Botschafter des Heils in Christo 1873

Reif für den Himmel

Es ist unter den Christen die Meinung vielfach verbreitet, dass der Gläubige durch die Wege, die Gott ihn führt, für den Himmel vorbereitet werde; und nicht selten hört man in Bezug auf einen glücklich Heimgegangenen die Worte: „Er war reif für den Himmel.“ Dieser Ausdruck aber steht samt dem, was er bezeichnen soll, gänzlich mit der Heiligen Schrift im Widerspruch. Nicht durch die Wege, welche Gott uns führt – nicht durch die Erfahrungen, die wir im christlichen Leben machen – nicht durch die Unterweisungen, die wir empfangen – nicht durch die Züchtigungen, denen wir unterworfen sind, werden wir für den Himmel vorbereitet, sondern allein durch das Werk Christi. Der Apostel sagt ausdrücklich in Hebräer 10, dass die Gläubigen durch den Willen Gottes geheiligt seien durch das ein für alle Mal geschehene Opfer des Leibes Christi – dass Christus, nachdem Er ein Schlachtopfer für die Sünden dargebracht, sich für immerdar gesetzt habe zur Rechten Gottes, als Beweis, dass das Werk vollkommen vollbracht und von Gott im Himmel angenommen sei – dass Christus mit einem Opfer auf immerdar vollkommen gemacht habe, die geheiligt werden, – und dass endlich der in uns wohnende Heilige Geist uns Zeugnis gebe von dem vollbrachten und von Gott angenommenen Werke Jesu. Jemand, der geheiligt und für immer vor Gott vollkommen gemacht ist, wird auch sicher vorbereitet und geschickt sein für den Himmel.

Gott ist heilig, und der Mensch ist unheilig; darum kann der Mensch in der Gegenwart Gottes nicht bestehen. Aber der Gläubige ist durch das einmal geschehene Opfer Jesu Christi geheiligt, so dass er mit Freimütigkeit in der Gegenwart Gottes erscheinen kann. Er ist durch ein Opfer und zwar für immer vollkommen gemacht, so dass von einem zunehmen, oder von einem Vorbereiten, um für den Himmel reif zu werden, keine Rede mehr sein kann. Der Begriff von Vollkommenheit schließt jeden Gedanken an ein Wachsen und zunehmen aus. Eine Sache, die mangelhaft ist, oder die verbessert werden kann, ist nicht vollkommen. Der Apostel sagt daher auch ausdrücklich, dass alle Gläubigen auf Grund des vollbrachten Werkes Christi die Freimütigkeit haben, um ins Heiligtum einzugehen. Das Heiligtum ist die Gegenwart Gottes. Im Alten Testament verbarg der Vorhang das Heiligtum vor den Augen des Volkes. Jetzt aber ist der Vorhang zerrissen und der Himmel geöffnet. Das vollbrachte Werk Christi hat uns einen freien Zugang in den Himmel verschafft. Und jetzt kann durchaus von einer Vorbereitung für den Himmel nicht mehr die Rede sein, da die Gläubigen bereits – was freilich im Grundsatz dasselbe ist – durch den Glauben ins Heiligtum, in die Gegenwart Gottes eingegangen sind, um dort seine gesegnete Nähe und Gegenwart zu genießen.

Die Geschichte des Mörders am Kreuz ist in Bezug auf diese Wahrheit ein herrliches und treffendes Beispiel. Er hatte die Strafe, die er empfing, völlig verdient. Am Morgen war er noch ein Lästerer Jesu, und am Abend war er bereits mit Jesu im Paradies. In einem Moment wurde er aus einem Mörder ein geschickter Bewohner des Paradieses. Seine Sünden waren so vollkommen weggenommen, sein Kleid war so vollkommen rein, dass das Auge Gottes nicht einen einzigen Flecken zu entdecken vermochte. Er war gereinigt, abgewaschen und gerechtfertigt; und er ging ohne weitere Vorbereitung in den Himmel ein. Ebenso wird es sein, wenn der Herr Jesus kommt, um die Seinen in seine Herrlichkeit aufzunehmen. Dann werden alle noch auf Erden lebenden Gläubigen in einem Augenblick, in einem Nu verändert werden, um dem Herrn in die Luft entgegen gerückt und durch Ihn in das Vaterhaus gebracht zu werden. Es ist ganz natürlich, dass der praktische Zustand dieser Gläubigen sehr verschieden sein wird; der eine wird ein geringeres, der andere ein größeres Maß von Erkenntnis haben; der eine wird erst vor kurzem, der andere schon seit längerer Zeit bekehrt sein; ja man darf kühn behaupten, dass dann so viele verschiedenartige Zustände, wie Gläubige, vorhanden sein werden. Und dennoch macht dieses keinen Unterschied in Betreff des ihrer harrenden Loses. Sie werden alle Zugleich in einem Nu verändert werden und mit Jesu in den Himmel eingehen.

Ohne Zweifel gibt es eine große Verschiedenheit in dem praktischen Zustand der Christen. Der eine wandelt viel treuer als der andere; der eine ist viel ernster und gewissenhafter, als der andere; der eins hat viel mehr geistliche Erkenntnis und Erfahrung, als der Anders weil jener mehr in der Gegenwart Gottes lebt als dieser. Und selbst wenn alle Gläubigen gleich treu und gewissenhaft wandelten, so würde dennoch ein großer Unterschied vorhanden sein. Es ist doch selbstredend, dass ein Vater in Christus, d. h. Jemand, der viele Jahre mit dem Herrn gewandelt hat, viel weiter gefördert ist, als ein Kind in der Gnade, welches erst seit etlichen Wochen oder Monden bekehrt ist. Auch ist es wahr, dass der Gläubige, solange der Herr ihn noch hienieden lässt, viel zu lernen hat. Er muss wachsen in Erkenntnis und Gnade; er muss sich selbst und Gott, je länger je mehr kennen lernen; er muss von mancher Art von Unreinigkeit gereinigt werden. Jedoch dieses nimmt nicht weg, dass alle Gläubigen in einer Beziehung vollkommen und einander gleich sind. Sie sind nämlich alle berufen, gerechtfertigt und verherrlicht (Röm 8,30). Sie sind alle mit Christus gestorben und auferweckt und sitzen in Ihm bereits in den himmlischen Örtern (Eph 2). Sie sind alle Könige und Priester, gereinigt und abgewaschen durch das kostbare Blut Jesu (Off 1). In dieser Beziehung besteht kein Unterschied. In diesem Stück sind sich der Vater und das Kind in Christus einander gleich. Mag man dreißig Jahre oder nur eine Stunde bekehrt sein – man ist vor Gott rein, heilig und vollkommen. Mag man eine reiche oder geringe Erkenntnis besitzen, mag man stark oder schwach sein – in jedem Fall ist man geschickt für den Himmel, geschickt für die Gegenwart Gottes. Das ist die Wirkung des vollbrachten Werkes Christi. Nur von diesem Werk, und keineswegs von der Wirksamkeit des Heiligen Geistes in uns, ist unser Zubereitetsein für den Himmel abhängig. Alle, welche an diesem Werk Teil haben, sind von dem Augenblick ihrer Bekehrung an geschickt für die Gegenwart Gottes. Das Blut Jesu macht uns rein von aller Sünde. O möchten wir dieses doch recht verstehen! Möchten unsere Herzen doch ruhen auf dem vollbrachten Werk Christi und dort allein!

„Aber“ – könnte vielleicht jemand fragen – „warum müssen die Gläubigen denn noch nach ihrer Bekehrung auf Erden bleiben?“ – Meine Antwort ist: Nicht, um für den Himmel zubereitet zu werden, sondern um hienieden ihren Gott und Vater zu verherrlichen. Sie sind, wie bereits gesagt, von dem Augenblick ihrer Bekehrung an reif für den Himmel. Aber der Herr Jesus sagte zu seinen Jüngern: „Gleichwie der Vater mich in die Welt gesandt hat, habe auch ich euch in die Welt gesandt“ (Joh 17,18). Und wozu hat der Vater Ihn in die Welt gesandt? Um seinen Willen zu tun, nicht wahr? Nun zu demselben Zwecke sind auch wir durch den Herrn Jesus in die Welt gesandt. Gott will, dass die Seinen inmitten einer bösen Welt in allen Beziehungen des Lebens seinen Namen Verherrlichen und großmachen. Durch das Blut Jesu geheiligt, werden wir berufen, als Heilige zu wandeln. Durch das Werk Jesu gerechtfertigt, werden wir berufen, uns als Gerechtfertigte zu offenbaren. Tun wir dieses in aller Treue, so werden wir einmal unseren Lohn vom Herrn empfangen. Denn außer der ewigen Herrlichkeit ist uns auch noch ein Lohn für unsere Arbeit verheißen. Dieser Lohn aber wird abhängen von unserer Treue, in der wir für den Herrn gelebt und gearbeitet haben. In einem der Gleichnisse bekommt der eine zehn, der andere fünf Städte. Der Lohn der zwölf Apostel ist bereits durch den Herrn festgestellt; sie werden sitzen auf zwölf Thronen, richtend die zwölf Stämme Israels. Hieraus geht hervor, dass der Lohn während der Regierung Christi im tausendjährigen Reiche ausgeteilt werden wird. Besteht daher auch kein Unterschied zwischen den Gläubigen in Betreff der ewigen Herrlichkeit und ihres Zubereitetseins für den Himmel, so gibt es doch einen großen Unterschied in Beziehung auf den Lohn. Der eine wird viel, der andere wenig, und der Dritte vielleicht nichts empfangen (1. Kor 3). Der Grund dieser Verschiedenheit liegt darin, dass der Lohn von der Treue abhängt, in welcher wir für den Herrn gelebt und Ihm gedient haben, während die Herrlichkeit im Himmel allein von dem vollbrachten Werk Christi abhängig ist. Dieses recht zu verstehen, ist durchaus notwendig für den Frieden unserer Seele, sowie für die Verherrlichung Gottes. Für den Frieden unserer Seele, weil wir uns sonst nicht ruhig und glücklich in der Gegenwart Gottes fühlen können; denn wenn wir noch für den Himmel zubereitet werden müssen, so sind wir auch noch nicht geschickt für die Gegenwart Gottes; und ist dieses nicht der Fall, so kann unser Herz unmöglich ruhig und glücklich sein; – für die Verherrlichung Gottes, weil wir sonst beschäftigt sein werden, uns für den Himmel zuzubereiten und uns nicht um den Dienst Gottes kümmern können; denn wie könnten wir daran denken, für den Herrn zu arbeiten, wenn wir uns noch nicht reif für den Himmel wissen?

O geliebte Brüder, lasst uns mit einem einfältigen Herzen in einem gläubigen Gemüt das Zeugnis Gottes annehmen in Betreff der Genügsamkeit des Werkes Jesu und in Betreff des Zustandes aller, die auf dieses Werk vertrauen; denn nur dann werden wir mit Freuden unseren Weg wandeln können, und der Name unseres Gottes wird durch uns verherrlicht werden!

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