Botschafter des Heils in Christo 1885

Der Dienst der Versöhnung - Teil 4/4

4.: Es gibt noch manch andere Punkte von höchstem Interesse und Werte in diesem Kapitel, bei denen wir jedoch nicht länger verweilen können, weil wir dem eigentlichen Gegenstand unserer Betrachtung, „dem Dienst der Versöhnung“, noch einige Augenblicke unsere Aufmerksamkeit widmen müssen. Da gibt es nun drei Gesichtspunkte, von welchen aus wir diesen Gegenstand betrachten können. Zunächst haben wir uns mit der Grundlage dieses Dienstes zu beschäftigen, dann mit den Gegenständen, an welchen er ausgeübt wird, und endlich mit den Charakterzügen, die ihn kennzeichnen. Möge der Heilige Geist uns in unserer Betrachtung leiten!

1. Was zunächst die Grundlage betrifft, auf welcher der Dienst der Versöhnung ruht, so wird uns dieselbe in dem Schlussvers unseres Kapitels vor Augen gestellt, in Worten, die voll von göttlicher Kraft und Fülle sind. Wir lesen da: „Ihn (Christus), der Sünde nicht kannte, hat Er (Gott) für uns zur Sünde gemacht, ans dass wir würden Gottes Gerechtigkeit in Ihm.“

Wir finden hier drei Parteien: Gott, Christus und die Sünde. Das letzte Wort – Sünde – ist der Ausdruck dessen, was wir von Natur sind. In uns ist nichts als Sünde; der ganze Mensch, vom Scheitel bis zur Fußsohle, ist Sünde. Die Sünde hat das ganze System der gefallenen Menschheit durchdrungen. Wurzel, Stamm, Zweige, Blätter, Blüten und Früchte – alles ist Sünde. Es ist nicht nur wahr, dass wir gesündigt haben, nein, wir sink tatsächlich nichts anders als Sünde. Allerdings hat ein jeder von uns seine besonderen, ihn kennzeichnenden Sünden. Wir irrten von Natur nicht nur alle wie Schafe, sondern ein jeder von uns hatte sich auch auf seinen eignen Weg gewandt (Jes 53,6). Ein jeder Mensch verfolgt seinen eignen Weg der Sünde und Torheit; und alles das ist die Frucht jener schrecklichen Sache, „Sünde“ genannt. Das äußere Leben eines jeden Einzelnen ist nichts anders, als ein Ausfluss derselben bösen Quelle, ein Zweig desselben faulen Baumes.

Doch was ist Sünde? Es ist die Tätigkeit deseignen Willens in Auflehnung gegen Gott, das Tun der eignen Lüste und Begierden, des „Willens des Fleisches und der Gedanken.“ Mag die Sünde eine Gestalt annehmen, welche sie will, mag sie sich in ein Gewand einhüllen, wie sie will; mag sie sich in der gröbsten oder in der feinsten Form offenbaren – die Wurzel und die Quelle derselben bleibt immer der eigene Wille. Es ist nicht notwendig, hier in Einzelheiten einzugehen; was wir allein wünschen, ist, in dem Leser ein tiefes und klares Bewusstsein von dem Wesen der Sünde zu erwecken, und nicht nur das, sondern ihn auch zu überzeugen, dass er von Natur sündig, durch und durch verdorben ist. Wo diese ernste Tatsache durch die Kraft des Heiligen Geistes einer Seele zur vollen Gewissheit geworden ist, gleichsam Besitz von ihr genommen hat, da kann nicht eher wahre, göttliche Ruhe vorhanden sein, bis sie die in dem oben angeführten Vers enthaltene Wahrheit erfasst und verstanden hat (2. Kor 5,21). Die Frage der Sünde musste entschieden werden, ehe ein Gedanke an Versöhnung sein konnte. Gott kann nicht mit der Sünde ausgesöhnt werden. Er hasst sie mit vollkommenem Hass. Aber der gefallene Mensch war ein Sünder in all seinem Tun und Lassen, und sündig seiner Natur nach. Die Quellen seines seins waren verdorben und verunreinigt, und Gott war heilig, gerecht und wahrhaftig. Er ist zu rein von Augen, um Böses zu sehen, und die Mühsal vermag Er nicht anzuschauen (Hab 1,13). Nimmermehr konnte daher zwischen Gott und einer sündigen Menschheit von einer Versöhnung die Rede sein. Wohl ist es eine kostbare, gesegnete Wahrheit, dass Gott gütig, barmherzig und gnädig ist. Ja, Er ist sehr langmütig, langsam zum Zorn und von großer Güte; aber Er ist auch heilig, und Heiligkeit und Sünde können sich nie miteinander verbinden.

Was war nun zu tun? Auf welchem Weg konnte der heilige Gott mit dem unreinen, unheiligen Sünder in Verbindung gebracht werden? Hier ist die Antwort: Gott hat Christus zur Sünde gemacht. Doch wann und wo ist dies geschehen? Das ist eine Frage von unermesslicher Wichtigkeit. Ward Er zur Sünde gemacht in dem Leib der Jungfrau? Nein. Oder in der Krippe zu Bethlehem? Nein. Oder als Er sich von Johannes taufen ließ und sich so in seiner Gnade mit dem gläubigen Überrest Israels auf einen Boden stellte? Nein. Oder endlich als Er in dem Garten Gethsemane in ringendem Kampf war? Auch nicht, obwohl dort die Stunde, in welcher es geschehen sollte, mit allen ihren Schrecken vor seine Seele trat. Wo und wann wurde denn das reine, fleckenlose Lamm Gottes zur Sünde gemacht? Auf dem Kreuz, und auf dem Kreuz allein. Das ist eine Wahrheit von unendlichem Wert, welche der Feind Gottes und seines Wortes auf alle mögliche Weise zu verdunkeln und beiseite zu setzen sucht; eine Wahrheit, die gleichsam den Mittelpunkt alles wahren Christentums, ja den Ausgangspunkt und die Grundlage aller Gnadenwege Gottes einer sündigen, feindseligen Welt gegenüber bildet. Kein Wunder daher, dass Satan so eifrig bemüht ist, die Seelen gerade in Betreff dieser Fundamentalwahrheit in Unkenntnis zu erhalten oder in Verwirrung zu bringen.

Christus wurde am Kreuz für uns zur Sünde gemacht. Er starb und ward begraben. Die Sünde wurde gerichtet. Sie begegnete dem gerechten Urteil eines heiligen Gottes, der nicht den geringsten Flecken von Sünde ungeahndet lassen könnte. Ja, Gott schüttete in der Person seines Sohnes seinen unvermischten Zorn über die Sünde aus, als dieser Sohn „zur Sünde gemacht“ war. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, wenn jemand glaubt, Christus habe während seines Lebens hienieden das Gericht und den Zorn Gottes wider die Sünde getragen, oder irgendetwas außer dem Tod Christi habe die Frage der Sünde in Ordnung bringen können. Der Sohn Gottes konnte Mensch werden, Er konnte leben und arbeiten auf dieser Erde, Er konnte seine zahllosen Wundertaten verrichten, Er konnte heilen, reinigen und Tote lebendig machen, Er konnte beten, seufzen und weinen – aber alles das hätte nicht einen einzigen Flecken von Sünde auszutilgen vermocht. Der Heilige Geist erklärt einfach und bestimmt, dass „ohne Blutvergießen keine Vergebung“ ist (Heb 9,22).

Wenn aber das Leben und Wirken des Sohnes Gottes, wenn seine Gebete, seine Tränen und Seufzer nicht eine Sünde hinwegnehmen konnten, wie groß ist dann die Torheit eines Menschen, der da glaubt, durch sein Leben und Wirken, durch seine Gebete und Tränen, durch seine guten Werke und durch die Beobachtung religiöser Satzungen und Zeremonien seine unzähligen Sünden abwaschen zu können! Tatsächlich stellte das Leben unseres gepriesenen Herrn und Heilands die Schuld und das hoffnungslose Verderben des Menschen nur umso deutlicher ans Licht. Außerdem erklärt Er selbst zu wiederholten Malen die unbedingte und unumgängliche Notwendigkeit seines Todes. „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, so bleibt es allein; wenn es aber stirbt, so bringt es viele Frucht“ (Joh 12,24). „Da öffnete Er ihnen das Verständnis, dass sie die Schriften verstanden, und sprach: Also ist es geschrieben, und also musste der Christus leiden und am dritten Tage aus den Toten auferstehen“ (Lk 24,45–46). „Wie sollten denn die Schriften erfüllt werden, dass es also geschehen muss?“ (Mt 26,54) Mit einem Wort, der Tod war der einzige Weg zum Leben, die einzige Grundlage der Versöhnung, die einzige Möglichkeit, um zwischen Christus und den Verlorenen eine Verbindung herzustellen. Wir können im Blick auf diese Wahrheit nicht zu entschieden und zu fest sein. Satan hat im Widerspruch mit derselben ein gewaltiges Gebäude des Irrtums errichtet. Er hat in Millionen von bekennenden Christen den Glauben erweckt, dass nicht der Tod, sondern die Fleischwerdung Christi die Grundlage des Dienstes der Versöhnung bilde, dass Christus in seiner Menschwerdung die gefallene, sündige, verdorbene Menschheit mit sich in Verbindung gebracht habe, dass Er nicht das reine und kostbare „Weizenkorn“ gewesen sei, welches völlig allein stand und ohne Eintritt des Todes notwendigerweise allein bleiben mühte, weil zwischen dem, was in seinem Wesen rein, heilig und fleckenlos war, und dem, was seiner Natur nach unrein, unheilig und verdorben ist, unmöglich eine Vereinigung stattfinden konnte – dass wir endlich das ewige Leben nicht von einem gestorbenen und auferweckten, sondern von einem fleischgewordenen Christus empfingen, und dass dieses Leben genährt und erhalten würde durch die Beobachtung religiöser Satzungen und Zeremonien, sowie durch die so genannten Sakramente der Kirche. In dieser Weise untergräbt Satan die Grundlagen des Christentums, verblendet die Augen und beruhigt die Gewissen Zahlloser bekennender Christen und führt sie einem gewissen Verderben entgegen.

Doch man möchte fragen: Warum ist es nötig, mit solchem Ernst und Nachdruck von diesen Dingen zu reden? Wer leugnet denn die Folgen der Tatsache, dass Christus gestorben und auferstanden ist? Wir antworten: Alle diejenigen, welche die Fleischwerdung Christi als die eigentliche Grundlage unserer Vereinigung mit Christus hinstellen. Alle diese leugnen den ganzen Kreis von Wahrheiten, welche mit einem gestorbenen und auferstandenen Christus in Verbindung stehen; vielleicht tun viele es unbewusst und erkennen nicht die Tragweite dessen, was sie tun. Aber Satan kennt sie, und er weiß auch sehr wohl, wie verderblich jene Lehre wirken muss. Er kennt und verfolgt seine Ziele mit großer List und Klugheit, und ein jeder Diener Christi sollte wissen, was alles in der Irrlehre eingeschlossen ist, gegen welche wir unsere Leser so ernstlich warnen.

Satan sucht durch dieselbe die Seelen der Menschen vor der Erkenntnis zu verschließen, dass in dem Tod Christi das Urteil Gottes über die gefallene menschliche Natur und über die ganze Welt ergangen ist. Dies war bei der Fleischwerdung durchaus nicht der Fall. Ein Mensch gewordener Christus stellte den Menschen auf die Probe, ein gestorbener Christus beweist, dass der Mensch unter dem Tod ist, und ein auferstandener Christus bringt den Gläubigen in die innigste Verbindung mit Christus selbst. Als Christus im Fleisch erschien, befand sich der Mensch noch in einem Zustand der Prüfung. Es war die letzte Probe, auf welche Gott ihn stellte. Als Christus auf dem Kreuz starb, wurde das endgültige Urteil über den gefallenen Menschen ausgesprochen, und als Er aus den Toten auferstand, wurde Er das Haupt eines neuen Geschlechts, dessen Glieder, lebendig gemacht durch den Heiligen Geist, von Gott betrachtet werden als mit Christus vereinigt in Leben, Gerechtigkeit und göttlicher Gunst, als gestorben, gerichtet und jetzt so völlig von aller Verdammnis befreit, wie Christus selbst es ist. „Er hat Ihn, der Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden Gottes Gerechtigkeit in Ihm.“

Einem jeden Leser, der sich der Autorität der Schriften unterwirft, wird es klar sein, dass die Fleischwerdung Christi dies nicht zuwege bringen konnte. Sie war nicht imstande, die Sünde hinwegzunehmen. Dass sie für die Erfüllung des Versöhnungswerkes unumgänglich nötig war, ist offenbar. Um sterben zu können, musste Christus Mensch werden. Ohne Blutvergießen ist keine Vergebung. Er musste sein Fleisch geben für das Leben der Welt (Joh 6,51). Aber gerade diese Worte beweisen die unbedingte Notwendigkeit seines Todes. Nicht, dass Er Fleisch und Blut annahm, sondern, dass Er sein Fleisch hingab, das war es, was dem Menschen Leben, Vergebung, Frieden, Gerechtigkeit, kurz alle die Segnungen, die in Christus sind, brachte. Alles, was wir besitzen, haben wir durch den Tod. Wir wiederholen noch einmal: Nicht ein fleischgewordener Christus gibt ein Leben, das durch die Sakramente der Kirche erhalten wird, sondern ein gekreuzigter und auferstandener Christus ist die Quelle und die Grundlage von allem. Das erstere ist die verführerische Lüge Satans, das letztere die kostbare Wahrheit Gottes. Jenes liegt dem ganzen System des falschen Christentums unter mancherlei Namen zu Grund, dieses ist das Fundament des wahren Christentums, die Grundlage aller Ratschlüsse und Vorsätze des ewigen Gottes.

Doch wir dürfen hierbei nicht länger verweilen. Wir haben zur Genüge gesehen, dass die Worte des Apostels: „Er hat Ihn für uns zur Sünde gemacht“, nur auf den Tod des Herrn am Kreuz Bezug haben können, wie der Herr selbst sagt: „In den Staub des Todes legst du mich“ (Ps 22). Welche Worte! Wer könnte ihre Tiefen ergründen! Wer könnte die volle Tragweite der Frage des Herrn verstehen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassend“ Warum verlieh der heilige, gerechte Gott den, in dessen Mund kein Betrug erfunden ward, Ihn, seinen eingeborenen, viel geliebten Sohn? Die Antwort enthält die unerschütterliche Grundlage jenes herrlichen Dienstes der Versöhnung, von welchem wir reden. Christus wurde zur Sünde gemacht. Er trug nicht nur unsere Sünden an seinem eigenen Leib auf das Holz, sondern Er wurde zur Sünde gemacht. Er stand da vor Gott, um die ganze Frage der Sünde in Ordnung zu bringen. Er war „das Lamm Gottes, welches die Sünde der Welt wegnimmt.“ Als solches verherrlichte Er Gott da, wo Er auf die schrecklichste Weise verunehrt worden war. Er verherrlichte Ihn gerade im Blick auf die Sache, durch welche seine Majestät beleidigt worden war. Er nahm die ganze Sache auf sich, stellte sich freiwillig unter das Gewicht der ganzen Last und schuf so den Boden, auf welchem Gott die Grundlagen der neuen Schöpfung errichten konnte. Er öffnete jene ewigen Schleusen, welche die Sünde verschlossen hatte, so dass der volle Strom der göttlichen Liebe durch den Kanal ausströmen konnte, welchen sein Versöhnungstod allein herzustellen vermochte. Solange die Frage der Sünde nicht geordnet war, konnte von einer Versöhnung keine Rede sein. Aber Christus wurde zur Sünde gemacht, Er starb als das vollkommene Sündopfer Gottes und setzte auf diese Weise Gott in den Stand, in ganz anderer Weise, wie bisher, mit dem Menschen und der Welt zu handeln.

Der Tod Christi hat es möglich gemacht, den Menschen und die ganze Schöpfung in ihr richtiges Verhältnis zu Gott und ans den ihr zugehörenden Standpunkt vor Ihn zu bringen. Und beachten wir, dass dies die wahre Bedeutung des Wortes „Versöhnung“ ist. Die Sünde hatte den Menschen von Gott entfremdet und die ganze Schöpfung, alle Dinge, ganz und gar in Unordnung gebracht, und daher bedurften beide, Mensch und Schöpfung, der Versöhnung oder der Wiederherstellung, hierzu hat der Tod Christi den Weg gebahnt.

Wir tun wohl, den Unterschied zwischen „Sühnung“ und „Versöhnung“ Zu beachten. Diese beiden Begriffe werden aus Unachtsamkeit gegenüber der Belehrung des Wortes Gottes oft mit einander verwechselt; und doch ist der Unterschied keineswegs unwichtig. Wir führen hier einige Stellen an, wo die beiden Worte im Neuen Testament vorkommen. Das Erstere findet sich z. B. in Hebräer 2,17; 9,5; 1. Johannes 2,2; 4,10. Das Letztere, in der einen oder anderen Form, in Römer 5,10–11; 11,15; 1. Korinther 7,11; 2. Korinther 5,18-19-20; Epheser 2,165 Kolosser 1,20–21. Wenn der Leser sich die Mühe nehmen will, diese Stellen miteinander zu vergleichen, so wird er finden, dass Sühnung und Versöhnung nicht ein und dieselbe Sache sind, dass vielmehr die erstere die Grundlage der letzteren bildet. Die Sünde hatte den Menschen zu einem Feind Gottes gemacht und alle Dinge in Verwirrung gebracht. Daher lesen wir in Kolosser 1,19–22: „Es war das Wohlgefallen der ganzen Fülle, in Ihm zu wohnen und durch Ihn alle Dinge mit sich zu versöhnen – indem Er Frieden gemacht durch das Blut seines Kreuzes (das ist die Grundlage von allem) – durch Ihn, es seien die Dinge auf der Erde, oder die Dinge in den Himmeln. Und euch, die ihr einst entfremdet und Feinde wärt nach der Gesinnung durch die bösen Werke, hat Er aber nun versöhnt in dem Leib seines Fleisches durch den Tod, um euch heilig und untadelig und unsträflich vor sich hinzustellen.“ In diesen Worten wird uns also der Tod Christi als die Grundlage der Versöhnung, sowohl des Menschen als der Schöpfung, vor Augen gestellt.

Dies führt uns zu einem anderen Punkte von nicht unerheblicher Bedeutung. Man hört oft sagen, selbst von wahren Christen: „Der Tod Christi war notwendig, um Gott mit dem Menschen zu versöhnen.“ Wie völlig verkehrt dies ist, braucht kaum gesagt zu werden. Gott hat sich nie verändert; Er hat nie seine wahre, Ihm eigentümliche Stellung verlassen. Er bleibt stets treu. Soweit es Ihn betraf, hat es nie eine Verwirrung oder Entfremdung gegeben, und konnte es nicht geben; deshalb konnte auch nie die Notwendigkeit eintreten, Gott mit uns zu versöhnen. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Der Mensch war in die Irre gegangen; er war zu einem Feind geworden und bedurfte der Versöhnung. Aber eine solche Versöhnung war völlig unmöglich, wenn nicht die Frage der Sünde in gerechter Weise gelöst und entschieden wurde, und dies konnte wiederum nur geschehen durch den Tod, und zwar durch den Tod dessen, der, weil Er Mensch war, sterben konnte und, weil Er Gott war, den ganzen Wert, die Würde und die Herrlichkeit seiner göttlichen Person dem von Ihm vollbrachten Versöhnungswerk mitzuteilen vermochte.

Die Schrift spricht daher nie von einer Versöhnung Gottes mit dem Menschen. Vielmehr lesen wir in unserem Kapitel: „Gott war in Christus, die Welt – d. h. Menschen und Dinge – mit sich selbst versöhnend, ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnend.“ Und in dem vorhergehenden Vers: „Alles aber von dem Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Jesus Christus.“ Mit einem Wort, es ist Gott, der uns in seinem unendlichen Erbarmen, in seiner Gnade und Liebe, durch den Versöhnungstod Christi zu sich selbst zurückführt und uns nicht nur auf den Platz und Boden stellt, auf welchem Adam einst in seiner Unschuld stand, sondern uns, entsprechend dem Wert des Werkes Christi, weit mehr gibt, als wir verloren hatten, indem Er uns in das wunderbare Verhältnis von Söhnen, von Kindern Gottes einführt und uns einen Platz gibt in seiner Gegenwart, in göttlicher und ewiger Gerechtigkeit und in dem Wert und der Annehmlichkeit seines Sohnes Jesu Christi, unseres Herrn.

Welch eine staunenswerte Gnade! Welch herrliche Ratschlüsse! Welch ein Dienst! Und doch, dürfen wir uns darüber wundern, wenn wir daran denken, dass der Tod Christi die Grundlage von diesem allen bildet? Wenn wir uns daran erinnern, dass Christus für uns zur Sünde gemacht wurde, so scheint es nur eine notwendige Folge zu sein, dass wir jetzt Gottes Gerechtigkeit sind in Ihm. Es wäre kein angemessenes Resultat eines solchen Werkes gewesen, wenn Menschen und Dinge in den ursprünglichen Zustand des ersten Adam oder der alten Schöpfung zurückgeführt worden waren. Dies würde auch in keiner Weise das Herz Gottes befriedigt haben, weder im Blick auf die Verherrlichung Christi, noch im Blick auf unsere Segnung. Es würde keine befriedigende Antwort auf jene Forderung des Herrn gewesen sein: „Ich habe dich verherrlicht auf der Erde; das Werk habe ich vollbracht, welches du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte. Und nun verherrliche du mich, Vater, bei dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war“ (Joh 17,4–5). Wer könnte die Tiefe und Kraft dieser Worte ergründen?

2. Doch wir müssen zu dem Schluss unserer Betrachtung eilen. Da wir im Vorhergehenden schon das Eine und Andere über die Gegenstände gesagt haben, gegen welche der gesegnete Dienst der Versöhnung gerichtet ist, so können wir uns hier kurzfassen. Es sind „Menschen und Dinge“, verlorene, sündige Geschöpfe und eine verunreinigte, unter der Knechtschaft des Verderbnisses liegende Schöpfung. Beide sind in das eine, umfassende Wort „Welt“ eingeschlossen. „Gott war in Christus, die Welt mit sich selbst versöhnend.“ Es ist daher unmöglich, dass irgendein Geschöpf unter dem Himmel sich von dem Bereich dieses kostbaren, gesegneten Dienstes ausschließen könnte, es müsste denn vorher beweisen, dass es nicht zu dieser Welt gehöre; und das ist unmöglich. Daher, mein lieber Leser, gehörst auch du zu denen, welche Gott einladet, ja dringend bittet, sich mit Ihm versöhnen zu lassen. Bist du noch unbekehrt, so folge seiner Einladung, mache dich ans zu Ihm, ehe die Zeit der Annahme zu Ende geht und der Tag eines erbarmungslosen Gerichts anbricht, an welchem alle diejenigen, welche dem Evangelium Gottes nicht haben gehorchen wollen, gerechte Vergeltung empfangen werden.

3. Es bleibt uns noch übrig, einen Blick auf die Charakterzüge zu werfen, welche den Dienst der Versöhnung kennzeichnen. Betrachten wir zunächst die Stellung, welche Gott in diesem Dienst einnimmt. Er ermahnt, Er bittet durch seine Boten. Und wen bittet Er? Verlorene, verdammungswürdige Sünder! Welch ein Gedanke! Der große, allmächtige Gott, der Schöpfer und Erhalter des Himmels und der Erde, Er, der Gewalt hat, Leib und Seele in der Hölle zu verderben, Er ermahnt und bittet feindselige, hassenswürdige Sünder, zu Ihm zu kommen und sich mit Ihm versöhnen zu lassen! Es ist hier nicht die Rede davon, dass der Sünder bittet, und Gott hört. Nein, wir finden gerade das Gegenteil: Gott bittet den Sünder. Und um was bittet Er? Fordert Er von dem Sünder, dass er etwas tue, oder Ihm etwas bringe? Nein, Er bittet ihn, sein Freund zu werden, auf Grund dessen, dass Er sich, auf Kosten des Lebens seines eingeborenen, geliebten Sohnes, als der Freund des Sünders bewiesen hat. Denke hierüber einen Augenblick nach, mein lieber unbekehrter Leser! Er schonte nicht seines Eingeborenen, sondern richtete Ihn an deiner statt. Er machte Ihn zur Sünde für dich. Er richtete deine Sünde in seiner Person auf dem Kreuz, damit Er imstande wäre, dich zu erretten. Und jetzt streckt Er seine Arme nach dir aus, sein Herz ist geöffnet für dich, und Er bittet dich, sein Freund zu werden, dich mit Ihm versöhnen zu lassen. Welch eine Herablassung und welch eine überwältigende Gnade! Willst du dein Herz noch länger verhärten und dein Ohr vor der einladenden Stimme Gottes verschließen? O tue es nicht, ich bitte dich. Eile zu Ihm, solange es noch „heute“ heißt.

Welch eine Ermutigung für ein armes bekümmertes Herz, das die Last seiner Sünden fühlt und unter dem unerträglichen Gewicht seiner Schuld seufzt, zu hören, dass Gott nicht eine seiner zahllosen Sünden zurechnen will! Das ist ein zweiter gesegneter Charakterzug des Dienstes der Versöhnung. „Ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnend.“ Das muss dem Herzen vollkommene Ruhe geben. Wenn Gott mir sagt, dass Er mir keine meiner Sünden anrechnen will, weil Er sie bereits dem Herrn Jesus auf dem Kreuz zugerechnet hat, so kann dies wohl meinen Geist beruhigen und mein Herz aufrichten. Wenn ich glaube, dass Gott wirklich meint, was Er sagt, so muss ein unerschütterlicher Friede mein Teil sein. Wohl ist es wahr, dass ich nur durch die Kraft des Heiligen Geistes die ganze Tragweite dieser herrlichen Wahrheit erfassen kann: aber das, was der Heilige Geist mich lehrt, ist gerade dies; mit aller Zuversicht zu glauben, dass Gott nur keine Sünde anrechnet, noch jemals anrechnen wird, weil Er sie einmal alle Christus angerechnet hat.

Doch dies leitet uns zu dem dritten Charakterzug des Dienstes der Versöhnung. Wenn Gott dem Glaubenden keine seiner Übertretungen zurechnen will, was rechnet Er ihm denn zu? – Gerechtigkeit, ja die Gerechtigkeit Gottes selbst. „Ihn, der Sünde nicht kannte, hat Er für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden Gottes Gerechtigkeit in Ihm!“ Herrliche, glorreiche Tatsache! Der Sünde ist, was den Gläubigen betrifft, ein Ende gemacht worden. Christus lebt als unsere ewige Gerechtigkeit vor Gott, und wir leben in Ihm. In dem Buch der göttlichen Gerechtigkeit gibt es keine einzige Eintragung zu unseren Lasten, wohl aber einen auferstandenen und verherrlichten Christus zu unseren Gunsten. Doch das ist noch nicht alles. Nicht nur sind unsere Sünden hinweggetan und unsere Schuld bezahlt, nicht nur sind wir zur Gerechtigkeit Gottes geworden in Christus und stehen als eine völlig neue Schöpfung vor Gott, sondern wir sind auch geliebt, wie Jesus selbst geliebt ist; wir sind annehmlich gemacht in Ihm, dem Geliebten, eins mit Ihm in allem, was Er ist und besitzt, als der auferstandene, siegreiche, verherrlichte Mensch zur Rechten der Majestät in der Höhe. Könnte es etwas Höheres geben, als das? Unmöglich!

Indem wir hiermit unsere Betrachtung schließen, möchten wir noch einmal einen ernsten Mahnruf an jeden unbekehrten und vielleicht bis heute noch gleichgültig gebliebenen Leser dieser Zeilen richten. Latz dich daran erinnern, lieber Freund, dass dieser gesegnete Dienst der Versöhnung bald zu Ende gehen wird. Das Jahr der Annahme, der Tag des Heils wird binnen kurzem abgelaufen sein. Die Boten Gottes, die Gesandten Christi werden bald alle heimgerufen werden, und ihr Dienst wird dann für immer beendigt sein. Die Tür der Gnade wird bald geschlossen werden und der Tag der Rache mit allen seinen Schrecken über eine Welt hereinbrechen, die Christus verwirft und in Gottlosigkeit und Gleichgültigkeit dahingeht. Latz dich bitten, dem kommenden Zorn zu entfliehen. Bedenke wohl, dass derselbe Herr, der dich jetzt einladet, der dich ermahnen und bitten lässt, dich mit Gott versöhnen zu lassen, einst allen denen, die seiner freundlichen Einladung nicht haben Gehör schenken wollen, die schrecklichen Worte zurufen wird: „Weicht von mir, ihr Übeltäter! Geht hin in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!“ O, möchten doch alle die Leser dieser Zeilen den unbeschreiblichen Schrecken jenes Tages des Zornes und Grimmes Gottes entfliehen! Noch ist es Zeit. Noch ist die Tür der Gnade weit geöffnet. Noch ist Gott bereit zu retten, was sich retten lässt. Aber bald wird es für ewig zu spät sein.

„So sind wir nun Gesandte für Christus, als ob Gott durch uns ermahnte. Wir bitten an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!“

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