Botschafter des Heils in Christo 1873

Gedanken über Philipper 2 und 3

Der ganze Brief an die Philipper ist höchst beachtenswert, denn er erhebt den Christen zu der höchsten Stufe gereifter Erfahrung. Indes werde ich mich nur mit den beiden genannten Kapiteln beschäftigen. In ersterem finden wir den christlichen Charakter oder – wie man zu sagen pflegt – die christliche Gnade; in letzterem die Energie, welche den Christen über die gegenwärtigen Dinge erhebt. Ersteres zeigt uns Christus, der, auf die Erde gekommen, sich selbst erniedrigt hat; letzteres zeigt uns Ihn in der Herrlichkeit, sowie den Kampfpreis unserer Berufung nach oben.

Eine in etwa sorgfältige Prüfung lässt uns sehen, wie das zweite Kapitel uns durchgängig die lieblichen Gnadenfrüchte darstellt, welche aus der ernsten Betrachtung der Niedrigkeit unseres gesegneten Herrn, indem das Herz von dieser Gesinnung erfüllt wird, unausbleiblich entspringen, während das dritte Kapitel uns ein Gemälde von jener gesegneten Energie vor Augen stellt, welche die Welt für Dreck achtet, auf dem Weg überwindet und vorwärts schaut auf jene Zeit, wo die Macht des Herrn die Macht des Todes in uns samt all ihren Folgen beseitigt und den Leib unserer Niedrigkeit in den Leib seiner Herrlichkeit umwandelt. Wir bedürfen dieser beiden Grundsätze, sowie der damit verbundenen Beweggründe.

Wir können vielleicht bei dem einen viel Energie des Christentums wahrnehmen und uns darüber freuen, während wir bei einem anderen mehr einen angenehmen Charakter finden und weniger jene die Welt überwindende Energie. Wenn aber auf unserem Pfad das Fleisch, oder die natürliche Willenskraft sich mit der göttlichen Kraft vermischt, so ist es nötig, dass unser Wandel durch das, was wir im zweiten Kapitel finden, geregelt wird. Wir bedürfen mehr einer innerlichen Gemeinschaft mit Christus, mehr der Ähnlichkeit seiner Gesinnung, mit einem Wort, mehr der Ernährung von dem Brot, das aus dem Himmel herniedergekommen ist. Nur dann offenbaren wir Christus in unserem Wandel; unsere Tätigkeit wird mit mehr Ernst begleitet sein und mehr Wert haben, unser Wandel wird mehr wahr und göttlich sein. Dagegen kann jemand von ruhigem Charakter, indem er die Energie, die ihm selbst mangelt, in einem anderen für Fleisch hält, sehr leicht den Stab über etwas brechen, das in der Tat durch Gott in seinem Bruder gewirkt ist.

O möchten wir uns doch nahe genug bei Christus halten und von Ihm alle Gnade und Hingebung nehmen, möchten wir in uns alles verurteilen, was uns auf unserem christlichen Pfad zum Anstoß dienen könnte! Es ist nicht zu erwarten, dass ein Christ zugleich im Besitz aller Eigenschaften sei. Ich denke nicht, dass dieses in der Absicht Gottes liegt. Ein jeder hat in Demut seinen Platz zu bewahren. Das Auge kann nicht zur Hand, die Hand nicht zum Fuß sagen: „Ich bedarf deiner nicht.“ Nur in Christus allein ist Vollkommenheit. Gegenseitige Abhängigkeit und eine Ergänzung des einen durch den anderen – das ist die göttliche Ordnung seines Leibes. Für einen tätigen Geist scheint dieser Gedanke hart zu sein; allein es ist wahre Demut nichts zu sein und zu dienen; und der praktische Weg, um mit Leichtigkeit dahin zu gelangen, ist – einer den anderen höher zu achten, als sich selbst. Andere besitzen das, dessen wir ermangeln. Unser Teil ist zu tun, was der Herr uns zu tun gegeben hat, zu dienen und alles Ihm zuzuschreiben, der in Wirklichkeit es tut, und uns, wenn wir seinen Willen getan haben, zu freuen, dass wir nichts sind, damit Er alles sei.

Doch beleuchten wir das zweite Kapitel unseres Briefes etwas näher. Es ist augenscheinlich, dass wir in demselben die Erniedrigung Christi haben. Die Anwendung ist uns in einer sehr schönen Weise vor Augen gestellt. Die Philipper, die schon früher Beweise ihrer Teilnahme am Evangelium geliefert, hatten des Apostels in fernem Kerker gedacht; und Epaphroditus hatte, ihrer Liebe Ausdruck gebend, der Notdurft des Apostels gedient und voll lieblichen Eifers zur Erfüllung dieses Dienstes sein Leben gewagt (V 25–30). Der Apostel macht von der Liebe der Philipper, indem er dieselbe als eine Erquickung von Christus anerkennt, einen rührenden Gebrauch. Er erblickt in diesem erneuerten Zeugnis ihrer Zuneigung eine „Ermunterung in Christus, Trost der Liebe, Gemeinschaft des Geistes, innerliche Gefühle und Erbarmung“ (V 1). Sein Herz fühlt sich zu ihnen hingezogen. Wenn sie ihn nun völlig glücklich machen wollten, so konnte dieses nur dadurch geschehen, dass sie gänzlich eins und glücklich unter einander waren. Mit welcher Liebe und Zärtlichkeit suchte er sie auf ihre Mangel und Gefahren aufmerksam zu machen! Wie sehr war dieses berechnet, die „Evodia“ und die „Syntyche“ (Kap 4,2) zu gewinnen und sie, da die Gnade so wirksam war, wegen ihrer nicht gleichen Gesinnung zu beschämen! Dann spricht er von den Mitteln, um in dieser Gesinnung wandeln zu können. Ein jeglicher sollte nicht auf seine eigenen geistlichen Gaben und Vorrechte sehen, sondern auch auf die seines Bruders; und solches war nur möglich im Blick auf die „Gesinnung, die in Christus Jesus war“ (V 4–5). Dieses führt uns nun zu dem erhabenen Grundsatz des Kapitels.

Christus ist uns hier als in völligem Gegensatz zu dem ersten Adam vor Augen gestellt. Dieser erhob sich, um durch einen Raub Gott gleich zu sein. „Ihr werdet sein wie Gott, erkennend Gutes und Böses“ (1. Mo 3,5), hatte die Schlange gesagt. Und er wurde ungehorsam bis zum Tod. Aber Er – gepriesen sei sein Name! – der in Gestalt Gottes war, machte sich selbst zu nichts und war in Knechtsgestalt gehorsam bis zum Tod. Christus war wahrhaftiger Gott, wie Adam wahrhaftiger Mensch war; ja Er war selbst dann noch wahrhaftiger Gott, nachdem Er die Gestalt eines Menschen angenommen hatte, und war Zugleich wahrhaftiger Mensch und Diener in Gnade. Er erniedrigte sich selbst aus Liebe und wurde als Mensch erhöht, während Adam sich aus Selbstsucht und Hochmut erhob und erniedrigt wurde. Nicht nur ertrug Christus die Schmach von Seiten der Menschen mit Geduld, sondern Er erniedrigte sich selbst. Das war Liebe. Wir entdecken hier zwei große Stufen. Er war in Gestalt Gottes und nahm Knechtsgestalt an; und als Mensch erniedrigte Er sich selbst und „ward gehorsam bis zum Tod, ja zum Tod des Kreuzes“ (V 6–8). Das ist die Gesinnung, die uns erfüllen muss – die Liebe macht sich selbst zu nichts, um anderen zu dienen. Die Liebe findet ihre Freude im Dienst anderer; die Selbstsucht liebt bedient zu werden. Der wahre Ruhm eines göttlichen Charakters ist, demütig zu sein; menschlicher Stolz ist nichts als Selbstsucht. Wo ersteres ist, erzeugt es in dem Herzen nicht nur Zuneigung und Hingabe, sondern setzt auch bei anderen diese Zuneigung voraus und ist auf diese Weise eine Quelle wahrer Freude und Segnung für die Versammlung.

Nachdem im weiteren Verlauf unseres Kapitels der Apostel an die Erhöhung und Verherrlichung Christi als Herrn erinnert hat, ermahnt er die gläubigen Philipper, deren Gehorsam vollkommen (in Christus offenbart) er rühmt, ihre „eigene Seligkeit mit Furcht und Zittern zu bewirken“ (V 12), und dieses umso mehr, da sie jetzt direkt, ohne sich auf die Energie des Apostels stützen zu können, den Angriffen des Feindes ausgesetzt waren. Denn Paulus, der einst unter ihnen gewirkt hatte, befand sich jetzt fern von ihnen im Gefängnis und konnte nicht mehr für sie tätig sein. Doch nach allem war es auch Gott – und nicht Paulus – „der in ihnen wirkte beides das Wollen und das Wirken nach seinem Wohlgefallen“ (V 13).

Die Seligkeit oder die Errettung ist in diesem Brief stets als das große Resultat der endlichen Befreiung vom Bösen und des Eintritts in die Herrlichkeit betrachtet. Alles wird am Ende erwartet, obgleich die Segnungen auf unseren Pfad herabstrahlen und die Wirkung davon in den Worten enthalten ist: „Auf dass ihr tadellos und lauter seid, unbescholtene Kinder Gottes, inmitten eines verdrehten und verkehrten Geschlechts, unter welchem ihr scheint wie Lichter in der Welt, darstellend das Wort des Lebens ..“ (V 15–16). Gibt es hier ein Wort, welches nicht auf Christus angewandt werden könnte? Er allein war das wahre Muster; und wir haben seinen Fußstapfen als solche zu folgen, die das Leben in Ihm haben. Es ist das, was gerade Christus war; und darum haben wir hier den christlichen Charakter, den wir mit Wonne und Anbetung in Ihm erforschen, und der in uns verwirklicht wird.

Betrachten wir jetzt die Zuneigungen, welche aus dem Niedriggesinntsein entspringen, wo die Selbstsucht in der Liebe verschwindet. „Wenn ich aber auch wie ein Trankopfer gesprengt werde über das Schlachtopfer und den Dienst eures Glaubens, so freue ich mich und freue mich mit euch allen“ (V 17). Paulus macht den Glauben der Philipper zur Hauptsache; denn derselbe war das Schlachtopfer für Gott. Sein Anteil daran war, wiewohl er in den Tod ging, nur eine Zugabe. Er betrachtete die Philipper als das Eigentum Christi, die Frucht der Arbeit seiner Seele, die Krone und Freude Christi, als des Erlösers. Deshalb waren sie auch für den Apostel eine Freude; und aus demselben Grund will er, dass auch sie sich mit ihm freuen; denn für ihn war es in der Tat ein Ruhm, sich selbst für Christus aufzugeben.

Aber noch mehr. Er dachte an ihre Glückseligkeit und war im Begriff seinen geliebten Timotheus zu ihnen zu senden, um auf diesem Weg ihre Umstände zu erfahren. Jedoch hatte er mit dieser Sendung gezögert, bis er ihnen über den Stand der Dinge in Betreff seiner selbst Mitteilungen machen konnte, da er vor dem Kaiser erscheinen und vielleicht dem Tod entgegengehen musste. Wie schön und herrlich ist dieses alles! Hier ist das Vertrauen der Liebe; man setzt dieselbe bei anderen voraus; und eben dieses Vertrauen erzeugt einen freien Ausfluss der Liebe. Sie wird gegenseitig gefühlt und erkannt, und sie war, wie wir sehen, nicht nur in dem Apostel wirksam. Außerdem trug auch noch die um sich greifende allgemeine Erkaltung der Heiligen, sowie der für das Fleisch so schmachvolle Widerstand der Welt dazu bei, dass, wie der Apostel in diesem Brief andeutet, die Liebe bei den Philippern umso kräftiger erzeugt wurde. Doch wenn auch die Liebe der Heiligen im Allgemeinen abgenommen und der Widerstand der Welt sich gesteigert hatte, so erkaltete doch die Liebe des Apostels nicht und ließ sich durch dieses alles nicht zurückschrecken. Allein nichtsdestoweniger musste ihm das Zeugnis der Liebe tröstlich sein, welches ihm Gott durch die entfernten Brüder in Philippi zusandte; und dieses zeigt uns der Anfang unseres Kapitels. Ebenso finden wir auch in Epaphoditus und seinen Beziehungen zu den Philippern dieselben Früchte der Liebe. Paulus sendet ihn zurück mit dem Zeugnis seiner innigsten Zuneigung und Anerkennung; denn Epaphroditus sehnte sich nach ihnen allen. Er hatte seinen Auftrag mit Freuden übernommen, hatte einen Weg von beinahe zweihundert Meilen zurückgelegt und war in Folge seiner Entbehrungen und Anstrengungen krank geworden und dem Tod nahe gewesen. Um des Werkes Christi willen war er bis nahe zum Tod gekommen. Hatte nun das, was Epaphroditus getan, für den Apostel weniger Wert, weil es um des Werkes Christi willen geschehen war? Keineswegs. Wenn der Gesandte der Philipper als ein Opfer seines, dem Apostel gewidmeten Dienstes gefallen wäre, so würde dieses für Paulus ein harter Schlag und tiefer Kummer gewesen sein, zumal da ohnehin sein Leidenskelch schon so voll war. Doch Gott hatte sich über Epaphroditus erbarmt; und der Apostel betrachtete dieses als eine ihm widerfahrene Barmherzigkeit. Hier sehen wir also, wie das Herz, welches sich frei in der Gnade bewegt, empfangene Barmherzigkeit zu schätzen weiß. Es waren nicht natürliche Gefühle der Verwandtschaft, wie richtig und passend diese auch an ihrem Platz sein mögen, sondern es waren göttliche Gefühle. Epaphroditus würde sicher in den Himmel gegangen sein; aber in diesem Augenblick sehnte sich das Herz des Apostels nach Güte – nach der Güte Gottes in den Umständen; er sehnte sich nach der erbarmenden Liebe des Gottes, der „die Niedrigen tröstet;“ und er dankt Gott, dass der geliebte Epaphroditus nicht als das Opfer seines Eifers in der Erfüllung seines Dienstes gefallen ist.

Doch dieses ist noch nicht alles. Epaphroditus war in großer Besorgnis darüber, dass die Philipper seine Krankheit erfahren hatten. Er setzte ihre Liebe voraus. Er dachte: „Sie werden bekümmert sein und keine Ruhe haben, bis sie von meiner Genesung überzeugt sind; darum will ich mich aufmachen, umso schnell als möglich zu ihnen zu kommen.“ – Wie ein Sohn um seine Mutter, deren Liebe er kennt, besorgt ist, indem er an ihre Unruhe wegen seiner Krankheit und an ihre Sehnsucht nach einer Nachricht über seine Umstände denkt, ebenso war Epaphroditus um die Philipper bekümmert; und das waren die Gefühle der Christen jener Zeit, wo die Hingabe und die Liebe im Allgemeinen unter ihnen ach! auf eine so traurige Weise bereits abgenommen hatten – wo alle „das Ihrige suchten.“ Das war in der Tat „Ermunterung in Christus, Trost der Liebe, Gemeinschaft des Geistes, innerliche Gefühle und Erbarmung.“ Wie erquickend ist dieses! Noch besitzen wir die gesegnete Quelle von allem in Christus, welche, wie traurig auch sonst alles sein mag, stets für uns sprudelt; und der Glaube kennt keine Schwierigkeiten und erblickt nichts zwischen uns und Christus. In Ihm gibt es keinen Mangel, wodurch die Erzeugung der Früchte der Gnade verhindert wird.

Wenn wir auf uns selbst sehen, so können wir nie davon sprechen, uns selbst zu erniedrigen; denn wir sind an und für sich nichts. Wir müssen praktisch in Christus, und seine Gesinnung muss in uns sein; und indem wir auf diesem Weg mit uns selbst ein Ende gemacht haben, demütigen wir uns in Gnade, offenbaren die Gesinnung, die in Christus Jesus war und üben unseren Dienst. Nur dann werden diese lieblichen Früchte der Gnade ausströmen, wie auch immerhin der Zustand der Christenheit um uns her sein mag. Wir werden in Demut unsere Seligkeit bewirken mit Furcht und Zittern, und zwar inmitten der geistlichen Gefahren des christlichen Lebens und inmitten der Ansprüche auf Größe und geistliche Auszeichnung, weil wahre Große – wie diejenige zurzeit der Gefängnishaft des Apostels – verschwunden ist. Hier ist von keiner Furcht, hervorgerufen durch die Ungewissheit unserer Seligkeit, die Rede; aber die Tatsache, dass Gott in uns wirkt, lässt uns den Ernst und die Wirklichkeit des Kampfes verstehen, wozu wir berufen sind.

Wenn der Gehorsam – in der Tat, da der eigene Wille aufgehört hat, die niedrigste Stellung – unseren Pfad charakterisiert, so werden wir die Gesinnung Christi suchen, um mit seinem Charakter bekleidet zu sein. Gesegnetes Vorrecht! Würden wir diese Gesinnung, absehend von dem, was wir in uns selbst sind und besitzen, mit Eifersucht bewahren, dann würde die köstliche Gnade himmlischer Liebe mehr von uns ausströmen und uns zu einer Liebestätigkeit vereinigen, die vor allem Christus und die Herzen der Heiligen zum Gegenstand hat. In einem solchen Zustand ist es leicht, andere hoher zu halten, denn sich selbst. Paulus betrachtete die Philipper nach dem Wert, den sie für Christus hatten, und darum war er bereit, über ihren Glauben als Opfer gesprengt zu werden; und wenn auch wir nahe bei Christus sind, dann erkennen wir den Wert, den andere für Christus und in Christus haben und Zugleich auch unser eigenes Nichts und vielleicht auch unseren Mangel an Liebe.

Nach diesen Andeutungen über den gesegneten Inhalt des vor uns liegenden Abschnitts lenken wir jetzt die Aufmerksamkeit des Lesers aus das dritte Kapitel des Philipperbriefes. Wir dürfen es nicht aus dem Auge verlieren, dass in dem ganzen Briefe die Seligkeit oder die Errettung des Gläubigen als noch vor ihm liegend betrachtet wird, und zwar als eine noch zu erreichende, jedoch keineswegs als eine Ungewisse Angelegenheit. Der tatsächliche Besitz der Herrlichkeit, der neue Zustand des Menschen in dem auferstandenen und verherrlichten Christus, das ist es, worauf allein und ausschließlich das Auge ruht. Zu diesem Zweck hat Christus den Gläubigen ergriffen, während letzterer beschäftigt ist, um das zu ergreifen, wozu er ergriffen ist. Christus in der Herrlichkeit zu sehen – und der Apostel hatte Ihn in der Tat also schon gesehen – ist der Punkt, um den sich alles dreht. Paulus erwartet, an jenem Tag, im Besitz der „Gerechtigkeit aus Gott durch den Glauben“, in Ihm erfunden zu werden. Er ist, indem er alle jüdischen und menschlichen Vorrechte, ja alles, was ihn erheben könnte, bei Seite legt, in der Gegenwart Gottes nur von einem Gedanken erfüllt, nämlich – in Christus erfunden zu werden. Der ganze christliche Zustand ist, und zwar in Verbindung mit der Auferstehung, als zukünftig betrachtet; ist man „hingelangt zur Auferstehung aus den Toten“, so befindet man sich im Besitz der ganzen Sache. Deshalb besitzen wir, indem wir zu Gott kommen, die Rechtfertigung, die Gerechtigkeit als die Folge unserer Annahme in Christus. Wir kommen in Christus zu Gott. In der Tat wartete der Apostel auf einen Zustand der Auferstehung und der Herrlichkeit. Dieses hatte er noch nicht ergriffen oder erreicht und war darum auch noch nicht vollendet. Der Zustand des Menschen, insofern er von Gott nicht lebendig gemacht ist, ist der Zustand des ersten Adams. Was der Apostel hier von dem Gläubigen erwartet, ist nicht allem, dass er sich einfach vom Bösen, sondern dass er sich von diesem Zustand fernhalte, und dass er, stets im Geist wandelnd, zur Herrlichkeit fortschreite und in keinerlei Weise mit der Sünde beschäftigt sei. Er sieht ihn ohne Rückhalt in den neuen Zustand gebracht, als eins mit Christus in der Herrlichkeit.

Hätte sich der Apostel im Besitz aller Gerechtigkeit befunden, die, vorgeschrieben vom Gesetz, zu erlangen das Fleisch oder der erste Adam fähig sein möchte, so wäre es doch nur eine Gerechtigkeit des ersten Adam, und nicht Christus, nicht die Gerechtigkeit Gottes aus Glauben gewesen; und das wollte er nicht. Er hatte Christus – den zweiten Adam – aufgenommen in Herrlichkeit, gesehen. Er war ergriffen worden, um Ihm gleichförmig zu sein, gleichförmig diesem ganz neuen Zustand und der Stellung eines Menschen, der sich in Übereinstimmung mit der Gerechtigkeit Gottes befand. Was er in Christus erblickte, das hatte in seinem Herzen alles andere ersetzt. Er konnte mit nichts Geringerem zufrieden sein. Er konnte nicht die Stellung des alten Menschen, selbst wenn derselbe Gerechtigkeit besaß, und Zugleich die des neuen Menschen einnehmen; beide waren unvereinbar. Er achtete alles das, was dem ersten Menschen, dem Paulus, dem Ich, Ehre und Ansehen gab, für Verlust und Dreck. Der auferstandene, verherrlichte Mensch stand vor seinem Auge. Christus ist hier nicht als der, welcher uns gerechtfertigt hat, dargestellt, weil wir mit Ihm, der unsere Versöhnung vollbracht hat, gestorben und mit Ihm nach dem Wert jenes Werkes auferstanden sind, kraft dessen Er in seiner Person auferweckt worden, und unsere Annahme vor Gott, als Gerechtfertigte, bezeugt ist. Auch wird die Auferstehung hier nicht, als die Ursache unserer Rechtfertigung, sondern als ein neuer Zustand betrachtet, in dessen Resultat – welches auch die Gerechtigkeit Gottes in sich fasst – wir völlig eintreten. Es ist der ganz neue Zustand der Herrlichkeit – ein Zustand, in welchen das Christentum uns einführt.

Für den Glauben des Apostels existierte der alte Mensch mit seiner Gerechtigkeit und mit allem, was er je besaß, nicht mehr; sein Glaube war auf den neuen Menschen, das ist auf Christus selbst gerichtet. In Ihm erblickte er seinen eigenen Platz in der Herrlichkeit und hatte demzufolge Teil an der „Auferstehung aus den Toten“, gleich wie Christus selbst. Seine Sprache war: „Auf dass ich Christus gewinne ... ob ich auf irgendeine Weise hingelangen möge zur Auferstehung aus den Toten“ (V 8–11). Dieses führt uns direkt zu dem großen Grundsatz unseres Kapitels – zu dem ernsten und ungeteilten Streben nach der Herrlichkeit, nach Christus selbst, wobei, um dieses Ziel zu erreichen, alles andere nichts geachtet und für wertlos gehalten wird. In dem vorhergehenden Kapitel sahen wir Christus in seiner Erniedrigung; und dieses führt das Herz auf unserem Weg hienieden zu gleicher Offenbarung der Gnade gegen andere. Indem wir Christus, den zweiten, den verherrlichten Menschen vor Augen haben, erlangt unser Streben geistliche Energie, erhebt uns über die Welt, über alle ihre Beweggründe, und über alles, was dem alten Menschen Ansehen verleiht, und macht, als der Gegenstand des neuen Menschen, das Herz weit und erfüllt es mit einer himmlischen und ungeteilten Gesinnung in unserem christlichen Laufe.

Es ist eine der Schönheiten des Christentums, dass es durch unsere Versöhnung in Christus die reine und friedliche Zuneigung verleiht, die uns in einem bestehenden Verhältnis vollkommen glücklich sein lässt und Zugleich jenen höchsten Gegenstand unserer Hoffnung vor unsere Augen stellt, der uns zu einer ununterbrochenen Tätigkeit dringt. Das sind die zwei Elemente, welche die menschliche Natur für das Gute bilden, und beide werden in der höchsten, göttlichen Weise in Christus gefunden. In unserem Kapitel finden wir das letzte dieser Elemente behandelt.

Wir haben den völlig befriedigenden herrlichen Grundsatz – den Kampfpreis unserer Berufung nach oben, die Auferstehung aus den Toten – vor uns; jede Selbstsucht ist hier ausgeschlossen. Alles, was das Ich mit Ehre bekleidet, ist, wie wir gesehen, nur Verlust; es erhebt den alten Menschen. Christus ist der Gegenstand des Gläubigen. Dieses löst uns von allem anderen und erhebt den Menschen, aber nicht das Ich. Wenn der moderne Unglaube den Menschen erhebt, so erhebt er einfach das Ich, während das Christentum den Menschen zu himmlischer Herrlichkeit und göttlicher Hoheit erhebt, aber das Ich gänzlich bei Seite setzt. Der Apostel sagt: „Was mir Gewinn war, habe ich um Christi willen für Verlust geachtet“ (V 7). Gelehrsamkeit, das Verständnis fremder Sprachen usw. ist ein Gewinn für das Ich; meine eigene Gerechtigkeit zu haben, um mich dessen in der Welt oder vor Gott rühmen zu können, ist Nahrung für das Ich. Ich bin und besitze etwas, das andere nicht sind und nicht besitzen. Die Welt bedarf solcher Beweggründe; sie handelt danach, denn sie besitzt keine andere. Doch welche Energie solche Beweggründe auch zu erzeugen vermögen, so bewirken sie doch keinen Fortschritt in moralischer Beziehung. Das Ich bleibt die Quelle und der Mittelpunkt der menschlichen Tätigkeit. Und mag diese Tätigkeit auch große Anerkennung in der Welt finden, so ist der Mittelpunkt doch immer das Ich. Selbst in religiösen Dingen können wir dieses wahrnehmen. „Herr, gib uns, dass wir sitzen mögen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deinem Reich.“ – das war die Sprache des Ich; einen guten Platz mit anderen verlangten die beiden Jünger nicht. Die höchste Segnung, ausgedrückt in den Worten: „Dass ich Christus gewinne“ – dieser erhabenste Wunsch, wodurch das Herz von sich selbst ab und zu Christus hingezogen wird – findet sich hier nicht.

Ferner sehen wir, dass die Zuneigungen des Herzens zu einem Gegenstand hingezogen werden, der, in sich selbst höchst vortrefflich, stets der passende Gegenstand der Wonne Gottes des Vaters war. Gott hat uns das Vorrecht gegeben, unsere Wonne in dem zu finden, in dem auch Er seine völlige Wonne gefunden hat. Welch ein herrliches Zeugnis unserer wahren Versöhnung mit Gott, die nicht nur zu unserer Rechtfertigung nötig war, sondern die auch unsere moralische Natur zu dem Maß göttlicher Wonne und Gemeinschaft erhebt, obwohl wir stets die Empfangenden sind, die sich einer solchen Liebe erfreuen. Er ist immer der göttliche Geber; aber beide, sowohl der Geber, wie der Empfänger, finden in Christus den gleichen Gegenstand ihrer Wonne. Die Kreatur besitzt eine Natur, die ihr angepasst ist und sein muss; aber der moralische Zustand der Seele wird durch ihren Gegenstand gebildet und charakterisiert. Wir sind hier zu Teilnehmern der göttlichen Natur gemacht und haben einen göttlichen Gegenstand. Jedoch besitzen wir dieses jetzt noch nicht in einem Zustand der Ruhe. Wir leben inmitten einer Welt, durch welche Satan uns zu verführen sucht, indem er auf den alten Menschen wirkte. Während der Gedanke, dass Christus uns ergriffen, uns Mut und Dankbarkeit einflößt, verleiht Er, als der Gegenstand unserer Hoffnung, uns die nötige Energie; und da Er begonnen hat, uns von selbstsüchtiger Rückkehr zu unserer eigenen Wichtigkeit zu befreien, so ist seine Person der mächtige Anziehungspunkt, der uns über die Dinge dieser Welt den Sieg verleiht. Das Bewusstsein, dass wir unser Ziel noch nicht erreicht oder ergriffen haben, hält uns in Demut und lässt uns, weil wir Christus zu ergreifen haben, mit einer heiligen Zuneigung tätig sein. Wir sind durch die anziehende Macht eines auf den neuen Menschen wirkenden, göttlichen Gegenstandes von der Welt befreit. Das gibt eine unbesiegbare Kraft, indem das Selbstgericht in der Weise ausgeübt wird, dass wir alles mit Christus in Verbindung bringen. Dieses ist das sicherste Mittel, um alles richtig zu beurteilen und den Zuneigungen ihren wahren Platz zu geben; denn im anderen Fall kann in moralischen Dingen kein klares Urteil gefällt werden.

Dann erblicken wir hier noch ein anderes Element, welches jedoch keineswegs das hervorragendste ist, nämlich eine Macht, die der Macht dieser Welt entgegengesetzt ist. Ohne Zweifel ist diese Macht durch den Heiligen Geist gewirkt. Jedoch rede ich nicht von der Quelle, sondern von der Offenbarung derselben. Man ist mehr als Überwinder. Das ist die Kraft des Wortes: „Auf irgendeine Weise.“ – Hier zeigt sich kein Schwanken. Was es dem Apostel auch kosten mochte, welche Wege er auch einschlagen musste – er war mit allem zufrieden, wenn er nur seinen Zweck erreichte; ja selbst Leiden und Tod hatten keine Schrecken für ihn; vielmehr bewirkten dieselben umso mehr eine Gleichförmigkeit mit Christus, den er zu ergreifen suchte. Wie wir hier bemerken, suchte er die Kraft der ersten Auferstehung; Er kannte die göttliche Energie dieses neuen Lebens, die ihn, so zu sagen, im Geist aus dem gegenwärtigen Leben heraus versetzte, so dass die Leiden und der Tod – das Ende dieses Lebens – als Folge seiner Hingebung für Christus, ihn nur Christus gleichförmig machten und ihn also auf irgendeine Weise, und sei es auch durch den Tod, die Herrlichkeit des inneren Zustandes zu erreichen befähigte – jene Herrlichkeit, in, welche Christus durch die Auferstehung eingegangen war. Dieses soll indessen nicht heißen, als ob dieser Zustand für Christus persönlich neu sei; aber sie war neu für den Menschen, für die menschliche Natur, welche Er in Gnaden angenommen hatte, und mit welcher Er in die Herrlichkeit eingegangen ist. Gerade der Blick auf den Zustand der Auferstehung aus den Toten gab dem Wandel und der täglichen Energie des Apostels den völligen Charakter. Er konnte nicht sagen, dass „er es schon ergriffen habe oder schon vollendet sei;“ denn zu dieser Vollendung bedurfte es für ihn, mit Christus in der Herrlichkeit gleich zu sein. Jedoch jagte er nach, um es zu ergreifen, wozu er auch von Christus ergriffen war; und indem er dieses Ziel verfolgte, hatte er keinen anderen Gegenstand und kannte er kein anderes Ziel.

Doch dieses ist noch nicht alles: Er verfolgte dieses Ziel nicht in einer trägen Weise, sondern mit Ernst und ungeteiltem Eifer; er verfolgte es, indem er nicht nur gewisse Dinge missbilligte, sondern in der überwältigenden Macht dessen, der ihn von allem anderen befreit und ihn an den einen Gegenstand gefesselt hatte. Stets war dieser Gegenstand vor seinen Augen, aber er hatte ihn noch nicht ergriffen; immer glänzender wurde derselbe vor seinem Geist, aber er besaß ihn noch nicht. Dieses veranlasste ihn, gerade vor sich zu sehen und sich nicht zu beschäftigen mit dem Weg, den er zurückgelegt hatte. Er vergaß, was hinter ihm war, und streckte sich nach dem, was vor ihm war. Jemand, der in seinem Wettlauf stehen bleibt, um den zurückgelegten Weg zu besehen, wird bald das Ziel verfehlen; das Ich nimmt dann den Platz ein, das Manna erzeugt Würmer, und das Herz entfernt sich von seinem Gegenstand.

Diese Energie eines einfältigen Auges erzeugt noch eine andere bemerkenswerte Wirkung: man schaut ausschließlich auf das, was himmlisch ist. Es ist die Berufung nach oben, woran die Hoffnung und die Gedanken sich knüpfen, indem man, wie der Apostel sagt, nicht „die Dinge anschaut, welche man sieht, sondern die, welche man nicht sieht.“ Dieses gibt dem ganzen Wesen und Verhalten des Menschen ein himmlisches Gepräge. Sein Wandel ist im Himmel, sein Verkehr ist dort oben; das Herz ist erhoben und mit Dank erfüllt. Es ist die Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus. Das einsichtsvolle Herz versteht die Quelle und den Weg dieser Berufung.

Ich werde mich nicht beschäftigen mit dem, was der Apostel hier als Gegensatz des Vorhergehenden aufstellt. Es ist die irdische Gesinnung. Sie fesselt den Menschen an das, was, anstatt das Wachstum zu befördern, nur von dem entfernt, was himmlisch, rein und göttlich ist. Aber es geht noch weiter. Der Apostel spricht von „Feinden des Kreuzes Christi.“ Das Kreuz ist der Tod dieser Welt. Der Heilige rühmt sich, in demselben der Welt gestorben zu sein. Wenn jemand in dem Geist dieser Welt lebt, so ist er ein Feind des Kreuzes. Das Ende davon ist Verderben.

Uns bleibt nur eins übrig, nämlich die Hoffnung des Christen bis zu ihrer Erfüllung in der Ankunft des Herrn zu verwirklichen. Wir haben diese Hoffnung, „diesen Schatz in irdenen Gefäßen.“ Christus wird kommen und den Leib unserer Niedrigkeit umgestalten, dass er gleichförmig sei dem Leib seiner Herrlichkeit. Dann wird das, was wir jetzt in Hoffnung besitzen, was wir ersehnen, was unsere Herzen schon hier bildet, in Herrlichkeit erfüllt sein. Wir werden Christus gleich, und immer bei Ihm sein.

Dieses ist der Charakter einer Energie, welche uns nicht allein befreit, sondern uns auch über alles, was in der Welt ist, triumphieren lässt, indem sie unsere Neigungen den Dingen zuwendet, die droben und nicht auf der Erde sind, und Christus, der droben ist, zum glänzenden und gesegneten Gegenstand unserer Herzen macht. J. N. D.

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