Botschafter des Heils in Christo 1885

Zachäus

Bei der Betrachtung der Geschichte des Oberzöllners von Jericho drängt sich uns unwillkürlich eine Wahrheit von unschätzbarem Wert auf, nämlich, dass es nichts ausmacht, in welch einer Stellung oder in welchen Umständen sich ein Mensch befinden mag – wenn er nur ernstlich das Heil seiner Seele sucht, wenn er mit Aufrichtigkeit nach Christus verlangt, so wird er sicher alles, was er sucht, finden, ja unendlich weit mehr, als er je erwartet hätte. Der ernste Sucher wird stets ein glücklicher Finder werden.

Zachäus war ein reicher Mann, ein reicher Oberzöllner. Er war in der Ausübung eines unter den Juden höchst verachteten Gewerbes reich geworden, nämlich durch die Einziehung der römischen Zölle und Steuern. In dem vorhergehenden Kapitel sagt nun der Herr: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher in das Reich Gottes eingehe“ (Lk 18,25). „Wie denn“, hätte der Feind zu Zachäus sagen können, „kannst du jemals daran denken, in das Reich Gottes einzugehen? Wie könntest du errettet werden? Deine Umstände, deine Stellung, dein Beruf, alles das bildet eine unüberwindbare Schranke für die Errettung deiner Seele.“ Alle diese Einwendungen hätte der Feind, wie gesagt, machen können, wenn nicht der Herr jenem ernsten Ausspruch die Worte hinzugefügt hätte: „Was bei Menschen unmöglich ist, ist möglich bei Gott.“ Gott vermag schwerere Dinge zu vollbringen, als ein Kamel durch ein Nadelöhr zu führen. Er kann Zöllner und Sünder erretten.

Doch vergessen wir nicht, dass es Zachäus so völlig Ernst war mit seinem Wunsch, Jesus zu sehen, dass er keine Schwierigkeiten achtete. Er lebte in Jericho, der verfluchten Stadt, und war überdies ein reicher Zöllner; aber er war zugleich ein aufrichtiger Mann, und „er suchte Jesus zu sehen.“ Bei ihm war Wirklichkeit vorhanden, gerade das, was man heutzutage so wenig findet. Eine aufrichtige, ernste Seele wird alle Arten von Schwierigkeiten besiegen, ja, die Schwierigkeiten dienen gerade dazu, um Wirklichkeit, da wo sie vorhanden ist, ans Licht zu bringen. So stellten sich auch dem Zachäus, als er Jesus zu sehen suchte, zwei Schwierigkeiten entgegen, die tausend andere zurückgeschreckt haben würden. „Er vermochte es nicht vor der Volksmenge, denn er war klein von Person.“ Was tut nun Zachäus? Kehrt er nach Haus zurück, um eine günstigere Gelegenheit abzuwarten? O nein, er musste Jesus sehen. War der Herr von einer Volksmenge umgeben? Zachäus konnte vorauslaufen. War er klein von Person? Er konnte auf einen Baum steigen. Ja, wenn tausend Schwierigkeiten statt dieser beiden vorhanden gewesen wären, so würde Zachäus sie mit derselben Energie überwunden haben, welche die Gnade in seiner Seele hervorgebracht hatte. Gerade die Schwierigkeiten, welche einem gleichgültigen, sorglosen Menschen ebenso viele Ursachen zur Entschuldigung geben, bieten einer ernsten, aufrichtigen Seele ebenso viele Gelegenheiten, ihren Ernst und die Wirklichkeit ihres Begehrens zu offenbaren.

Tatsächlich gibt es keine Entschuldigung für irgendeinen Menschen. Alle sind eingeladen, alle sind willkommen. „Wer da will, nehme das Wasser des Lebens umsonst.“ Alle, welche Entschuldigungen suchen, begehren nicht zu kommen; und es würde weit aufrichtiger sein, wenn solche, anstatt sich zu entschuldigen, sagen würden: Wir wollen nichts mit Gott, mit Christus und mit der Frage unserer Errettung zu tun haben. Es gibt keinen Grund für irgendeinen Menschen, nicht heute noch zu Jesu zu kommen, keine Entschuldigung, die im Licht des Richterstuhls Christi Gültigkeit haben könnte. Von seilen Gottes gibt es kein Hindernis, weshalb ein Sünder nicht in diesem Augenblick zu Jesu kommen und in Ihm ein völliges Heil finden könnte. Jesus ist heute so bereit, jeden aufzunehmen, der in Wahrheit zu Ihm kommt, als Er es war in den Tagen des Zachäus. „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinauswerfen“; so lauten seine eignen, gesegneten Worte; und daher gibt es keine Entschuldigung für irgendeinen Menschen, wie es für Christus keine Ursache gibt, einen Sünder, der in einfältigem Glauben zu Ihm kommt, zurückzuweisen.

Dies erfuhr auch Zachäus. Ihm war es wirklicher, völliger Ernst. Er legte nicht die Hände in den Schoß und sagte, wie man es heute so oft hören kann: „Wenn es Gottes Wille ist, mich zu erretten, so werde ich errettet werden. Es hat keinen Zweck, mich über diese Sache zu beunruhigen. Bin ich auserwählt, so muss ich errettet werden; bin ich es nicht, so kann ich nichts daran ändern.“ O nein, eine solch elende Beweisführung konnte Zachäus nicht befriedigen. Er hatte eine Seele, die der Errettung bedurfte, und die Ewigkeit stand vor ihm. Mit einem Wort, er suchte ernstlich, wie es die Pflicht eines jeden Menschen ist, mag er jung oder alt, reich oder arm sein. Er suchte, er lief voraus, und er kletterte auf einen Baum. Er verfolgte mit Eifer und Ausdauer sein Ziel. Er verlangte nach Jesu, und Jesus verlangte nach ihm. „Und als Jesus an den Ort kam, sah Er auf.“ Warum sah der Herr empor? Weil inmitten der Zweige des Maulbeerfeigenbaumes sich ein ernstlicher Sucher befand; nicht einer, der wie Adam sich vor den Augen des Herrn verbarg, sondern ein Mensch, der Jesus suchte. Und „Jesus sah auf und erblickte ihn und sprach zu ihm: Zachäus, steige eilend hernieder, denn heute muss ich in deinem Haus bleiben.“

Welch eine Antwort! Welch ein Augenblick! Zachäus blickt in ernstem Begehren von dem Baum herab, um Jesus zu sehen, und Jesus blickt in unergründlicher Gnade zu ihm empor. Ihre Blicke begegnen sich, und in demselben Augenblick ist ein Band gebildet, das durch die endlosen Zeitalter der Ewigkeit hindurch bestehen wird. Wie wenig hatte der verachtete Zöllner daran gedacht, dass Jesus ihn beachten und seinen Namen auf seine Lippen nehmen würde! Wie wäre es ihm jemals in den Sinn gekommen, dass er den Sohn Gottes selbst als Gast in seinem Haus beherbergen sollte! War es denn möglich? Konnte er, der reiche Zöllner, einer solchen Segnung, eines solchen Vorrechts teilhaftig werden? War denn das Unmögliche möglich gemacht? Ja, ein ernster, aufrichtiger Sünder und ein liebender Heiland waren einander begegnet. Alle Schwierigkeiten waren hinweggeräumt, alle Schranken entfernt. „Zachäus, steige eilend hernieder, denn heute muss ich in deinem Haus bleiben“; so lautete die freundliche Aufforderung. Und Zachäus „stieg eilend hernieder und nahm ihn auf mit Freuden.“

Was mag in diesem Augenblick in dem Herzen des Oberzöllners von Jericho vorgegangen sein! Kein Wort des Tadels kam über die Lippen des Gesegneten, mit keinem Wort wurde sein verachteter Beruf erwähnt, keine Bedingungen wurden gestellt! Nein, ein Sünder und ein Heiland waren sich begegnet, und was anders als Heil und Errettung konnte die Folge sein? Ja, eine Errettung, voll und frei, eine Errettung, wie sie gerade den Bedürfnissen eines Zachäus angemessen war. Die Menschen mochten hierüber murren. Ihr religiöser Stolz mochte sich auflehnen gegen die Tätigkeit einer freien, unumschränkten Gnade. Aber das konnte die Strahlen des Heils Gottes nicht abhalten, mit vollem Glänze auf einen armen, verlorenen und schuldigen Sünder zu scheinen.

„Heute ist diesem Haus Heil widerfahren, die weil auch er ein Sohn Abrahams ist.“ Konnte der Herr dies sagen im Blick auf die Hälfte der Güter, welche Zachäus den Armen gab, oder auf seine Bereitwilligkeit, vierfältig zu erstatten, wenn er etwas durch falsche Anklage genommen hatte? O nein, sondern: weil „der Sohn des Menschen gekommen ist, zu suchen und zu erretten, was verloren ist.“ Es ist eine gegenwärtige, persönliche und vollkommene Errettung, die gleichsam aus dem Herzen Gottes selbst hervorstießt und dem Sünder in der Person und dem Werk des Herrn Jesus nahegebracht, ja, die einem jeden angeboten wird, der da will.

Mein lieber Leser, bist du noch unbekehrt? Ist dein Herz noch in Ungewissheit betreffs der Frage deiner Errettung? Ist dein Gewissen noch nicht zur Ruhe gebracht? O, dann bitte ich dich, lass es dir Ernst werden mit der Errettung deiner Seele! Gott warnt dich in seinem Wort, nicht gleichgültig voranzugehen. Lass dich durch nichts zurückhalten! Wenn es sich um unser ewiges Wohl und Wehe handelt, so gibt es keine Rücksichten, keine Schwierigkeiten und Entschuldigungen. Darum lass dich durch nichts aufhalten, heute noch zu dem zu eilen, der schon längst als ein liebender Heiland auf dich wartet und der dir, ebenso wie dem Zöllner von Jericho, mit einer vollen, freien und ewigen Errettung zu begegnen bereit ist.

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