Botschafter des Heils in Christo 1885

Der Weg der Glückseligkeit - Teil 1/2

1.: Das Trachten nach Glückseligkeit findet sich in jedem Menschen ohne Unterschied. Dieses Trachten an sich ist ein Beweis, dass die Glückseligkeit nicht in dem Menschen selbst zu finden ist, sondern außer ihm liegt. Nachdem der ursprüngliche glückliche Zustand im Paradies, wo der Mensch in Verbindung mit Gott, der einzigen Quelle der Glückseligkeit, war, durch die Sünde verloren gegangen, und der Mensch aus der Gegenwart Gottes vertrieben, sowie unter den Fluch und die Macht Satans und des Todes gekommen ist, findet er in seinem Herzen eine Leere, die er auf alle mögliche Weise auszufüllen sucht. Satan, „der Fürst dieser Welt“, unter dessen Herrschaft er sich als Sünder befindet, lenkt sein Verlangen und seine Begierden auf sinnliche Dinge, auf „alles, was in der Welt ist, die Lust des Fleisches und die Lust der Augen und den Hochmut des Lebens“ (1. Joh 2,16). Aber je mehr der Mensch davon genießt, desto unbefriedigter fühlt er sich in seinem Inneren; daher dieses fortwährende Trachten und Jagen nach Genüssen und sichtbaren Dingen, ohne je satt zu werden, ohne je zur Ruhe zu kommen. Ein Tier ist befriedigt, wenn es in Behaglichkeit seine leiblichen Bedürfnisse stillen kann. Der Mensch aber wurde erschaffen „im Bild Gottes“; ihm wurde, nachdem sein Leib aus Staub von der Erde gebildet war, von Gott selbst „der Odem des Lebens eingehaucht“, und deshalb kann er seine Befriedigung nur in seinem Ursprung, dem unendlichen Gott, finden.

Doch die Sünde hat den Menschen von Gott getrennt; sie hat sein Herz mit Feindschaft gegen Gott erfüllt und den Zorn des gerechten und heiligen Gottes „über die Söhne des Ungehorsams“ gebracht (Röm 8,7; Eph 5,6). So besteht zwischen dem natürlichen Menschen und Gott eine Scheidewand, die ihn in diesem Leben von der einzigen Quelle der Glückseligkeit fernhält, während ihn für die Ewigkeit das verdammende Urteil Gottes unsäglich unglücklich machen muss. Sich selbst überlassen, von Gott getrennt, muss er unstet und ruhelos umherirren auf der Erde, und zwar von einer Täuschung seiner irdischen Hoffnungen zu der anderen, vergeblich nach Glückseligkeit trachtend, um dann, am Ende, durch den Tod und das Gericht in die Nacht ewiger Qualen versenkt zu werden. Schreckliches Los aller Kinder des gefallenen Adam, die „ohne Gott in der Welt“ sind!

Doch Gott ist nicht allein Licht, gerecht und heilig, sondern Er ist auch Liebe, gnädig, barmherzig und von großer Güte. Und weil Er beides ist, so hat Er die unergründliche Tiefe des Reichtums seiner Weisheit darin offenbart, dass Er einen Weg geöffnet hat, auf welchem einerseits seiner Gerechtigkeit gegen die Sünde vollkommen Genüge geschehen ist, und andererseits der Sünder durch die Gnade in eine ewige und vollkommene Glückseligkeit eingeführt werden kann. Als gerechter Gott kann Er keine einzige Sünde ungestraft lassen; Er muss den Sünder toten und verdammen. Nach seiner Liebe aber will Er nicht den Tod des Sünders, sondern dass er lebe. Vollkommen in seinem Wesen, kann Er weder von seiner Gerechtigkeit noch von seiner Liebe etwas ablassen, wie es vielleicht der Mensch tun würde, um einen Mittelweg zu finden. Tod und Leben aber zu vereinigen ist bei Menschen unmöglich; doch bei Gott sind alle Dinge möglich. Er hat das Geheimnis seines Wesens, unergründlich für den Verstand, in der Vereinigung seiner vollkommenen Gerechtigkeit und seiner vollkommenen Liebe in Christus offenbart. Ihn, seinen eignen Sohn, „Seinen Einzigen, den Er liebte“, hat Er in diese Welt gesandt, um den Sünder zu erretten. Der Sohn, völlig eins mit dem Vater, ist Mensch geworden, um an die Stelle verdammungswürdiger Menschen zu treten und, während Er persönlich vollkommen rein und ohne Sünde war, an ihrer statt das gerechte Gericht Gottes über die Sünde an sich vollziehen zu lassen. Der Tod ist der Lohn der Sünde. Christus hat die Bitterkeit des Todes geschmeckt, Er, der „das Leben“ war, und hat dadurch für alle, die an Ihn glauben, „den Tod zunichtegemacht“ (2. Tim 1,10), sowie auch „den, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel, und alle die befreit, welche durch Furcht des Todes während des ganzen Lebens der Knechtschaft unterworfen waren“ (Heb 2,14–15). Am Kreuz, beladen mit fremden Sünden, den unzähligen Sünden aller derer, die an Ihn glauben, und für sie zur Sünde gemacht, – zu dem, was sie in sich selbst sind – musste Er das vollkommene Gewicht des gerechten Gerichts Gottes über die Sünde in seiner Seele fühlen, und zwar in einem Maß, wie es für eine Kreatur unmöglich sein würde; und so wurde die Gerechtigkeit Gottes auf eine göttlich vollkommene Weise befriedigt. Gott betrachtet hinfort alle, die an den Sohn glauben, als mit Ihm gestorben und in Ihm gerichtet, als solche, die als Sünder vor seinen Augen auf ewig hinweggetan und von allen ihren Sünden befreit sind. „Denn wer gestorben ist, ist freigesprochen von der Sünde“ (Röm 6,7), und: „das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde“ (1. Joh 1,7). „Alles aber von dem Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Jesus Christus; ... Denn Gott war in Christus, die Welt mit sich selbst versöhnend“ (2. Kor 5,18–19). Diese Botschaft lässt Gott jetzt allen Menschen verkündigen, damit sie glauben und dadurch der Errettung teilhaftig werden möchten (2. Kor 5,20–21).

In welch vollkommener Weise zeigt uns das Kreuz, was die Gerechtigkeit Gottes der Sünde gegenüber ist! Der „Sohn seiner Liebe“ musste unter dem verzehrenden Feuer seines Gerichts ausrufen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Er musste in „den Staub des Todes“ gelegt werden (Ps 22). Wie sehen wir aber auch andererseits in demselben Kreuz die überströmende Liebe Gottes zu dem sündigen Menschen offenbart! Um unser schonen zu können, „hat Er seines eignen Sohnes nicht geschont, sondern Ihn für uns alle dahingegeben“ (Röm 6,32).

Doch seine Gerechtigkeit und Liebe gehen noch weiter. Die Gerechtigkeit Gottes erforderte, dass Er seinen Sohn, den Gerechten, nicht dem Tod überließ, in welchen Er freiwillig, als das wahre Lamm Gottes, hinabgestiegen war. Deshalb hat Er Ihn aus den Toten auferweckt, zu seiner Rechten gesetzt und mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt in den himmlischen Örtern. Dort, im Haus des Vaters, hat der ewige Sohn Gottes jetzt als Mensch seinen Platz genommen. Und weil Er für Menschen in das Gericht des Todes ging, so hat Er auch für Menschen jetzt dort in der Herrlichkeit einen Platz bereitet. Deshalb erfordert die Gerechtigkeit Gottes ferner, dass Er alle, die an den Sohn glauben, dort einführe, als „die Frucht der Mühsal seiner Seele“ (Jes 53). So lesen wir in Epheser 2: „Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe, womit Er uns geliebt, als auch wir in den Vergehungen tot waren, hat uns mit dem Christus lebendig gemacht durch (Gnade seid ihr errettet) und hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern in Christus Jesus.“ Da sehen wir also die Gerechtigkeit und Liebe Gottes in göttlicher Vollkommenheit vereinigt. Die Engel begehren in dieses Geheimnis hineinzuschauen (1. Pet 1,12); die durch den Glauben erretteten Sünder versenken sich mit Anbetung in dieses Meer der Liebe; die Himmel werden in alle Ewigkeit widerhallen von dem Lob des Gottes der Liebe und des geschlachteten Lammes (Off 5).

So hat die Gnade Gottes für den verlorenen Sünder einen Weg zu vollkommener und ewiger Glückseligkeit bereitet. Das Evangelium, die frohe Botschaft von Christus, zeigt diesen Weg und ladet alle ein, ihn zu betreten. Der Herr selbst ruft „alle Mühselige und Beladene“ zu sich, um ihnen die Ruhe zu geben, die sie vergeblich in der Welt suchen (Mt 11,28–30), und ladet noch am Schluss des Buches seiner Offenbarung ein: „Wen da dürstet, komme; wer da will, nehme das Wasser des Lebens umsonst“ (Off 22,17). Viele Tausende sind diesem Ruf bereits gefolgt, haben Frieden und Glückseligkeit bei Christus gefunden und besitzen in Ihm das ewige Leben. Allen anderen gilt die göttliche Mahnung: „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht“ (Heb 3,7). „Wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden“ (Mk 16,16). 2.: Wir haben also gesehen, dass Gott in Christus einen Weg der Glückseligkeit geöffnet hat. Wer nun der frohen Botschaft, die Gott an den Menschen richtet, glaubt und als verlorener Sünder das in Christus angebotene Heil durch den Glauben empfängt, verlässt dadurch den Weg des Verderbens und betritt den Weg der Glückseligkeit, der in der ewigen Herrlichkeit endet. Doch geht sowohl der erste Schritt, die Umkehr zu Gott oder die Bekehrung, als auch der ganze fernere Weg bis zum Endziel, durch mancherlei und tiefe Hebungen des Herzens.

Wenn der Sünder durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes ins Licht Gottes gebracht wird, so treten ihm seine Sünden vor die geöffneten Augen; oft ist es vielleicht zunächst nur eine bestimmte Sünde, die ihn unruhig macht und ihn zu dem Bewusstsein bringt, dass er verdammungswürdig ist. Je mehr das Licht in seine Seele dringt, desto unübersehbarer wird die Zahl seiner begangenen Sünden vor seinem erschreckten Blick, desto gewisser wird es ihm, dass er verloren ist. Und was seinen Zustand noch hoffnungsloser macht, ist die Wahrnehmung, dass er trotz seiner Anstrengungen weder die Sünde lassen, noch etwas Gutes tun kann. Er findet, dass er „unter die Sünde verkauft“ ist, und kommt schließlich zu dem Ausruf: „Ich elender Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leib des Todes?“ (Röm 7,14.24) Doch sobald er an allen Hilfsquellen in sich selbst verzweifelt und nach einem Retter außer sich ausschaut, zeigt ihm der Heilige Geist, dass seine Errettung längst vollbracht ist durch das Versöhnungswerk, welches Gott selbst in Christus auf Golgatha für ihn ausgeführt hat. Er lernt, indem er dies glaubt, verstehen, dass Christus „unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist“; dass wir nun „gerechtfertigt worden sind aus Glauben“ und dadurch „Frieden haben mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus, durch welchen wir mittelst des Glaubens auch Zugang haben zu dieser Gnade, in welcher wir stehen, und rühmen uns in Hoffnung der Herrlichkeit Gottes“ (Röm 4,25–5,2).

Der Weg der Glückseligkeit ist jetzt nicht bloß geöffnet, sondern die Gnade hat auch den früher verlorenen und unglücklichen Sünder durch den in ihm gewirkten Glauben in die Glückseligkeit eingeführt, die in der Tatsache beruht, dass das Blut des Kreuzes Christi zwischen ihm und Gott Frieden gemacht hat. Selige Ruhe kehrt ein in die geängstigte Seele; die Furcht vor den Schrecken des Gerichts macht den glücklichen Gefühlen eines, in die Gemeinschaft eines liebenden Vaters und seines Sohnes Jesu Christi gebrachten Kindes Gottes Platz. Ein neues Leben entfaltet sich in der Seele und offenbart sich in Gefühlen und Gesinnungen, die mit der Natur Gottes, welche Licht und Liebe ist, in Übereinstimmung sind, und die dem Leben entsprechen, welches in dem Menschen Christus auf der Erde sichtbar dargestellt worden ist. „Ist jemand in Christus – eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden“ (2. Kor 5,17).

Der Glaube verbindet die Seele mit Christus, dem im Himmel verherrlichten Menschen, der, „nachdem Er durch sich selbst die Reinigung der Sünden gemacht, sich gesetzt hat zur Rechten der Majestät in der Höhe“ (Heb 1,3). Der Tod Christi hat nicht allein ein Ende gemacht mit den Sünden des Glaubenden, sondern auch mit seinem ganzen natürlichen Zustand. Er ist mit Christus gestorben und auferweckt, hat dadurch „abgelegt den alten Menschen, der nach den Lüsten des Betrugs verdorben ist ... und angezogen den neuen Menschen, der nach Gott geschaffen ist in wahrhaftiger Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4,22–24). Er ist nicht mehr im Fleisch, um der Sünde zu dienen, sondern im Geist, um der Gerechtigkeit zu dienen (siehe Röm 8,1–16; Tit 2,11–14; 3,3–7).

Der Heilige Geist hat Wohnung gemacht in seinem Herzen, leitet und bildet ihn Christus Jesus gemäß, offenbart ihm alle die Schönheiten und Herrlichkeiten der Person Jesu und verbindet sein Herz in Liebe mit Ihm, der ihn zuerst geliebt hat, so dass er jetzt in Christus einen Gegenstand besitzt, an dem er dieselbe Freude und Wonne haben kann, wie sie das Herz Gottes über seinen Eingeborenen erfüllt. Der Besitz und Genuss dieses unendlichen Schatzes, den Gott mit ihm geteilt hat, stillt sein Verlangen nach Glückseligkeit auf ewig und in einer Weise, „die allen Verstand übersteigt“, so dass alles, was in der Welt ist, selbst das, was früher als Gewinn betrachtet wurde, jetzt nur als „Verlust und Dreck“ erscheint (Phil 3,7–8).

Die innige Verbindung der Seele mit Christus, das Leben der Gemeinschaft mit Ihm, dem Unsichtbaren, der durch seinen Geist seine Gegenwart so spürbar offenbart, als sähe man Ihn, ist das höchste Maß der Glückseligkeit, welches von einer Kreatur genossen werden kann. Freilich, solange wir „durch Glauben, nicht durch Schauen“ hienieden wandeln, ist dieser Genuss unvollkommen, weil ein beständiger Kampf nötig ist, um im Glauben zu verharren. „Kämpfe den guten Kampf des Glaubens“ (1. Tim 6,12; siehe auch Eph 6,10–18). Bald aber wird Er, der uns über alle Maßen liebt, den auch wir lieben, „obgleich wir Ihn nicht gesehen haben“ (1. Pet 1,8), uns aus dem gegenwärtigen Zustand der Unvollkommenheit zur Vollkommenheit, aus dem Glauben zu seligem Schauen führen, nach seiner Verheißung: „Und wenn ich hingegangen bin und euch eine Stätte bereitet habe, so komme ich wieder und will euch zu mir nehmen, auf dass, wo ich bin, auch ihr seid“ (Joh 14,3). Der Erfüllung dieser Verheißung dürfen wir täglich entgegensehen, denn der Herr hat keinen bestimmten Zeitpunkt dafür angegeben, noch auch auf Zeichen hingewiesen, die seiner Ankunft zur Aufnahme der Seinen vorhergehen sollten. Das letzte Wort, welches Er an sie richtet, ist: „Ja, ich komme bald.“ Die seinigen antworten: „Amen, komm, Herr Jesu!“ Er hat sich ihnen angekündigt als der „glänzende Morgenstern“, der vor dem Anbruch des Tages (der zunächst ein Tag des Gerichts sein wird) aufgeht, den nur diejenigen sehen, welche nicht schlafen, wie die Welt, sondern wachen und auf Ihn warten. Auf diese Ankündigung antwortet der Geist und die Braut: „Komm!“ (Off 22,16–17.20) So leitet der Geist die Gläubigen zu der beständigen Erwartung des herrlichsten aller Augenblicke, wo sie Ihm entgegengerückt werden, um Ihn zu sehen, wie Er ist, und allezeit bei ihm zu sein (1. Thes 4,17). Dann wird das Maß der Glückseligkeit voll sein.

Doch bis zu diesem gesegneten Augenblick haben sie Ihn bei sich alle Tage, solange sie hienieden pilgern, sind nicht als Waisen gelassen, sondern Er ist zu ihnen gekommen im Geist (Joh 14,16–18). Sie können seine beseligende Nähe, ja seine Innewohnung in ihren Herzen durch einen innigen Umgang mit Ihm genießen (Joh 14,23), und dadurch die Seligkeit, die ihrer im Himmel wartet, schon hier in Schwachheit erfahren und schmecken.

Er trennt sich nicht von den Seinen, begleitet sie auf Schritt und Tritt, nimmt als „barmherziger und treuer Hohepriester“ teil an allen ihren „Versuchungen und Schwachheiten“ (Heb 2,17–18; 4,15–16), tröstet sie durch seine Liebe, „nährt und pflegt sie“ als die „Glieder seines Leibes“ (Eph 5,29–30), wäscht ihre Füße, wenn sie sich auf ihrem Pilgerweg durch eine sündige Welt verunreinigt haben (Joh 13,5–11), ist ihr Sachwalter bei dem Vater, wo Er für sie bittet (1. Joh 2,1; Röm 8,34). Er ist, mit einem Wort, die unversiegbare Quelle für alle ihre Bedürfnisse, aus der sie „Gnade um Gnade“, so viel sie bedürfen, Kraft, Friede und Freude schöpfen können, so dass sie in Verbindung mit Ihm keinen Mangel haben können an irgendeinem Guten.

Der Weg, den sie durch diese Welt zu gehen haben, ist in Verbindung mit Ihm ein Weg der Glückseligkeit, wenn auch wechselvoll und reich an Prüfungen. Die Güte Gottes ist zwar alle Morgen neu; doch sie offenbart sich nicht bloß im Sonnenschein, sondern auch in den Stürmen des irdischen Lebens. An allem will der Herr teilnehmen; Freud und Leid sollen die Seinen mit Ihm durchleben. Die Freude, mit Ihm genossen, wird geheiligt und erweckt Danksagung; ohne Ihn führt sie leicht zu Übermut. Das schmerzerfüllte Herz, vertrauensvoll vor Ihm ausgeschüttet, empfängt den Trost seiner Liebe und seines Mitgefühls, so dass es selbst im Leid fähig gemacht wird, Ihn zu preisen und zu verherrlichen. Wer vermag, wie Er, „sich zu freuen mit den sich Freuenden und zu weinen mit den Weinenden?“ (Röm 12,15)

Diese Teilnahme des Herrn an den Umständen der Seinen leuchtet uns entgegen aus vielen Beispielen, die uns in der Schrift aus der Zeit seines Wandelns auf der Erde in der Mitte seiner Jünger mitgeteilt werden. Er ist noch heute derselbe, wie damals; deshalb werden auch jetzt die Seinen dieselben Erfahrungen machen können, wie jene Jünger. Einige Beispiele aus den vielen mögen hier angeführt werden.

Die Jünger des Johannes kamen zu Jesu (Mt 14,12), um Ihm ihren Schmerz über den Tod ihres geliebten Lehrers zu klagen. Sie wussten, dass sie niemand finden konnten, der so mit ihnen fühlte, wie Er; gleich wie Maria weinend zu seinen Füßen sank und eine Linderung ihres Schmerzes über den Tod ihres Bruders in den Tränen dessen fand (Joh 11,32), der „die Auferstehung und das Leben“ ist. So dürfen die Seinen auch heute noch ihren Schmerz getrost zu seinen Füßen ausweinen und gewiss sein, bei Ihm das vollkommenste Mitgefühl zu finden. Er kennt ans eigener Erfahrung jeden Schmerz, den ein Menschenherz in einer Welt, die durch die Sünde ein „Tränental“ geworden ist, empfinden kann, und sein Mitgefühl äußert sich nicht in ohnmächtigen, wenn auch noch so gut gemeinten Ausdrücken menschlicher Teilnahme, sondern Er senkt durch die mächtige Wirksamkeit seines Geistes den Trost seiner Liebe in das leidende Herz, so dass es erhoben wird von den Gegenständen des Kummers zu Ihm, der Quelle der Freude. Er hat „eine Zunge der Gelehrten, dass Er wisse, mit dem Müden ein Wort zu reden zu rechter Zeit“ (Jes 50,4). Kein Mensch, selbst nicht der uns am nächsten Stehende, der uns durch jahrelangen Umgang kennt und liebt, ist fähig, sich so zu versenken in das, was unser Herz bewegt, wie Er, der die verborgensten Tiefen unseres Wesens ergründet und sogar einen Kummer versteht, über den wir uns selbst nicht einmal Rechenschaft geben, oder den wir in Worten klar ausdrücken könnten. Auch kommen wir Ihm nie ungelegen; bei Tage wie bei Nacht ist sein Ohr für unser Schreien oder unsere stillen Seufzer geöffnet. Ja, je öfter und anhaltender wir unser Anliegen vor Ihn bringen, desto mehr entsprechen wir dem Bedürfnis seiner Liebe, welche ihr Wohlgefallen darin findet, uns zu helfen und glücklich zu machen. Welch ein Glück, in den vielen Kümmernissen des irdischen Lebens einen so innig teilnehmenden, allmächtigen Freund zu haben!

In Markus 6,30–51 finden wir in wunderbarer Schönheit eine Reihe von Beispielen, in denen wir den Herrn, in Verbindung mit seinen Jüngern, inmitten der verschiedenartigsten Lebenslagen und Verhältnissen sehen, als den, der in allen Bedürfnissen genug ist.

In Vers 30 versammeln sich die von ihrer Anwendung zur Verkündigung des Evangeliums des Reiches zurückkehrenden Jünger bei Jesu und berichten Ihm alles, was sie getan und gelehrt haben. Die Freude ihres Herzens über ihre Erfolge konnten sie in aller Vertraulichkeit vor Ihm kund werden lassen. Sie hatten, trotz ihrer Schwachheit, keine knechtische Scheu vor Ihm, denn seine Liebe, die sie kannten, treibt alle Furcht aus. Und indem sie ihre Freude über das, was sie in der von Ihm selbst empfangenen Macht ausgerichtet hatten, zu seinen Füßen niederlegen, werden sie vor Selbsterhebung bewahrt.

In Vers 31 ladet der Herr sie ein: „Kommt an einen wüsten Ort und ruht ein wenig aus.“ Er sagt nicht: „Geht ohne mich“, sondern: „Kommt her.“ Er will, dass sie mit Ihm ausruhen sollen, wie sie auch mit Ihm, d. h. in seiner Kraft und nach seiner Anweisung gearbeitet hatten. Eine Ruhe in der Einsamkeit, mit Ihm genossen, stellt die müde Seele wahrhaft wieder her und sammelt das im Geräusch des Lebens oft so zerstreute Herz um den köstlichen Mittelpunkt, aus dem Erquickung, Friede, Freude und neue Kraft hervorströmen; während ein Ausruhen, ein Sichzurückziehen in die Einsamkeit ohne Ihn die Gefahr in sich birgt, in Trägheit und Selbstbeschaulichkeit zu verfallen, wo das eigene Ich den Mittelpunkt bildet und die natürliche Selbstsucht des Herzens genährt wird, die sich nur selbst zu dienen und zu verherrlichen sucht. Das Ausruhen eines Jüngers Jesu darf nur den Zweck haben, neue Kräfte für den Dienst der Liebe zu sammeln, der nicht sich selbst, sondern anderen gewidmet ist. Wir sehen denn auch in dem folgenden Abschnitt, wie der Herr seine Jünger in diesen Dienst stellt, sie zu Kanälen seiner Segnungen, zu seinen Mitarbeitern macht. Glückliches Vorrecht für sie!

In Vers 34–44 erblicken wir den Herrn in seiner Fürsorge für das Volk. Nicht allein die Seinen, die an Ihn glaubten, erfreuten sich seiner Fürsorge, sondern sein liebendes Herz umfasste alle Menschen. Auch heute noch und solange die Gnadenzeit währt, ist seine Sorgfalt auf die ganze Welt gerichtet. „Er will nicht, dass irgendwelche verloren gehen, sondern dass alle zur Buße kommen“ (2. Pet 3,9). „Er will, dass alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1. Tim 2,4). Deshalb sendet Er in alle Welt seine Botschaft: „Lasst euch versöhnen mit Gott“ (2. Kor 5,20). Und da Er jetzt „zur Rechten der Majestät sitzt und alle Dinge durch das Wort seiner Macht trägt“ (Heb 1,3), so ist auch seine Regierung in den Wegen der Menschen darauf gerichtet, sie durch Güte und Ernst für seine Gnade empfänglich zu machen. Wenn sie in ihrer Not zu Ihm schreien, so hört Er, hilft ihnen und sorgt für ihre Bedürfnisse. Dies gilt für alle Menschen, und in seiner Fürsorge für sie nach Seele und Leib gibt Er den Seinen das Vorrecht, seine Mitarbeiter zu sein.

Zu dieser Mitarbeit sind alle die Seinen berufen, wenn sie auch nicht alle denselben Dienst ausüben können. Aber in irgendeiner Weise können alle, auch die am wenigsten Begabten, dienen, und oft ist der unscheinbarste Dienst der gesegnetste. Wir können auch sicher sein, dass, wenn der Herr uns einen Auftrag gibt, (und alle die Seinen haben den Auftrag, Ihm in irgendeiner Weise zu dienen) Er auch die Kraft und die Mittel zur Ausführung desselben darreichen wird. Wenn Er deshalb die Jünger aufforderte, sie sollten der Volksmenge zu essen geben, so war es nur Mangel an Glauben bei ihnen, dass sie auf die völlig unzureichenden Mittel blickten, die sie selbst besaßen. Hätten sie verstanden, dass ihr Auftraggeber derselbe war, der einst vierzig Jahre lang ein großes Volk in einer öden und dürren Wüste gespeist und getränkt hatte, so hätten sie ihre Augen auf Ihn gerichtet und nicht auf sich selbst. Das ist es, was der Glaube tut, und dadurch verfügt er über alle Schätze Gottes.

Der Herr aber ist erhaben über den Unglauben oder Kleinglauben der Seinen, und so sehen wir, dass Er trotz desselben seine Jünger benutzt, um, seinem Auftrag gemäß, das Volk zu speisen.

„Alles, was zuvor geschrieben ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben“ (Röm 15,4); auch das, was uns in diesem Abschnitt mitgeteilt wird, soll uns leiten, die Kraft und die Mittel zu allem, was uns der Herr in dieser Welt aufgetragen hat, nicht in uns selbst zu suchen, wo nur Ohnmacht zu finden ist, sondern uns für die Tätigkeit, die wir jeden Tag auszuüben haben, von Ihm die Hand füllen zu lassen, wie die Jünger bei der Austeilung der Brote, damit wir alles tun in seiner Kraft und Er die Ehre davon empfange. Das ist fürwahr ein leichter und glücklicher Dienst, wo alles, was zu seiner Ausübung nötig ist, von dem Herrn des Dieners selbst dargereicht wird! Sein Joch ist sanft, und seine Last ist leicht. Möchten alle Gläubige solch gesegnete Kanäle sein, durch welche die Segnungen, welche der Herr durch sie verbreiten will, rein, wie sie aus seiner Hand kommen, ausströmen, ohne eine verunreinigende Beimischung ihrer Eigenheit! Je abhängiger sie von dem Herrn sind, desto glücklicher ist ihr Dienst und ihr ganzer Weg.

In Vers 45–51 sehen wir die Jünger in Gefahr auf dem See und voll Furcht. Der Herr aber kommt ihnen zu Hilfe und ruft ihnen zu: „Fürchtet euch nicht!“ Dann nimmt Er seinen Platz bei ihnen in ihrem Schiff und bringt sie glücklich ans Land. Die Einzelheiten, die uns in diesem Abschnitt mitgeteilt sind, bieten ein treffendes Bild von den Verhältnissen, unter welchen die Gläubigen durch diese Welt zu gehen haben. Sie müssen gleichsam das wogende Meer des irdischen Lebens durchschiffen, wobei der Wind ihnen häufig entgegen ist. Satan, ihr Widersacher, ist noch der Fürst dieser Welt, der, obwohl sie aus seiner Gewalt errettet sind, ihnen mancherlei Schwierigkeiten und Versuchungen bereitet. Ja, Gott selbst in seiner Regierung lässt sie in solche Schwierigkeiten kommen, um sie zur Selbsterkenntnis und zum besseren Verständnis dessen, was Er ist, zu führen; wie Er seinem Volk Israel sagen lässt (5. Mo 8), dass Er sie deshalb 40 Jahre in der Wüste geleitet habe, um sie zu demütigen und zu versuchen, auf dass sie erkennen möchten, was in ihrem Herzen war, und um an ihnen seine Macht und Güte zu erweisen, „dass Er dir wohl tue an deinem Ende“ (V 16).

Während die Jünger in finsterer Nacht mit den Wellen kämpften, war der Herr auf dem Berg, um zu beten. Aber sein Auge war beständig auf sie gerichtet, und als Er sie beim Rudern notleiden sah, kam Er zu ihnen, wandelnd auf dem See. – So ist der Herr jetzt, während die Seinen durch diese Welt gehen, droben zur Rechten Gottes, um zu beten, und zwar sind sie der Gegenstand seiner Fürbitte (Röm 8,34; Joh 17). Er lässt sie nie aus den Augen, sieht jeden Augenblick, was sie machen, sieht ihre Gefahren und ihre Bedrängnisse und tritt im entscheidenden Augenblick mit seiner allmächtigen Hilfe ins Mittel, weil Er, der sie so teuer erkauft hat, sie unmöglich preisgeben kann. Darauf können sie mit voller Bestimmtheit bis ans Ende rechnen. Wohl mögen sie in ihrem Kleinglauben sich verlassen wähnen, und selbst, wenn Er schon zu ihrer Hilfe erschienen und wirksam ist in den Umständen, seine Dazwischenkunft als Ursache des Schreckens betrachten. Töricht genug, aber für Ihn kein Hindernis, im richtigen Augenblick mit dem Zuruf: „Seid guten Mutes, ich bin es; fürchtet euch nicht!“ sich mit ihnen in ihren Bedrängnissen zu vereinigen und dadurch in seiner Kraft sie zu Überwindern zu machen (Röm 8,37). Mit Ihm vereinigt, gehen sie siegreich aus allen Gefahren hervor und erreichen sicher das Land, wohin ihre Fahrt geht, das himmlische Kanaan, wo sie, gesichert vor allen Stürmen, ewig bei Ihm ruhen werden.

Fürwahr, glückselig ist der Pfad der Gläubigen in Verbindung mit dem Herrn, wenn sie alles, was dieser Pfad mit sich bringt, mit Ihm durchleben! Möchten wir alle dieses Glück reichlich erfahren, alles, was unsere Herzen bewegt, zu Ihm bringen, unseren Schmerz in seinen Schoß ausschütten, unsere Freude mit Ihm genießen, in der Einsamkeit und Ruhe Ihn zu unserem Gesellschafter haben, wo die Unterhaltung mit Ihm die Erquickung unserer Seele bildet, zu aller Tätigkeit uns die Weisheit, Treue und Kraft von Ihm schenken lassen, in den Bedürfnissen des täglichen Lebens nicht vergessen, dass wir denselben Herrn haben, der einst eine große Volksmenge mit wenigen Broten sättigte, in den Stürmen des Lebens vertrauensvoll unser Glaubensauge auf Ihn gerichtet halten, bis wir, nach vollbrachtem Pilgerlauf, uns mit allen seinen teuer Erkauften vereinigen werden zu ewigem Lob, wo wir Ihn schauen werden von Angesicht zu Angesicht.

Dessen Lieb' uns hier erquickt,

Dessen Treue uns geleitet,

Dessen Gnad' uns reich beglückt (Schluss folgt).

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