir der Welt, und darum ist, bis zu der Zeit des Wiederkommens Christi, um die Herrschaft über diese Welt einzunehmen, die Gleichförmigkeit mit der Welt Feindschaft gegen das Kreuz Christi. Das Resultat der geistlichen Energie in der Seele wird die Absonderung von der Welt, von ihren Grundsätzen und Wegen sein, und durch diese Energie wird unser ganzes Wesen mehr und mehr in eine praktische Gleichförmigkeit mit der Natur und dem Charakter Gottes verwandelt. Diese Absonderung von der Welt ist also keine äußerliche und materielle, sondern eine innerliche. Der Zweck unserer Erneuerung ist, den guten und wohlgefälligen und vollkommenen Willen Gottes zu prüfen und zu erkennen. Wir sind von Gott selbst dazu befähigt; denn der Heilige Geist wohnt in uns, und dieser nimmt alles, was in Christus ist – und Christus ist das Ebenbild des Wesens Gottes – um es uns zu offenbaren. Gleichzeitig ist Er die in uns wohnende Kraft, um nach dieser Offenbarung des Willens Gottes leben und handeln zu können. Köstliches Vorrecht der Erlösten!

In diesen zwei Versen stellt uns der Heilige Geist also den Charakter des christlichen Lebens vor – die Grundsätze unseres Verhältnisses zu Gott. Wir haben hier in wenigen Worten den Wandel des Christen in seiner ganzen Tragweite. Sich völlig Gott zu widmen und von der Welt sich selbst unbefleckt zu erhalten (Jak 1,27), ist der Inbegriff des christlichen Lebens, und der Heilige Geist nennt es unseren vernünftigen Dienst. Hiermit verwirft Er aber alles, was von dem natürlichen Menschen stammt. Mag es auch einen noch so schönen Schein haben, mag es noch so lieblich dargestellt und hochgeschätzt werden – alles, was natürlich, was fleischlich ist, muss verschwinden, und das nicht allein in unserem äußeren Wandel, sondern auch in unserer Gesinnung vor Gott. Gott erlaubt kein Abweichen von seinem Wort, sei es auch noch so gering; Er nimmt keine Entschuldigung an, selbst wenn es sich, wie man zu sagen pflegt, nur um äußerliche Dinge handelt. Er erwartet einen vollkommenen Gehorsam von seinen Kindern. O möchten wir diesen Gehorsam immer als ein gesegnetes Vorrecht und als das wahre Ergebnis unserer Befreiung in Christus beherzigen und verwirklichen!

Die Worte, mit denen der Apostel nun seine weiteren Ermahnungen einleitet, sind sehr bemerkenswert „Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben worden ist, jedem, der unter euch ist...“ (Vers 3). Er fühlt, dass es nötig ist, selbst im vollen Licht zu stehen, um fähig zu sein, andere zu ermahnen. Er war sich bewusst, dass die Gnade ihm gegeben war und dass er durch den Herrn befähigt war, anderen mit derselben zu dienen und auf diese Weise an ihrem geistlichen Wohl mitzuwirken.

In den Versen 3–8 spricht der Apostel dann von unserer Beziehung zueinander als Glieder des Leibes Christi. Das ist die einzige Stelle in diesem Brief, in der von der Versammlung als dem Leib des Christus die Rede ist; und diese Erwähnung geschieht hier in Bezug auf die Pflichten der einzelnen Glieder dieses Leibes. Diese Stelle ausgenommen, behandelt der Apostel in diesem Brief den Zustand des Menschen in seiner persönlichen Verantwortlichkeit vor Gott.

Alle Christen zusammen bilden einen Leib, den Leib des Christus; alle sind durch denselben Glauben verbunden, durch denselben Geist beseelt und mit derselben Liebe geliebt. Jesus, das Haupt des Leibes, ist im Himmel, und aus Ihm fließt aller Trost, alle Kraft, alle Gnade, ja, aller Reichtum seiner Segnungen. Der Leib aber ist noch auf der Erde, und darum sind wir als Leib, als ein Ganzes, in unserem Wandel gegenüber der Sünde, der Welt und dem Teufel verantwortlich. Wir sind also nicht nur in unserem persönlichen Wandel vor Gott verantwortlich, sondern auch als Glieder dieses Leibes, weil durch diese Stellung Verpflichtungen von allgemeinem Interesse für diesen Leib auf uns ruhen. Jedes Glied dieses Leibes hat seinen besonderen Platz, der ihm durch den Herrn selbst angewiesen ist; jeder hat seine besondere Gabe, die er zum Nutzen aller gebrauchen muss. Das Haupt vertraute ihm diese Gabe an – nicht um sie in dem Schweißtuch zu vergraben, sondern um sie zu gebrauchen und damit zu handeln. Jesus teilte jedem eine oder mehrere Gaben mit, nicht aber einem Glied alle Gaben; und darum ist auch das eine Glied von dem anderen abhängig. Hat der eine die Gabe der Weissagung, so hat der andere die der Lehre, und also haben beide einander nötig und sind einander nützlich. Sobald das aber vergessen wird, entsteht als notwendige Folge davon Schaden für das geistliche Wachstum und so auch Schaden für den ganzen Leib; denn wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit. Beim Gebrauch dieser Gabe aber ist es zuerst erforderlich, ein demütiges Herz zu haben; ein Herz, das sich nicht seiner Gaben, seiner größeren Erkenntnis oder Vortrefflichkeit rühmt, sondern das sich bewusst ist, dass alles, was es besitzt, nicht von ihm selbst kommt, sondern ihm aus Gnade geschenkt ist. Deshalb ist auch die Ermahnung in Vers 3 hier vollkommen an ihrem Platz, nämlich „nicht höher von sich zu denken, als zu denken sich gebührt“. Ein bescheidenes und demütiges Herz allein ist fähig, Gott und anderen zu dienen. Stellen wir uns selbst höher, als Gott uns gestellt hat, so sind wir nicht imstande, für den Leib zu wirken. Wir können nur dann gesegnet sein, wenn wir die uns mitgeteilten Gaben, und nur diese, zum Nutzen anderer und zur Verherrlichung des Herrn mit Treue gebrauchen (Verse 6–8).

In den folgenden Versen 9–18 richtet dann der Apostel eine Menge besondere Ermahnungen an das christliche Gewissen – Ermahnungen, die nicht nur auf unsere gegenseitigen Verpflichtungen als Glieder eines Leibes, sondern auch auf die vollkommene Offenbarung des Lebens Christi in unserem Wandel durch die Welt und in unseren Versuchungen in der Welt Bezug haben. So kurz und einfach alle diese Ermahnungen sind, so tiefgehend und beherzigenswert wird der Gläubige sie finden, wenn er sie mit Aufmerksamkeit betrachtet. Vers 9 kann wohl als Schlüssel von allen folgenden Ermahnungen bezeichnet werden, da er uns die Liebe, die wahre Quelle aller guten und wohlgefälligen Werke vorstellt. Die Liebe des Christus ist die einzige Quelle und das allein würdige Vorbild unserer Liebe untereinander und zu Gott. Fehlt diese, dann haben alle Gaben keinen Wert. Sie wohnt in uns, und durch sie ist es uns möglich, die geistliche Unterscheidungsgabe zu besitzen, die das Verabscheuen des Bösen und das Festhalten am Guten in uns bewirkt. Sie bewirkt, dass wir uns selbst, unsere eigene Freude, unsere eigenen Wünsche und Gefühle vergessen und verleugnen und die Freude und das Wohlergehen anderer suchen und fördern. Sie macht uns gleichförmig dem Bild dessen, der in Sanftmut und Demut auf der Erde lebte, der seinen Feinden vergab, der segnete, wenn Er verfolgt und Gutes tat, wenn er gescholten wurde – kurz, der sich völlig selbst vergaß, um anderen zu dienen. Sie macht, dass wir unseren Blick freudig emporheben, indem wir das Bewusstsein im Herzen tragen, dass unser Vaterland nicht hier, sondern im Himmel ist.

Schließlich wollen wir noch einen Blick auf die Ermahnungen der Verse 19–21 richten. Wenn in Vers 19 gesagt wird: „Gebt Raum dem Zorn“, so ist damit der Zorn des Menschen gemeint. Der Gläubige soll sich dem Zorn nicht widersetzen, sondern soll ihm aus dem Weg gehen, ihm Platz machen; er soll sich nicht selbst rächen, sondern alle Rache dem überlassen, der gesagt hat: „Mein ist die Rache, ich will vergelten“. Der Herr übergab sich immer dem, der recht richtet, und ebenso sollen wir tun. Wir wandeln in seinen Fußstapfen und verwirklichen seine Gesinnung, wenn wir in allem Unrecht geduldig ausharren.

Feurige Kohlen auf jemandes Haupt sammeln (Vers 20) ist ein kennzeichnender Ausdruck für die Wirkung, die auf das Gemüt eines Feindes ausgeübt wird, dem man Gutes für Böses vergilt. Gebe ich meinem Feind, wenn er hungrig ist, zu essen, gebe ich ihm, wenn er durstig ist, zu trinken, so wird er sich durch diese meine Handlungsweise beschämt fühlen, und es wird ihm ebenso unerträglich sein, als häufe ich feurige Kohlen auf sein Haupt. Und weiter werden wir ermahnt: „Lass dich nicht von dem Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit dem Guten“ (Vers 21). Wir befinden uns inmitten des Bösen, und Gott fordert uns darin auf, seine Nachahmer zu sein; denn es ist gerade sein Werk und seine besondere Freude, das Böse mit Gutem zu überwinden. Hiervon ist die Hingabe seines Sohnes das ewig bleibende und alles übertreffende Zeugnis; und wenn wir uns durch seinen Geist leiten lassen, so werden wir auch in seiner Gesinnung leben. O möchten unsere Füße immer auf diesem Weg des Friedens gehen!

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