Botschafter des Heils in Christo 1885

Der Dienst der Versöhnung - Teil 1/4

1.: Das fünfte Kapitel des Zweiten Briefes an die Korinther nimmt einen hervorragenden Platz unter den wichtigsten und inhaltsreichsten Abschnitten des inspirierten Wortes ein. Die Schlussverse desselben behandeln den Gegenstand, welcher die Überschrift dieser Zeilen bildet. Doch bevor wir auf denselben näher eingehen, möchten wir die Aufmerksamkeit des Lesers auf einige Punkte richten, die sich bei dem Lesen des ersten Teiles des Kapitels unwillkürlich unserer eingehenden Betrachtung empfehlen.

Verweilen wir zunächst einen Augenblick bei den Worten, mit welchen der Apostel unser Kapitel beginnt. Er sagt: „Denn wir wissen usw.“ In diesen Worten begegnen wir der Sprache christlicher Überzeugung. Es heißt nicht: „Wir hoffen“, und noch weniger: „Wir fürchten“, oder: „Wir zweifeln.“ Nein, eine solche Sprache würde nicht der ruhigen, felsenfesten Gewissheit Ausdruck geben, welche zu besitzen das Vorrecht selbst des schwächsten Gläubigen ist, obwohl es leider wahr ist, dass verhältnismäßig nur wenige der geliebten Kinder Gottes diese gesegnete Gewissheit wirklich genießen. Es gibt sogar viele, welche es für Anmaßung halten, zu sagen: „Wir wissen.“ Sie scheinen zu denken, dass Zweifel und Befürchtungen der Beweis von einem passenden Zustand einer Seele seien, dass es unmöglich sei für irgendjemanden, Gewissheit zu haben, ja dass das Höchste, was wir erwarten können, in der unbestimmten Hoffnung bestehe, – einmal in den Himmel zu kommen, wenn es Gott gefällt, uns abzurufen.

Wir müssen allerdings zugeben, dass es Torheit sein würde, an eine unumstößliche Gewissheit und Überzeugung zu denken, wenn wir selbst etwas mit der Grundlage derselben zu schaffen hätten; in diesem Fall würde unsere Hoffnung ohne Frage nur eine höchst unbestimmte und schwankende sein können. Aber, Gott sei gepriesen! es ist nicht so. Wir haben nichts, durchaus nichts mit der Grundlage unserer Gewissheit zu tun. Dieselbe liegt völlig außer uns und muss einzig und allem in dem ewigen und lebendigen Worte Gottes gesucht werden. Dies macht die Sache so einfach und klar. Es macht die ganze Frage von der Wahrheit des Wortes Gottes abhängig. Warum bin ich gewiss? Weil Gottes Wort wahr ist und nicht lügen kann. Ein Schatten von Ungewissheit oder Zweifel meinerseits würde beweisen, dass ich der Autorität und Untrüglichkeit des Wortes Gottes nicht völlig vertraute. Die christliche Gewissheit gründet sich auf die Treue und Unveränderlichkeit Gottes. Um jene zu erschüttern, müssten zunächst diese erschüttert werden.

Wir können diesen einfachen Grundsatz am leichtesten durch ein Beispiel aus dem täglichen Leben, aus dem Verkehr mit unseren Mitmenschen ins Licht stellen. Wenn mein Nachbar mir etwas erzählt, und ich drücke den geringsten Zweifel an der Wahrheit des Gesagten aus, oder ich hege diesen Zweifel nur, ohne ihn auszusprechen, so ziehe ich dadurch die Glaubwürdigkeit des Sprechers in Frage. Ist der Betreffende ein wahrheitsliebender, aufrichtiger Mann, von dem ich weiß, dass er nicht lügt, so habe ich keine Veranlassung, seine Behauptungen im Geringsten zu bezweifeln. Meine Gewissheit gründet sich auf seine Glaubwürdigkeit. Nun, wir alle wissen, wie beruhigend es ist, in einer Sache, die uns nahe angeht und über welche wir in Ungewissheit sind, das Zeugnis eines wahrheitsliebenden Menschen zu hören. Unsere Ungewissheit schwindet und macht einer bestimmten Überzeugung Platz. Wir sind völlig ruhig und gewiss, weil wir das Zeugnis eines treuen Zeugen gehört und geglaubt haben. Es handelt sich dabei also gar nicht um unsere Gefühle, sondern um die Annahme des Zeugnisses. Und nun, „wenn wir das Zeugnis der Menschen annehmen, das Zeugnis Gottes ist größer“ (1. Joh 5,9). Ebenso sagte der Herr Jesus zu den Menschen, die ihn umgaben: „Wenn ich die Wahrheit sage, warum glaubt ihr mir nicht?“ (Joh 8,46) Die Wahrhaftigkeit seiner Worte bildete die Grundlage, auf welcher Er ihren Glauben erwartete und erwarten konnte.

Dieser einfache, aber so überaus wichtige Grundsatz Te der aufmerksamen Erwägung aller derer empfohlen, welche ängstlich nach Gewissheit suchen, oder auch derer, welche mit solchen ängstlichen Seelen in Berührung kommen. Unsere armen, kleingläubigen Herzen sind beständig geneigt, in uns nach einem Grund der Gewissheit zu suchen, auf gewisse Gefühle, Erfahrungen und Herzensübungen, sei es in der Vergangenheit oder in der Gegenwart, zu bauen, oder auf gewisse Eindrücke und Überzeugungen, die wir empfangen haben, hinzublicken und darin den Grund unseres Vertrauens, die Bürgschaft für die Echtheit unseres Glaubens zu finden. Doch alles das wird nie genügen, nie unsere Herzen glücklich machen. Es ist unmöglich, auf diesem Weg einen wahren Frieden und eine unerschütterliche Ruhe zu finden. Gefühle, so tief und wirklich sie sein mögen, verändern sich und verschwinden früher oder später. Erfahrungen, so ernst und gesegnet sie gewesen sind, werden sich immer als mangelhaft erweisen. Eindrücke und Überzeugungen sind nicht selten völlig verkehrt und falsch. Nichts von allem diesem kann daher die Grundlage christlicher Gewissheit bilden. Diese kann und muss allein in dem Wort Gottes gesucht und gefunden werden nicht in Gefühlen, nicht in Erfahrungen, nicht in menschlichen Meinungen und Lehren, nicht in Überlieferungen, sondern in dem unveränderlichen, ewig bleibenden Worte Gottes. Dieses Wort, das auf ewig festgestellt ist in den Himmeln und welches Gott großgemacht und verherrlicht hat, vermag allein dem Herzen Ruhe und der Seele beständigen Frieden zu geben.

Freilich sind wir nur durch den gnädigen Dienst des Heiligen Geistes fähig, das Wort Gottes zu erfassen und fest zu halten; aber dennoch ist es dieses Wort allein, welches uns Gewissheit geben und den Christen in seinem ganzen praktischen Leben und Wandel leiten und bestimmen kann. Wir können in diesem Punkt nicht zu einfältig sein; und wenn wir in Wahrheit das Wort Gottes zur einzigen Grundlage unseres persönlichen Vertrauens machen, so können wir von ganzem Herzen mit dem Apostel sagen: „Denn wir wissen.“ Menschliche Autorität nützt hier nichts. Tausende von Kindern Gottes haben schmecken müssen, wie bitter es ist, sich auf die Gebote und Lehren der Menschen zu stützen. Sie haben alle auf diesem Weg nichts als Enttäuschung und Verwirrung gefunden. Das Haus, welches auf den Sand menschlicher Autorität erbaut ist, muss früher oder später einstürzen, während dasjenige, welches auf den Felsen der göttlichen Wahrheit gegründet ist, für ewig bestehen wird. Das Wort Gottes verleiht der Seele, welche sich auf dasselbe stützt, die ihm eigentümliche Festigkeit und Beständigkeit. „Darum, so spricht der Herr, Jehova: Siehe, ich gründe einen Stein in Zion, einen bewährten Stein, einen kostbaren Eckstein gegründeter Gründung; wer glaubt, wird nicht eilen“ (Jes 28,16).

Wie die Grundlage, so ist der Glaube, der sich auf dieselbe stützt. Daher ist es so überaus wichtig und ernst, die Seelen dahin zu führen, dass sie ihr Vertrauen allein auf das kostbare Wort Gottes setzen. Wie ängstlich war der Apostel Paulus bemüht, die Herzen der Gläubigen von der Unzulänglichkeit und Unsicherheit aller menschlichen Autorität zu überzeugen! Hören wir, was er an die Korinther schreibt, die in großer Gefahr standen, durch falsche Lehrer von dem Pfad der Wahrheit abgelenkt zu werden: „Und ich, da ich zu euch kam, Brüder, kam nicht nach Vortrefflichkeit der Rede oder Weisheit, euch das Zeugnis Gottes verkündigend. Denn ich hielt nicht dafür, etwas unter euch zu wissen, als nur Jesus Christus, und Ihn als Gekreuzigten. Und ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und in vielem Zittern; und meine 3!ede und meine Predigt war nicht in überredenden Worten der Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft, auf dass euer Glaube nicht in Weisheit der Menschen, sondern in der Kraft Gottes sei“ (1. Kor 2,15).

Hier haben wir ein schönes Vorbild für alle, die da predigen und lehren. Paulus verkündigte „das Zeugnis Gottes“, nichts mehr und nichts weniger, nichts anders als das. Überdies verkündigte er es in einer Weise, welche geeignet war, die Seelen seiner Zuhörer unmittelbar mit dem lebendigen Gott zu verbinden. Er wünschte nicht, dass die Korinther sich auf ihn stützten; er zitterte vielmehr bei dem Gedanken, dass sie versucht sein möchten, das zu tun. Er würde ihnen großen Schaden zugefügt und das traurigste Unheil angerichtet haben, wenn er in irgendeiner Weise seine Person zwischen ihre Seelen und die wahre Quelle aller Autorität, die Grundlage alles wahren Friedens und Vertrauens, gestellt hätte. Hätte er sie angeleitet, ihr Vertrauen auf ihn zu setzen, so würde er sie Gottes selbst beraubt haben, und das wäre in der Tat ein großes Unrecht gewesen. Kein Wunder daher, dass er unter ihnen gewesen war „in Furcht und in vielem Zittern.“ Die Korinther waren offenbar sehr geneigt, sich menschliche Führer aufzustellen und ihnen nachzufolgen und auf diese Weise die Wirklichkeit der persönlichen Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott und der Abhängigkeit von Ihm zu verlieren. Dies lässt uns die eifersüchtige Sorge des Apostels verstehen, mit welcher er sich auf das einfache und lautere Zeugnis Gottes beschränkt und ihnen nur das überliefert, was er von dem Herrn empfangen hatte (vgl. 1. Kor 11,23; 15,3). Er war ängstlich besorgt, dass der Strom des reinen Wassers auf dem Weg von seiner Quelle in Gott zu den Herzen der Korinther nicht irgendwie gehemmt oder getrübt werde, und dass er selbst die kostbare Wahrheit Gottes nicht in dem geringsten Gerade durch seine eignen Gedanken färben und entstellen möchte.

Wir sehen dasselbe in dem ersten Brief an die Thessalonicher. „Und darum“, so schreibt der treue Knecht Gottes dort, „danken wir auch Gott unablässig, dass, als ihr von uns empfingt das Wort der Kunde Gottes, ihr es nicht als Menschenwort aufnähmet, sondern, wie es wahrhaftig ist, als Gottes Wort, das auch in euch, den Glaubenden, wirkt“ (Kap 2,13). Hätte der Apostel an sich selbst gedacht und seine eignen Interessen gesucht, so würde er froh gewesen sein, Einfluss über die Thessalonicher zu erlangen, dadurch dass er sie an sich selbst fesselte und sie anleitete, sich auf seine Person zu stützen. Aber nein, er war ein treuer, hingebender Arbeiter; erfreute sich, dass er sie in lebendiger und wirklicher Verbindung mit Gott sah. Dies ist stets die Wirkung eines treuen Dienstes, sowie das einzige Ziel eines treuen Dieners. Wenn die Seelen nicht in lebendige Verbindung mit Gott gebracht werden, so ist in der Tat alle Arbeit umsonst, ja selbst verderblich. Die bloße Nachfolge von Menschen, die Annahme dessen, was sie sagen, weil sie es sagen, die Hinneigung zu dem einen oder anderen Prediger oder Lehrer, weil er in der Art seines Vortrags oder in seinem Wesen etwas besonders Anziehendes hat, oder weil er ein treuer und hingebender Arbeiter ist alles das hat keinen Wert und wird zu keinem guten Ende führen. Solche menschliche Bande werden bald zerreißen. Der Glaube, welcher sich in irgendeinem Maß auf die Weisheit der Menschen gründet, wird sich als leer und wertlos erweisen. Nichts wird bestehen bleiben, nichts standhalten, als allein der Glaube, welcher auf dem Zeugnis des allein wahren Gottes ruht und in seiner Kraft ist.

Mein lieber christlicher Leser, lass dich bitten, diesem Punkt, der gerade in der gegenwärtigen Zeit von besonderer Wichtigkeit ist, deine Aufmerksamkeit zu schenken. Der Feind sucht auf alle Weise und mit allen Mitteln die Seelen von Gott, von Christus und von den Heiligen Schriften abzuleiten. Gelingt es ihm, sie zu einem Vertrauen auf irgendetwas neben der Wahrheit zu veranlassen, so ist er befriedigt. Es ist ihm einerlei, worin dasselbe besteht, wenn es nur nicht Christus ist. Es mag Vernunft, Überlieferung, Religiosität, fleischliche Frömmigkeit und Heiligkeit, Moralität, Ehrbarkeit, Menschenliebe oder irgendetwas dergleichen sein, wenn es nur etwas, anderes ist, als Christus, als das Wort Gottes und ein persönlicher, lebendiger Glaube an den lebendigen Gott selbst.

Dieses Bewusstsein treibt uns, dem christlichen Leser mit allem Ernst die Notwendigkeit vorzustellen, im Blick auf den Boden, auf welchem er steht, völlig klar und bestimmt zu sein. Nichts anders als eine völlige Gewissheit ist genügend. Es ist nicht genug, zu sagen: „Ich hoffe.“ O, nein; ein jeder wahre Gläubige sollte fähig sein, mit dem Apostel zu sagen: „Denn wir wissen, dass, wenn unser irdisches Haus, die Hütte, zerstört wird, wir einen Bau aus Gott haben, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, ein ewiges, in den Himmeln.“ Das ist die Sprache des Glaubens, die Sprache eines Christen. Alles ist klar und gewiss, weil alles von Gott ist. Im Blick auf „das irdische Haus“ mag es ein „wenn“ geben; es mag zerstört werden und zu Staub zerfallen. Alles, was zu dieser Erde gehört, mag den Stempel des Todes an sich tragen; es mag sich verändern und völlig vergehen, aber das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit, und der Glaube, der dieses Wort erfasst und festhält, teilt seine ewige Beständigkeit. Er befähigt einen Menschen, zu sagen: „Ich weiß, dass ich habe.“ Nur der Glaube kann so reden. Die Vernunft sagt: „Ich zweifle“; der Aberglaube: „Ich fürchte“; der Glaube allein kann sagen: „Ich weiß und bin überzeugt.“

Ein ungläubiger Prediger sagte einst zu einer sterbenden Frau, welcher er seine verderblichen Lehren eingeflößt hatte: „Halten Sie nur fest, Frau N.!“ – Was war die Antwort des armen Weibes? „Ich kann nicht festhalten; denn Sie haben mir nichts gegeben, woran ich mich halten könnte.“ – Welch ein schneidender Vorwurf! Er hatte die unglückliche Frau zu Zweifeln gelehrt, aber er hatte ihr nichts zu glauben gegeben; und als nun die Kräfte schwanden und die ernsten Wirklichkeiten der Ewigkeit vor ihr standen und ihre Seele mit Schrecken erfüllten, da erwiesen sich alle die Beweisführungen des Unglaubens als kraft– und wertlos; sie vermochten ihr angesichts des Todes und des Gerichts keine Ruhe und keinen Frieden zu geben. Wie ganz anders ist es mit dem Gläubigen, mit einem Menschen, der in aller Einfalt des Herzens und mit demütiger Gesinnung sich auf den unerschütterlichen Felsen der Zeitalter stützt! Ein solcher kann mit völliger Ruhe sagen: „Die Zeit meines Abscheidens ist vorhanden; ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe den Glauben bewahrt, fortan ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit, die der Herr, der gerechte Richter, mir zur Vergeltung geben wird an jenem Tag; nicht allein aber nur, sondern auch allen, die seine Erscheinung liebhaben“ (2. Tim 4,6–8). 2.: Vielleicht werden es manche Leser schwierig finden, die ruhige Gewissheit, die wir im ersten Vers ausgedrückt finden, mit dem Seufzen im Zweiten zu vereinigen. Doch die Schwierigkeit wird verschwinden, sobald wir die wahre Ursache dieses Seufzens kennen lernen. Der Apostel schreibt: „Denn in diesem freilich seufzen wir, uns sehnend, mit unserer Behausung, die aus dem Himmel ist, überkleidet zu werden, so wir anders, wenn wir auch bekleidet sind, nicht nackt erfunden werden. Denn wir freilich, die in der Hütte sind, seufzen beschwert, wiewohl wir nicht entkleidet, sondern überkleidet sein wollten, damit das sterbliche verschlungen werde von – dem Leben.“

Wir sehen aus diesen Worten, dass gerade die Gewissheit, „einen Bau aus Gott zu haben, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, ein ewiges, in den Himmeln“, in uns das sehnende Seufzen nach dem Besitz desselben hervorruft. Der Apostel seufzte nicht in Zweifel oder Ungewissheit, auch nicht unter dem Bewusstsein einer noch unbezahlten Schuld, oder in Furcht und Angst. Noch weniger seufzte er, weil er die Wünsche des Fleisches nicht erfüllen, noch sich mit den vergänglichen Reichtümern dieser Welt umgeben konnte. Nein, er verlangte nach dem Bau aus Gott, nach der himmlischen, göttlichen und ewigen Behausung. Er fühlte die schwere Bürde der armen, zerbrechlichen Hütte, in welcher er weilte; sie war ein schmerzliches Hindernis für ihn. Sie bildete das einzige Band, das ihn noch mit dem, was ihn umgab, verknüpfte, und als solches war sie für ihn eine beschwerliche Last, von welcher er befreit zu werden wünschte.

Sicherlich würde er nicht nach der himmlischen Behausung geseufzt haben, wenn er im Blick auf die Erlangung derselben irgendwie im Zweifel gewesen wäre. Der Mensch trägt durchaus kein Begehren danach, diesen Leib abzulegen, es sei denn, dass er sicher ist, etwas Besseres dafür zu erlangen. Er ist vielmehr mit aller Sorgfalt bemüht, das schwindende Leben festzuhalten, und er zittert bei dem Gedanken an den Tod und das Grab. Der natürliche Mensch seufzt bei der bloßen Erinnerung an die Möglichkeit, diese Hütte ablegen zu müssen; der Apostel seufzte, weil er sich noch in derselben befand.

Dies zeigt den Unterschied in seiner ganzen Größe. Die Schrift redet nie von dem Christen als einem Menschen, der unter der Last seiner Sündenschuld, unter Zweifeln und Befürchtungen seufzt, oder sich nach den Reichtümern, Ehren und Vergnügungen dieser Welt sehnt. Leider seufzen viele, weil sie weder ihre wahre Stellung in einem auferstandenen Christus, noch ihr Teil in den Himmeln kennen, und leider, ja leider, neigen sich andere zu den Dingen dieser Welt hin. Aber nie sagt die Schrift, dass ein Christ so seufzen sollte. Der Apostel trug einbrennendes Verlangen, die irdische Hütte abzulegen und mit der himmlischen bekleidet zu werden. Die Ausdrücke: „wir wissen“ und: „wir seufzen“ stehen deshalb in völligstem Einklang. Wenn wir nicht gewiss wüssten, dass wir einen Bau ans Gott haben, so würden wir sicher unsere irdische Hütte solange als möglich zu behalten wünschen. Aber weil wir wissen, dass dieses himmlische Haus für uns bereit ist, so erscheint uns dieser Leib der Sünde und des Todes als eine schwere Bürde, und wir sehnen uns danach, einen Leib zu empfangen, welcher der neuen Schöpfung angehört, seinem neuen und ewigen Zustand angepasst und von jeder Spur der Sterblichkeit vollkommen befreit ist. Doch dies kann nicht eher geschehen, bis der herrliche Morgen der Auferstehung anbricht, bis jener lange ersehnte Augenblick kommt, wenn die Toten in Christus auferstehen und die noch auf dieser Erde lebenden Heiligen in einem Nu, in einem Augenblick werden verwandelt werden, wenn das Sterbliche Unsterblichkeit und das Verwesliche Unverweslichkeit anziehen und der Tod in Sieg verschlungen sein wird.

Das ist es, wonach wir uns seufzend sehnen, wiewohl wir nicht entkleidet, sondern üb er kleidet sein möchten. Der Zustand der Entkleidung ist nicht der Gegenstand der Hoffnung des Christen, obgleich wir wissen, dass, wenn ausheimisch von dem Leib, wir einheimisch bei dem Herrn sein werden, und dass es weit besser ist, abzuscheiden und bei Christus zu sein, als noch hienieden zu wandeln. Der Christ wartet vielmehr auf den glorreichen Augenblick der Ankunft des Herrn; er erwartet Ihn aus den Himmeln, um Ihm mit verherrlichtem Leib entgegengerückt zu werden in die Luft und für allezeit bei Ihm zu sein. Der Herr wartet ebenfalls auf diesen gesegneten Augenblick „unserer Versammlung zu Ihm“, und wir warten mit Ihm. Unterdes seufzt die ganze Schöpfung und liegt gleichsam in Geburtswehen. „Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir die Erstlinge des Geistes haben, auch wir selbst seufzen in uns selbst, erwartend die Sohnschaft, die Erlösung unseres Leibes. Denn in der Hoffnung sind wir errettet worden. Hoffnung aber, die gesehen wird, ist keine Hoffnung; denn was einer sieht, was hofft er es auch? Wenn wir aber das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir mit Ausharren“ (Röm 8,22–25).

In diesen Versen finden wir eine bestimmte Antwort auf die Frage: „Warum seufzt der Gläubige?“ Er seufzt beschwert; er seufzt in Übereinstimmung mit einer seufzenden Schöpfung, mit welcher er durch einen Leib der Sünde und der Schwachheit verbunden ist. Er erblickt Tag für Tag die traurigen Früchte der Sünde um sich her. Er kann nicht einen Schritt gehen, ohne die mannigfaltigsten Beweise von dem traurigen, verdorbenen Zustand des Menschen vor Augen zu haben. Hier klingt ein Notschrei an sein Ohr, dort erregt ein tiefer Schmerzensseufzer sein Mitgefühl. Er sieht Unterdrückung, Gewalttat, Verderben, Streit, Hader, herzlose Selbstsucht, Lug und Trug auf allen Seiten. Er sieht den Dorn, die Distel und das Unkraut. Er bemerkt die zerstörenden Kräfte in der Natur sowohl, als auch in der moralischen und politischen Welt. Der Schrei des Armen und Bedürftigen, der Witwe und der Waise dringt schmerzlich in sein Ohr. Und wie könnte er anders, als aus tiefstem Grund seines Herzens einen Seufzer des Mitgefühls emporzusenden und mit Sehnsucht nach dem gesegneten Augenblick auszuschauen, da „auch selbst die Kreatur freigemacht werden wird von der Knechtschaft des Verderbnisses zu der Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes?“ Es ist unmöglich für einen wahren Christen, durch eine Welt, wie die gegenwärtige, zu gehen, ohne zu seufzen. Werfen wir einen Blick auf unseren gepriesenen Herrn selbst. Seufzte Er nicht? Ja, in der Tat, sein Herz war von unaufhörlichem Schmerz erfüllt angesichts des Elends, das die Sünde in die Welt gebracht hat. Betrachten wir Ihn, wie Er sich mit den zwei weinenden Schwestern dem Grab des Lazarus näherte. „Jesus nun, als Er sie weinen sah und die Juden, die mit ihr gekommen waren, seufzte tief im Geist und erschütterte sich und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sagen zu Ihm: Herr, komme und siehe! Jesus vergoss Tränen“ (Joh 11,33–35).

Was war die Ursache dieser Tränen und dieses Seufzens? Näherte der Herr sich nicht dem Grab seines Freundes als der Fürst des Lebens, als der Sieger über Tod und Grab und als der, welcher die Toten lebendig macht? Warum seufzte Er denn? Er seufzte in tiefem Mitgefühl mit den Gegenständen seiner Liebe und mit der ganzen Szene, die Ihn umgab. Seine Tränen und Seufzer kamen hervor aus den Tiefen eines vollkommen menschlichen Herzens, welches Gott gemäß den wahren Zustand der menschlichen Familie und des Volkes Israel in Sonderheit fühlte. Er erblickte um sich her die mannigfaltigen Früchte und Folgen der Sünde, und Er fühlte dies in seiner ganzen Vollkommenheit. Er war ein Mann der Schmerzen, mit Leiden bekannt. Ja, wir können sagen, dass Er nie einen Menschen heilte, ohne die ganze Schwere dessen, womit Er beschäftigt war, auf sich zu nehmen. Er verscheuchte nicht leichthin Tod, Krankheit und Schmerz. O nein; Er ging als Mensch in alle diese Dinge ein, und zwar nach der unendlichen Vollkommenheit seiner göttlichen Natur. Er nahm gleichsam alles vor Gott auf sich. Obgleich Er für seine eigene Person von den schrecklichen Folgen der Sünde befreit war – denn Er war rein und heilig – so trat Er doch durch sein vollkommenes Mitgefühl freiwillig in dieselben ein, umso alles in einer Weise zu schmecken, zu prüfen und kennen zu lernen, wie kein anderer dies vermochte. Wir finden den vollen Ausdruck hiervon in dem achten Kapitel des Evangeliums Matthäus, wo wir lesen: „Als es aber Abend geworden, brachten sie viele Besessene zu Ihm; und er trieb die Geister aus mit einen! Worte, und er heilte alle Sieche, damit erfüllt würde, das geredet ist durch Jesajas, den Propheten, der da spricht: Er selbst nahm unsere Schwachheiten und trug unsere Krankheiten“ (V 16–17).

Wir denken oft wenig daran, was das Herz Jesu fühlen musste, während Er durch diese sündige Welt ging. Wir sind geneigt, seine Leiden auf das, was Er auf dem Kreuz erduldete, zu beschränken und anzunehmen, dass Er das, was ein menschliches Herz zu fühlen vermag, nicht fühlen konnte, weil Er Gott über alles war, gepriesen in Ewigkeit. Doch dies ist ein unberechenbarer Verlust. Der Herr Jesus wurde, als der Anführer unserer Errettung, durch Leiden vollkommen gemacht. Und jetzt haben alle wahre Gläubige das unaussprechliche Vorrecht, zu wissen, dass da einer zur Rechten der Majestät in der Höhe ist, der, während seines Wandels durch diese Welt der Sünde und des Wehs, jede Form von Leiden erduldete und jeden Leidensbecher kostete, der mit einem Wort alles litt, was ein menschliches Herz zu leiden fähig ist. Er konnte sagen: „Der Hohn hat mein Herz gebrochen, und ich bin ganz elend; und ich habe auf Mitleid gewartet, aber da war keines, und auf Tröster, aber ich habe sie nicht gefunden“ (Ps 69,20).

Wie ergreifend ist dies alles! Wie redet es zu unseren Herzen! Doch wir können hier diesen Gegenstand nicht weiterverfolgen. Der einsichtsvolle Leser wird nach dem Gesagten nicht mehr in Verlegenheit sein, welche Antwort er auf die Frage: „Warum seufzt der Gläubige?“ zu geben hat. Das Seufzen eines Christen geht hervor aus der göttlichen Natur, die ihm in Christus zuteilgeworden ist, sowie aus der Tatsache, dass er ewiges Leben besitzt aus dem gesegneten Bewusstsein, dass er ein Haus hat, das nicht mit Händen gemacht ist, ein ewiges, in den Himmeln, sowie endlich aus seiner Verbindung mit einer seufzenden Schöpfung und aus seinem Mitgefühl mit derselben. Wenn noch irgendein Beweis für die Richtigkeit dieser Antwort nötig wäre, so würde er in dem fünften und sechsten Vers unseres Kapitels gefunden werden, wo der Apostel fortfährt zu sagen: „Der uns aber eben hierzu bereitet hat, ist Gott, der uns auch das Unterpfand des Geistes gegeben. So sind wir nun allezeit guten Mutes“ – wieweit ist das von allen Zweifeln und Befürchtungen entfernt! – „und wissen, dass, weil einheimisch in dem Leib, wir von dem Herrn ausheimisch sind; (denn wir wandeln durch Glauben, nicht durch Schauen;) wir sind aber guten Mutes und möchten lieber ausheimisch von dem Leib und einheimisch bei dem Herrn sein“ (V 5–8).

In diesen Worten begegnen wir zwei Hauptwahrheiten des Christentums, die von unberechenbarer Wichtigkeit sind. Zunächst: Der Gläubige ist das Werk Gottes, und dann: Gott hat ihm das Unterpfand des Geistes gegeben. Wunderbare, herrliche Tatsache! Ein jeder, der von Herzen an den Herrn Jesus Christus glaubt, ist das Werk Gottes. Gott hat ihn in Christus Jesus neu geschaffen. Deshalb kann es unmöglich eine Ursache geben, seine Annahme bei Gott zu bezweifeln, da Gott sein eigenes Werk nie in Frage stellen kann. Er wird und kann dies ebenso wenig in seiner neuen Schöpfung tun, wie Er es in der Alten getan hat. Wenn Gott sein Werk in den Tagen der Schöpfung ansah, so geschah es nicht, um es zu beurteilen oder seine Güte in Zweifel zu ziehen, sondern um es für „sehr gut“ zu erklären. Und ebenso sieht Gott heute, wenn Er auf den schwächsten Gläubigen hinblickt, in demselben sein eigenes Werk, und wie könnte Er diesem Werk jemals seine Anerkennung verfassen? Gottes Werk ist vollkommen, und der Gläubige ist das Werk Gottes, und weil er das ist, so hat ihn Gott mit dem Heiligen Geist versiegelt.

Wir finden dieselbe Wahrheit in dem zweiten Kapitel des Epheserbriefes, wo wir lesen: „Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, welche Gott zuvor bereitet hat, auf dass wir darinnen wandeln sollen“ (V 10). Diese Worte zeigen uns, was das Christentum tatsächlich ist. Es besteht nicht darin, dass ein verderbter, verlorener und schuldiger Sünder sich bemüht, etwas ans sich zu machen, was für Gott passend wäre. Es ist vielmehr das gerade Gegenteil. Es ist Gott, der in dem Reichtum seiner Gnade, auf Grund des Versöhnungstodes Christi, ein armes, wertloses, dem Gericht verfallenes Wesen – einen schuldigen, verdammungswürdigen Sünder – nimmt und ihn in Christus Jesus zu einer ganz neuen Schöpfung macht. Gott beginnt gleichsam von vorne, von neuem, bildet einen Menschen in Christus und stellt ihn auf einen völlig neuen Boden, nicht mehr als ein unschuldiges Wesen, wie einst Adam vor dem Sündenfall war, sondern als einen gerechtfertigten Menschen in einem auferstandenen Christus. Es ist nicht eine durch irgendwelche menschliche Anstrengung hervorgebrachte Verbesserung des alten Zustandes, sondern ein neues Werk Gottes in einem auferstandenen, erhöhten und verherrlichten Christus. Es ist nicht das alte Kleid, das durch menschliche Kunst in irgendeine andere Gestalt oder Form gebracht worden ist, sondern das neue Kleid, welches Gott selbst in Christus Jesus bereitet hat, der in den Staub des Todes hinabstieg, den gerechten Zorn Gottes wider die Sünde auf sich nahm und, durch die Herrlichkeit des Vaters aus den Toten auferweckt, das Haupt der neuen Schöpfung, „der Anfang der Schöpfung Gottes“, geworden ist.

Wenn aber Christus der Anfang der Schöpfung Gottes ist, so ist es klar, dass, wenn wir nicht von vorne, von Anfang, beginnen, all unser Mühen umsonst ist. Wir mögen bis zum Äußersten gehen, wir mögen Gelübde tun und gute Vorsätze fassen, wir mögen unseren Zustand zu verbessern, unseren Wandel zu verändern und mit aller Aufrichtigkeit ein neues Leben zu beginnen suchen – aber trotz alledem sind und bleiben wir in der alten Schöpfung, welche unter dem Gericht und unter dem Fluch liegt. Wir haben nicht mit „dem Anfang“ der neuen Schöpfung Gottes begonnen, und deshalb sind wir keinen Schritt vorwärtsgekommen. Wir suchen ein Ding zu verbessern, welches Gott beiseitegesetzt und verurteilt hat. Wir gleichen, um ein schwaches Bild zu gebrauchen, einem Mann, der seine Zeit, sein Geld und seine Kräfte dazu benutzt, ein Haus zu bemalen und zu tapezieren, dessen Abbruch wegen seiner durchaus schlechten Fundamente von der Obrigkeit angeordnet ist.

Was würden wir von einem solchen Mann sagen? Würden wir ihn nicht für einen Narren erklären? Ohne Zweifel. Aber wenn es Torheit ist, ein dem Abbruch übergebenes Haus äußerlich verschönern zu wollen, was sollen wir dann von solchen halten, die eine verdorbene, dem Gericht verfallene Natur, eine verurteilte Welt zu verbessern suchen? Solche verfolgen, um das Geringste zu sagen, einen Weg, der früher oder später in Enttäuschung und hoffnungsloser Verwirrung enden muss. Ach, wenn dies doch mehr verstanden und beherzigt würde! Zahllose Scharen in dem weiten Bereich der Christenheit sind heute mit der fruchtlosen Arbeit beschäftigt, ein dem Gericht verfallenes Haus zu bemalen und zu tapezieren – ein Haus, über welches Gott wegen des hoffnungslos verdorbenen Zustandes seiner Fundamente sein Gericht ausgesprochen hat. Manche tun es mit großer Aufrichtigkeit und dann unter tiefen Seelenübungen und mit vielen Tränen, da sie erfahren müssen, dass trotz aller Anstrengungen ihre Herzen nicht befriedigt und noch weniger die gerechten Forderungen Gottes erfüllt werden. Denn Gott muss eine vollkommene Sache haben; Er kann nicht mit einer notdürftig ausgebesserten Ruine zufrieden sein. Er kann sich nicht mit einem bloß oberflächlichen Werk, mit einer hübschen Außenseite begnügen: das ganze Haus muss von Grund aus neu aufgeführt werden.

Mein Leser, stehe hier einen Augenblick stille und lege dir mit Aufrichtigkeit die Frage vor: „Suche ich eine verfallene Ruine zu verschönern? Suche ich die alte Natur zu verbessern? Oder habe ich wirklich meinen Platz in der neuen Schöpfung Gottes gefunden, von welcher ein auferstandener Christus Haupt und Anfang ist?“ O, bedenke doch, dass nichts fruchtloser und vergeblicher sein kann, als der Versuch, dich zu bessern. Deine Anstrengungen mögen aufrichtig gemeint sein, aber sie werden sich über kurz oder lang als völlig wertlos erweisen. Du wirst nie von deiner unerneuerten Natur sagen können, dass sie „das Werk Gottes“ ist. Deine Anstrengungen, die Gebote Gottes zu halten, deine guten Werke, deine religiösen Hebungen, kurz alles, was du tun kannst, kann nie „das Werk Gottes“ genannt werden. Es ist dein, aber nicht Gottes Werk; und deshalb kann Er es nicht anerkennen, oder durch seinen Geist versiegeln. Es taugt zu gar nichts. Wenn du nicht sagen kannst: „Der uns aber hierzu bereitet hat, ist Gott“, so besitzest du in Wahrheit nichts. Du bist noch in deinen Sünden. Du bist noch „im Fleisch“, und das Wort Gottes erklärt: „Die aber, welche im Fleisch sind, können Gott nicht gefallen“ (Röm 8,8).

Das ist ein ernster und entscheidender Ausspruch. Ein Mensch außer Christus ist „im Fleisch“; und ein solcher kann Gott nicht gefallen. Soweit ein Mensch es auch bringen mag in alledem, was in den Augen der Menschen schön und liebenswürdig ist, so ist er dennoch, wenn er nicht „in Christus“ ist, noch in seinen Sünden, in dem Fleisch, in der alten Schöpfung. Beachten wir wohl, dass hier nicht die Rede ist von groben Sünden, von einem schändlichen Leben oder von unsittlichen Dingen, sondern es heißt einfach: „Die aber, welche im Fleisch sind, können Gott nicht gefallen.“ Zur Erklärung des Ausdrucks: „im Fleisch“ bemerken wir, dass die Schrift von zwei Menschen redet; von dem „ersten“ und von dem „zweiten Menschen“, oder von dem „ersten“ und dem „letzten Adam.“ Diese beiden Menschen werden als die Häupter zweier Klaffen oder Geschlechter dargestellt. Der gefallene Adam ist das Haupt des ersten, der auferstandene Christus das Haupt des zweiten Geschlechts. Die bloße Tatsache, dass es einen „zweiten Menschen“ gibt, beweist schon, dass der Erste beiseitegesetzt worden ist; denn wenn sich der Erste als fehlerlos erwiesen hätte, so wäre kein Raum gesucht worden für einen zweiten. Dies ist klar und unbestreitbar. Der erste Mensch ist nichts als eine unverbesserliche Ruine. Die Grundlagen des alten Gebäudes sind gewichen, und wenn auch in den Augen der Menschen das Gebäude noch zu stehen und einer Wiederherstellung fähig zu sein scheint, so ist es doch in den Augen Gottes völlig beiseitegesetzt, und ein zweiter Mensch, ein neues Gebäude, aufgerichtet worden, und zwar auf dem unerschütterlichen Boden einer vollbrachten Erlösung. Daher lesen wir in dem 3. Kapitel des 1. Buches Mose, dass Gott „den Menschen austrieb; und Er ließ wohnen gegen Osten vom Garten Edens die Cherubim und die Flamme des zuckenden Schwertes, zu bewahren den Weg zum Baum des Lebens“ (V 24). Mit anderen Worten: Der erste Mensch wurde aus der Gegenwart Gottes vertrieben, und jede Möglichkeit der Rückkehr zum Baum des Lebens wurde ihm, als solchem, abgeschnitten. Er konnte nur auf einem „neuen und lebendigen Wege“ in die Gegenwart Gottes zurückkehren. Die einzige Hoffnung, die ihm blieb, gründete sich auf „den Samen des Weibes“ – „den zweiten Menschen.“ Und so wie der erste Adam, das Haupt des gefallenen Menschengeschlechts, ausgetrieben wurde, so ist jeder, der von ihm abstammt, von Natur fern von Gott, ein verlorener, verdammungswürdiger Sünder. Er ist ein Glied des ersten Adam, ein Teil des gefallenen, sündigen Geschlechts, ein Stein in dem alten, gerichteten Haus.

Das Haupt und sein Geschlecht gehören zusammen. Was von dem Einen wahr ist, ist auch von dem Anderen wahr. Sie sind in den Augen Gottes völlig eins. War der erste Adam ein gefallenes, sündiges, aus der Gegenwart Gottes vertriebenes Geschöpf, so sind es auch alle, die von ihm abstammen. Wie das Haupt, so sind die Glieder – ein jedes Glied in Sonderheit und alle Glieder zusammen. Und so wie dem Haupt jede Möglichkeit zur Rückkehr abgeschnitten wurde, so ist es auch für ein jedes Glied unmöglich, zu dem Baum des Lebens zurückzukehren. „Die, welche im Fleisch sind“, d. h. alle, die zu der alten Schöpfung gehören, alle, welche Glieder des ersten Adam und Teile an dem alten, verfallenen Gebäude sind, „können Gott nicht gefallen.“ Sie müssen „von neuem geboren“ werden. Der Mensch muss in den tiefsten Quellen seines seins, von Grund aus, erneuert werden. Er muss das Werk Gottes sein, „geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, welche Gott zuvorbereitet hat, aus dass wir darinnen wandeln sollen.“ Er muss mit dem Apostel sagen können: „Der uns aber eben hierzu bereitet hat, ist Gott.“

Doch dies führt uns zu der Frage: Wie kann ein Mensch in diese gesegnete, neue Stellung gelangen? Wie kann ein Mensch, dessen Augen über sein völlig hoffnungsloses Verderben geöffnet worden sind, jemals einen Platz erreichen, auf welchem er Gott gefallen kann? Der Herr sei gepriesen! Die Schrift gibt uns eine klare und bestimmte Antwort. Ein zweiter Mensch ist auf dem Schauplatz erschienen, der Same des Weibes, und zu gleicher Zeit Gott über alles, gepriesen in Ewigkeit. In Ihm ward ein völlig neuer Anfang gemacht. Er kam in diese Welt, geboren von einem Weib, geboren unter Gesetz, rein und ohne Fehl, frei von jedem Flecken von Sünde, den Folgen der Sünde nicht unterworfen; Er stand da inmitten einer verdorbenen Welt und eines sündigen Menschengeschlechts als das reine, fleckenlose Weizenkorn. Wir sehen Ihn als einen hilfloses Kind in der Krippe liegen, unter der Leitung seiner Eltern zu einem Jüngling heranwachsen, als ein Mann in dem Handwerk seines Vaters tätig; wir sehen Ihn in die Wasser des Jordans hinabsteigen, um von Johannes getauft zu werden Er selbst völlig ohne Sünde, aber alle Gerechtigkeit erfüllend, indem Er sich mit dem Überrest aus Israel eins machte. Wir sehen Ihn gesalbt mit dem Heiligen Geist, um sein Werk zu vollbringen; wir sehen Ihn hungernd und dürstend in der Wüste, im völligen Gegensatz zu dem ersten Adam, der in ein Paradies gestellt wurde. Wir sehen Ihn von Satan versucht, aber als Sieger aus dem Kampf hervorgehend; wir sehen Ihn auf dem Pfad seines öffentlichen Dienstes, unermüdlich tätig, wachend und betend, hungernd und dürstend, weinend mit den Weinenden und sich freuend mit den sich Freuenden. Die Füchse haben Höhlen, und die Vögel des Himmels Nester, aber der Sohn des Menschen hatte nicht, wo Er sein Haupt hinlegen sollte.

Das war das wunderbare Leben unseres gepriesenen Herrn. Aber Er lebte nicht nur hienieden, sondern Er ging auch freiwillig in den Tod, Er starb unter dem Gewicht der Schuld des ersten Menschen. Er starb, um die Sünde der Welt wegzunehmen und das Verhältnis Gottes zu der Welt völlig zu verändern, so dass Gott jetzt mit der Welt und dem Menschen handeln kann auf dem neuen Boden der Erlösung, statt auf dem alten der Sünde. Er starb, der Gerechte für die Ungerechten. Er litt um der Sünde willen. Er starb und ward begraben, nach den Schriften. Er stieg hinab in den Staub des Todes, in die unteren Örter der Erde. Er erduldete das Gericht, welches über den Menschen ausgesprochen war. Er räumte alles hinweg, was zwischen Gott und dem Menschen stand und die Liebe Gottes auszuströmen hinderte, und nachdem Er alles vollbracht halte, übergab Er seinen Geist in die Hände seines Vaters, und sein gesegneter Leib ward in ein Grab gelegt, über welches sich noch nie der Geruch des Todes verbreitet hatte.

Aber ist Er im Grab geblieben? Nein, Er ist auferweckt worden durch die Herrlichkeit des Vaters. Triumphierend über alles, ging Er aus dem Grab hervor. Er, das Haupt der neuen Schöpfung, der Anfang der Schöpfung Gottes, stand als der Erstgeborene aus den Toten, der Erstgeborene vieler Brüder, wieder auf. Und jetzt ist der zweite Mensch vor Gott, mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. Er befindet sich nicht in einem irdischen Paradies, sondern zur Rechten der Majestät in der Höhe. Dieser Zweite Mensch ist der letzte Adam, denn keiner ist, der nach Ihm kommen könnte. Der Erste ist beiseitegesetzt, der Letzte ist aufgestellt. Und so wie der Erste das gefallene Haupt eines gefallenen Geschlechts war, so ist der Zweite das auferstandene, verherrlichte Haupt eines erretteten, gerechtfertigten und für ewig erneuerten Geschlechts. Auch hier sind Haupt und Glieder unzertrennlich mit einander verbunden, völlig mit einander eins. Da ist kein Unterschied. „Wie Er ist, so sind auch wir in dieser Welt“ (1. Joh 4,17). Gott betrachtet die Glieder nicht anders als das Haupt, Er liebt sie, wie Er Ilm liebt. Und diese Glieder sind Gottes Werk, durch seinen Geist dem Leib Christi eingefügt; ihr Platz, ihre Stellung ist „in Christus.“ Sie sind nicht mehr „im Fleisch“, sondern „im Geist.“ Sie können Gott gefallen, weil sie seine Natur besitzen, durch seinen Geist versiegelt sind und durch sein Wort geleitet werden. Der sie hierzu bereitet hat, ist Gott, und Gott wird an seinem eignen Werk stets Wohlgefallen finden. Er wird nimmermehr das Werk seiner Hand für unvollkommen erklären oder gar verdammen können. Sein Werk ist vollkommen, und deshalb muss der Gläubige, als das Werk Gottes, vollkommen sein. Er ist „in Christus“, und das ist genug – genug für Gott, genug für den Glauben, genug in alle Ewigkeit.

Und wenn jetzt gefragt wird: „Wie kann dies alles erlangt werden?“ so antwortet die Schrift in ihrer Einfachheit und Klarheit: „Durch den Glauben.“ „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort Hort und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tod in das Leben hinübergegangen“ (Joh 5,24). (Fortsetzung folgt)

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