Botschafter des Heils in Christo 1885

Christus predigen - Teil 1/3

„Philippus aber ging hinab in eine Stadt Samarias und predigte ihnen den Christus“ (Apg 8,5). Diese kurzen und einfachen Worte enthalten ein wichtiges, charakteristisches Merkmal des wahren Christentums, ein Kennzeichen, welches dasselbe von jedem religiösen System unterscheidet, das heute besteht oder je in dieser Welt bestanden hat. Das Christentum ist nicht eine gewisse Anzahl von Lehrsätzen, Zeremonien und Satzungen, nicht ein wohl durchdachtes, mit vielem Fleiß aufgestelltes theologisches System, sondern vielmehr eine Religion, die aus lebendigen Tatsachen, aus göttlichen Wirklichkeiten besteht, und die ihren Mittelpunkt in einer göttlichen Person findet – in dem Menschen Christus Jesus. Er ist die Grundlage aller christlichen Lehre. Von seiner göttlichen und gesegneten Person geht alle Wahrheit aus. Er ist die lebendige Quelle, aus welcher die Ströme göttlicher Wahrheit in Fülle, Kraft und Segnung hervorfließen. „In Ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen“ (Joh 1,4). Außer Ihm ist alles Tod und moralische Finsternis. Es gibt in dieser ganzen Welt keinen Funken göttlichen Lebens, keinen Strahl wahren Lichts, außer dem, was von Ihm ausgeht. Ein Mensch mag die größte Gelehrsamkeit besitzen, er mag in dem so genannten hellen Licht der Wissenschaft wandeln, sein Name mag infolge seines tiefen Wissens mit allen den Ehren und Titeln geschmückt sein, die seine Mitmenschen über ihn ausschütten können; aber wenn er nicht in Wahrheit zu Jesu gekommen ist, wenn er nicht in Christus und Christus in ihm ist, wenn er, mit einem Wort, nicht geglaubt hat an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes, so ist er von Tod und Finsternis umgeben. Christus allein ist „das wahrhaftige Licht, welches, kommend in die Welt, jeden Menschen erleuchtet“; und daher kann niemand, in dem göttlichen Sinne des Wortes, ein Erleuchteter, ein Kind des Lichts, genannt werden, er sei denn „ein Mensch in Christus.“

Es ist notwendig, in einer Zeit, wo menschlicher Stolz und menschliche Anmaßung sich so breit machen, dies immer wieder mit aller Entschiedenheit zu betonen. Der Mensch rühmt sich so gern seines Verstandes, der Fortschritte der allgemeinen Bildung und Aufklärung, der großartigen Entdeckungen und Erfindungen des neunzehnten Jahrhunderts, der hohen Blüte, in welcher Künste und Wissenschaften stehen; er redet so gern von alledem, was sein Verstand ersonnen und seine Hände hervorgebracht haben. Und wir leugnen nicht, dass in der Tat große Fortschritte gemacht worden sind, dass der Mensch im Allgemeinen auf einer Stufe der Bildung steht, wie sie vielleicht nie vorher erreicht worden ist; aber wir fühlen uns gedrungen, mit Nachdruck auf die Worte unseres Herrn und Meisters hinzuweisen: „Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern das Licht des Lebens haben“; und: „Ich bin in die Welt gekommen als Licht, auf dass jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe“ (Joh 8,12; 12,46). Da haben wir die einfache, bestimmte Erklärung: „Wer mir nachfolgt“, und: „jeder, der an mich glaubt.“ Leben und Licht sind nur in Jesu zu finden. Solange daher ein Mensch nicht an Jesus geglaubt hat und Ihm nachfolgt, befindet er sich noch im Tod und in dichter moralischer Finsternis.

Ohne Zweifel wird man uns einseitig und engherzig nennen und uns den Vorwurf machen, dass wir immer mit ein und derselben Sache beschäftigt seien und uns stets um ein und denselben Mittelpunkt drehen. Es sei so; ja, wir wünschen, dass es immer mehr der Fall sein möchte! Aber wer ist dieser eine Mittelpunkt? – Christus. Ja, Er allein ist es, und gepriesen sei sein herrlicher Name, dass wir von Ihm reden dürfen und Ihn als unser höchstes Gut besitzen! Er ist die Summe und der Gegenstand aller Gedanken und Ratschlüsse, die von Ewigkeit her in dem Herzen Gottes waren. Er ist der Mittelpunkt im Himmel, der Gegenstand der Liebe und der Zärtlichsten Zuneigungen Gottes, der Bewunderung der Engel, der Anbetung der Erlösten, der Furcht der Teufel; Er ist das Alpha und Omega, der Anfang und das Ende der Ratschlüsse Gottes.

Kann es uns da wundern, dass Satan unaufhörlich bemüht ist, die Seelen davon abzuhalten, zu Jesu zu eilen, und diejenigen, welche bereits zu Ihm gekommen sind, von Ihm wieder abzuziehen? Er hasst Christus, und er benutzt jedes Mittel, um ein Herz von Christus zu entfernen. Sorgen und Vergnügungen, Armut und Reichtum, Krankheit und Gesundheit, Laster und Sittlichkeit, Unglaube und Religiosität – alles ist ihm recht, wenn er nur dadurch Christus aus dem Herzen eines Menschen fernhalten kann.

Auf der anderen Seite ist es der stete Zweck des Heiligen Geistes, Christus selbst vor die Seele zu stellen; nicht nur etwas über Christus, Lehren oder Grundsätze, die mit Ihm in Verbindung stehen, sondern Christus selbst, seine eigene Person in lebendiger Kraft und Frische. Wir können nicht eine Seite des Neuen Testaments lesen, ohne dies zu bemerken. Und zwar finden wir, wenn wir die Schrift in Verbindung mit unserem Gegenstand erforschen, den Herrn Jesus in drei verschiedenen Charakteren oder von drei besonderen Gesichtspunkten aus vorgestellt; nämlich als einen Prüfstein, als ein Opfer und als ein Vorbild oder Muster. Ein jeder dieser drei Charakterzüge ist in sich selbst voll der ernstesten und köstlichsten Belehrungen für den christlichen Leser, und in ihrer Gesamtheit eröffnen sie vor unseren Augen ein weites und höchst ergiebiges Feld gesegneter Betrachtungen. Werfen wir denn zunächst, unter der Leitung des Heiligen. Geistes, einen Blick auf Christus als Prüfstein.

Das Leben des Herrn Jesus als Mensch auf dieser Erde war die vollkommene Entfaltung dessen, was ein Mensch sein sollte. Wir entdecken in Ihm und in seinem Leben zwei Charakterzüge, welche die Vollkommenheit eines Geschöpfs kennzeichnen: Gehorsam und Abhängigkeit. Obgleich Er Gott war über alles, der allmächtige Schöpfer und Erhalter des Weltalls, obgleich Er sagen konnte: „Ich kleide die Himmel in Schwarz und mache einen Sack zu ihrer Decke“, so nahm Er doch so völlig den Platz eines Menschen auf dieser Erde ein, dass Er sagt: „Der Herr, Jehova, hat mir eine Zunge der Gelehrten gegeben, dass ich wisse, mit dem Müden ein Wort zu reden zu rechter Zeit. Er erweckt alle Morgen, Er erweckt mir das Ohr, dass ich höre gleich Lehrlingen. Der Herr, Jehova, hat mir das Ohr geöffnet, und ich bin nicht widerspenstig gewesen, ich wich nicht zurück“ (Jes 50,3; 4,5). Er tat nie einen Schritt ohne göttliche Autorität. Wenn der Teufel Ihn versuchte, ein Wunder zu tun, um seinen Hunger zu stillen, so antwortete Er: „Es steht geschrieben: Nicht vom Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jedem Wort, das durch den Mund Gottes ausgeht.“ Er war stets bereit, ein Wunder zu tun, wenn es sich um die Speisung anderer handelte; aber wenn es galt, für sich selbst Speise zu schaffen, so erklärte Er seine völlige Abhängigkeit von Gott. Wenn der Teufel Ihn ferner versuchte, sich von der Zinne des Tempels hinabzuwerfen, so lautete seine Antwort: „Wiederum steht geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.“ Er hatte kein Gebot von Gott, sich hinab zu stürzen, und ohne ein solches konnte Er nichts tun; es wäre ein Gott–Versuchen gewesen. Und wenn endlich Satan Ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit anbot, unter der Bedingung, dass Er vor ihm niederfalle und ihn anbete, so entgegnete Er: „Gehe hinweg, Satan! denn es steht geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und Ihm allein dienen.“

Mit einem Wort, der Mensch Christus Jesus war vollkommen gehorsam. Nichts konnte Ihn bewegen, den schmalen Pfad des Gehorsams um eines Haares Breite zu verlassen. Er war von Anfang bis zu Ende der gehorsame Mensch. Es war völlig gleich für Ihn, wo Er diente oder was Er tat. Er handelte nur auf die Autorität des Wortes Gottes hin. Sein Gehorsam war unbedingt und ununterbrochen von der Krippe bis zum Kreuz, und gerade deshalb war Er der Gegenstand des besonderen Wohlgefallens Gottes. Denn durch seinen Gehorsam bewies Er seine Vollkommenheit als Mensch, und nichts weniger als das konnte Gott befriedigen. Das Leben Jesu hienieden war ein steter, unaufhörlicher Genuss für das Herz Gottes. Sein vollkommener Gehorsam ließ allezeit eine Wolke duftenden Weihrauchs zu dem Thron Gottes emporsteigen.

Nun, ein solcher Gehorsam geziemte dem Menschen, als Geschöpf seinem Schöpfer gegenüber. Wir haben deshalb in Christus und seinem Leben einen vollkommenen Prüfstein für den Zustand des Menschen; und wenn wir uns in dem Licht dieses einen Strahls der moralischen Herrlichkeit Christi betrachten, so können wir nicht anders, als erkennen, dass wir von dem wahren und dem einzig geziemenden Platze eines Geschöpfs völlig abgewichen sind. Das Licht, welches das Verhalten Jesu hienieden auf uns ausstrahlt, offenbart mehr, als irgendetwas anders es zu tun vermöchte, die ganze moralische Finsternis unseres natürlichen Zustandes. Wir sind ungehorsam, eigenwillig, folgen unseren eignen Lüsten und Begierden, haben die Autorität des Wortes Gottes verworfen und lassen uns nicht durch dasselbe leiten und regieren. „Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott; denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie vermag es auch nicht“ (Röm 8,7).

Indes möchte gefragt werden: „Ist es nicht das Gesetz, welches den Eigenwillen und die Feindschaft unserer Herzen offenbar macht?“ Ohne Zweifel tut dies das Gesetz; aber wer vermöchte nicht den großen Unterschied zu entdecken Mischen einem Gesetz, das Gehorsam fordert, und dem Sohn Gottes, der als Mensch hienieden das Beispiel eines vollkommenen Gehorsams gab? Nun, soweit wie das Leben und Verhalten unseres gepriesenen Herrn das ganze gesetzliche System an Herrlichkeit übertraf, und soweit wie die Person Christi herrlicher und würdiger ist als die Person Moses, ebenso weit übertrifft Christus, als ein Prüfstein des Menschen und seines Zustandes, in moralischer Kraft das Gesetz Moses; und dasselbe gilt von jedem anderen Prüfstein, den Gott je gebraucht haben mag. Der Mensch Jesus Christus ist in seinem Gehorsam gegen Gott ein so vollkommener Prüfstein für den Menschen in seinem natürlichen Zustand, dass nichts mit Ihm in Vergleich zu bringen ist.

Allein Christus war nicht nur gehorsam gegen Gott, Er war auch ebenso vollkommen in seiner Abhängigkeit von Ihm, und dies ist ein anderer Strahl seiner moralischen Herrlichkeit. Er konnte sagen: „Bewahre mich, o Gott, denn ich traue auf dich!“ (Ps 16,1) Und ferner: „Auf dich bin ich geworfen vom Mutterschoß an“ (Ps 22,10). Er ging niemals für einen Augenblick aus seiner völligen Abhängigkeit von dem lebendigen Gott heraus. Es geziemt dem Geschöpf, in Bezug auf alles von Gott abhängig zu sein. Und das war Jesus allezeit von Bethlehem bis auf Golgatha. Er war der einzige Mensch, der jemals ein Leben ununterbrochener, völliger Abhängigkeit von Gott lebte. Andere waren zum Teil abhängig, Er war es vollkommen. Andere waren es gelegentlich, Er immer. Andere mögen hauptsächlich auf Gott geblickt und zumeist in Ihm ihre Stütze gefunden haben; Er blickte nirgendwo anders hin. Er fand nicht nur einige, oder die meisten, sondern alle seine Quellen in Gott.

Auch dieses war wohlgefällig vor Gott. Einen Menschen hienieden zu haben, dessen Herz keinen Augenblick den Platz der Abhängigkeit verließ, war überaus kostbar für den Vater, und daher sehen wir, wie der Himmel sich wieder und wieder öffnet und das Zeugnis ertönt: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe.“

Wenn aber dieser Charakterzug in dem vollkommenen Leben des Menschen Christus Jesus dem Herzen Gottes so unendlich köstlich war, so liefert er uns einen weiteren mächtigen Prüfstein für den natürlichen Zustand des Menschen. Wir können hier, wie sonst nirgendwo, erkennen, wie weit wir uns von dem einem Geschöpf gebührenden Platze entfernt haben. Allerdings erzählt uns der inspirierte Geschichtsschreiber in 1. Mose 3, wie der erste Adam aus seiner Stellung des Gehorsams und der Abhängigkeit fiel; auch zeigt das Gesetz, dass alle Nachkommen Adams sich in einem Zustand der Empörung und der Unabhängigkeit Gott gegenüber befinden. Aber in welch einem helleren Licht und mit wie viel größerer Kraft wird dieses durch das Leben und Verhalten Jesu Christi in dieser Welt offenbart! In Ihm erblicken wir einen vollkommen gehorsamen und vollkommen abhängigen Menschen, und zwar inmitten eines Schauplatzes, wo Ungehorsam und Unabhängigkeit die Herrschaft führten, und angesichts unaufhörlicher Versuchungen, den Platz, welchen Er freiwillig eingenommen hatte, zu verlassen.

So beweist die vollkommene Abhängigkeit, wie sie in dem Leben Jesu ans Licht trat, den völligen Abfall des Menschen von Gott. Der Mensch in seinem natürlichen Zustand sucht stets von Gott unabhängig zu sein. Wir haben nicht nötig, eingehende Beweise für diese Behauptung aufzustellen. Dieser eine Lichtstrahl, der von der moralischen Herrlichkeit Christi ausgeht und in das Herz des Menschen fällt, legt jeden Winkel und jede Falte dieses Herzens bloß und zeigt in einer Weise, wie nichts anderes es zu tun vermag, wie weit wir von Gott abgewichen und wie unabhängig wir von Natur sind. Je Heller das Licht ist, das auf einen Gegenstand scheint, desto deutlicher und klarer tritt dieser hervor. Es ist ein großer Unterschied, ob ich ein Gemälde in dem Ungewissen Zwielicht des Morgens, oder in dem vollen Licht der Mittagssonne betrachte. So ist es auch im Blick auf den Gegenstand, der uns augenblicklich beschäftigt. Betrachten wir unseren natürlichen Zustand in dem Licht des Gesetzes, oder unseres Gewissens, oder auch der edelsten Grundsätze menschlicher Sittlichkeit, so werden wir wohl erkennen, dass er nicht das ist, was er sein sollte. Aber erst dann, wenn wir den vollen Glanz der moralischen Herrlichkeit Christi auf ihn scheinen lassen, erkennen wir ihn so, wie er wirklich ist. Es ist etwas anders, zu sagen: „Wir haben dieses und jenes getan, was wir nicht hätten tun sollen, und dieses und jenes unterlassen, was besser durch uns geschehen wäre“, als zu erkennen, wie völlig verdorben und zu allem wahren Guten untauglich unsere Natur ist.

Doch es gibt noch einen anderen Charakterzug unseres gesegneten Herrn, den wir hier nicht unerwähnt lassen dürfen, und das ist seine vollkommene Selbstlosigkeit und Uneigennützigkeit. Er suchte nie in irgendeiner Sache sein eigenes Interesse zu verfolgen. Sein Leben war eine beständige, ununterbrochene Selbstaufopferung. „Der Sohn des Menschen ist gekommen, zu dienen und sein Leben als Lösegeld zu geben für viele.“ Diese beiden Worte: „dienen“ und „geben“ bildeten das Motto seines Lebens und standen gleichsam in blutigen Buchstaben an dem Stamm seines Kreuzes. In seinem leidensvollen Leben und in dem noch weit schrecklicheren Tod war Er der Dienende und Gebende. Er war stets bereit, die menschlichen Bedürfnisse zu stillen, in welcher Gestalt sie Ihm auch entgegentreten mochten. An dem einsamen Brunnen zu Sichar sehen wir Ihn einer armen, dürstenden Seele die Quelle des lebendigen Wassers öffnen. Am Teich Bethesda schenkt Er einem elenden, seit 38 Jahren darniederliegenden Krüppel Kraft und Gesundheit; und am Tor von Nain trocknet Er die Tränen einer Witwe und gibt ihr ihren einzigen Sohn zurück.

Alles das, und unendlich weit mehr, tat Er; aber wir sehen Ihn nie seine eigenen Interessen suchen. Wir können diese Tatsache nicht zu oft und zu gründlich erforschen. Wenn wir in dem Licht seines vollkommenen Gehorsams unseren schrecklichen Eigenwillen entdecken, wenn wir ferner in dem Licht seiner unbedingten Abhängigkeit unseren Stolz und unsere Unabhängigkeit sehen, so wird uns auch sicherlich in dem Licht seiner Selbstlosigkeit und Selbstaufopferung unsere grobe Eigennützigkeit und Selbstliebe in ihren tausenderlei Formen nicht verborgen bleiben; und wenn wir sie entdecken, so werden wir uns selbst verabscheuen und vor unserem eignen Bilde erschrecken. Jesus dachte nie an sich selbst; seine Speise und sein Trank war es, den Willen Gottes zu tun und dem Elend und den Bedürfnissen des Menschen zu begegnen.

Wie sehr stellt uns dies auf die Probe! Wie völlig macht es offenbar, was von Natur in uns ist! Wie verurteilt es vor allen Dingen den Menschen dieser Welt! Denn was ist schließlich der Hauptgrundsatz der Natur und dieser Welt? Die Verherrlichung des eignen Ichs. Der Mensch „segnet seine Seele in seinem Leben“, und er, „lobt dich, wenn du dir selbst Gutes tust“ (Ps 49,18). Eigenliebe und Selbstsucht, das sind die eigentlichen Grundsätze, welche das Tun und Lassen eines jeden unerneuerten Menschen beeinflussen und leiten. Ohne Zweifel kann sich die Natur äußerlich in ein sehr liebenswürdiges und einnehmendes Gewand kleiden – sie vermag eben sowohl auszustreuen wie aufzuhäufen; aber wir dürfen versichert sein, dass ein nicht wiedergeborener Mensch unfähig ist, sich von seinem eignen Ich, als dem Mittelpunkt seines Handelns, frei zu machen. Es spielt stets die Hauptrolle. Und gerade das aufopfernde, sich selbst vergessende Leben unseres Herrn und Heilands stellt diese Unfähigkeit des Menschen am deutlichsten ans Licht. Je Heller das Licht scheint, desto schärfer treten die Schatten hervor. Und darum, wenn wir jenes durchdringende Licht, welches aus dem Leben Jesu uns entgegen strahlt, auf uns scheinen lassen, so erkennen wir uns selbst in unserer ganzen natürlichen Verderbtheit und in der selbstsüchtigen Gesinnung unserer Herzen.

Der Herr Jesus kam in diese Welt und lebte ein vollkommenes Leben, vollkommen in Gedanken, in Worten und Werken. Er verherrlichte Gott in der völligsten Weise, und zugleich stellte Er den Menschen auf die höchste Probe. Er offenbarte, was Gott ist, und zeigte zugleich, was der Mensch hätte sein sollen, und dies zeigte Er nicht nur in seiner Lehre, sondern auch in seinem ganzen Wandel und Verhalten. Der Mensch war nie vorher in so erschöpfender Weise geprüft worden, und deshalb konnte der Herr Jesus sagen: „Wenn ich nicht gekommen wäre und nicht zu ihnen geredet hätte, so hätten sie keine Sünde; jetzt aber haben sie keinen Vorwand für ihre Sünde. Wer mich hasst, der hasst auch meinen Vater. Wenn ich nicht die Werke getan hätte unter ihnen, die kein anderer getan hat, so hätten sie keine Sünde; jetzt aber haben sie gesehen und gehasst sowohl mich, als auch meinen Vater“ (Joh 15,22–24).

An einer anderen Stelle sagt Er: „Ihr richtet nach dem Fleisch; ich richte niemanden. Wenn ich aber auch richte, so ist mein Gericht wahr“ (Joh 8,15–16). Der Zweck seiner Sendung war nicht Gericht, sondern Errettung; aber dennoch war die Wirkung seines Lebens ein Gericht über jeden, der mit Ihm in Berührung kam. Es war unmöglich für einen Menschen, in dem Licht der moralischen Herrlichkeit Jesu Christi zu stehen und nicht in den tiefsten Quellen und verborgensten Wurzeln seines Wesens gerichtet zu werden. Als Petrus sich in diesem Licht sah, rief er aus: „Gehe hinaus von mir; denn ich bin ein sündiger Mensch, Herr“ (Lk 5,8).

Weder die Donner und Blitze des Berges Sinai, weder die Drohungen und Flüche eines gesetzlichen Systems, noch alle die Ermahnungen und Warnungen der Propheten Gottes vermochten eine so mächtige Wirkung auf den Menschen auszuüben, als ein einziger Strahl der Herrlichkeit Christus, der in die Seele des Sünders fällt. Ich mag im Blick auf das Gesetz fühlen, dass ich seine Gebote nicht gehalten und seinen Fluch verdient habe; mein Gewissen mag mich erschrecken und mir sagen, dass das höllische Feuer wegen meiner Sünden mit Recht mein Teil ist. Sobald ich mich aber in dem Licht dessen erblicke, was Christus ist, erkenne ich nicht nur, was ich getan habe, sondern auch, was ich bin; jede Quelle, jeder Beweggrund, jede Triebfeder meines Handelns, mein Denken, Fühlen und Wünschen, mit einem Wort, mein ganzes sein und Wesen wird bloßgelegt; und was ist die Folge? Ich verabscheue mich selbst. Es kann nicht anders sein. Die Geschichte des ganzen Volkes Gottes beweist es. Es würde uns zu weit führen, wollten wir Beispiele aufzählen. Das Gesetz ist eine Wirklichkeit, das Gewissen nicht minder, und der Heilige Geist kann das erstere benutzen, um auf das letztere zu wirken; aber erst dann, wenn ich mich in dem Licht dessen sehe, was Christus ist, komme ich zu einem richtigen Urteil über mich selbst und werde dahin geleitet, mit Hiob auszurufen: „Mit dem Gehör des Ohres habe ich von dir gehört; aber nun sieht dich mein Auge. Darum verabscheue ich mich und bereue in Sack und Asche“ (Hiob 42,5–6).

Mein Leser, hast du dich je in dieser Weise gesehen? Bist du wirklich einmal in der heiligen Gegenwart Gottes gewesen? Haft du dich und dein Leben einmal an dem vollkommenen Maßstab des Lebens Christi gemessen? Vielleicht Haft du dich bis heute mit deinen Mitmenschen verglichen und dich nach diesem unvollkommenen Maßstab geprüft. Aber das kann und wird nimmermehr genügen. Christus ist der einzige wahre Maßstab, der vollkommene göttliche Prüfstein. Gott kann nichts in seiner Gegenwart dulden, was diesem Maßstab nicht entspricht. Um daher einen Platz in der Gegenwart Gottes finden zu können, ist es nötig, Christus gleich, seinem Bild gleichgestaltet zu sein. Fragst du: „Wie ist dies je möglich?“ so antworte ich: Dadurch, dass du Christus als das Opferlamm Gottes kennen lernst und durch die Kraft des Heiligen Geistes nach Ihm, als dem vollkommenen Muster, gebildet wirst. Doch hierüber, so der Herr will, das nächste Mal mehr (Fortsetzung folgt).

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