Botschafter des Heils in Christo 1873

Das Ende des eigenen Wirkens

Schon von frühester Kindheit an wurde ich belehrt, dass ich und alle Menschen Sünder seien, und dass Jesus Christus, der Sohn Gottes, in die Welt gekommen und ans Kreuz geheftet worden sei, damit Sünder errettet würden, so dass sie, wenn sie fleißig beteten und ein gottseliges Leben führten, der ewigen Verdammnis entrinnen und in den Himmel gelangen könnten. Diese meine erste Unterweisung ließ einen tiefen Eindruck in meiner Seele zurück; und das war wohl die Ursache, dass ich schon in früher Jugend begann, mir durch eigenes Wirken einen Weg in den Himmel und zu Gott zu bahnen. Ich war belehrt worden, dass ich nach dem Tod vor Gott ins Gericht treten und wegen jeder begangenen Sünde Rechenschaft ablegen müsse, und dass ich, falls ich unvorbereitet die Erde verlasse, mein Teil in der Hölle finden werde. Natürlich füllten diese Dinge meine Seele mit Furcht und Schrecken.

Jahre reihten sich an Jahre; aber ich fand, dass sich auch Sünde an Sünde reihte. Die Vergehungen in meinen Jünglingsjahren fügten sich zu denen in meiner Kindheit; und das war zu viel für mich. Bei all diesem hatte ich indessen die Tatsache nicht entdeckt, dass meine ganze Natur Sünde sei,– und dass in mir, das ist in meinem – Fleisch, nichts Gutes wohne; und weil ich dieses nicht gelernt hatte, ging mein Streben stets dahin, das, was einfach die Frucht eines verdorbenen Baumes war, zu besiegen und zu unterwerfen. Gott sei gepriesen! Ich habe nachher gelernt, das in dem vollkommenen Opfer Christi am Kreuz die ganze Sache für den Glaubenden gerichtet, bei Seite gesetzt und von dem Angesicht Gottes entfernt worden ist.

Ich muss hier bemerken, dass die Christen, mit denen ich in jener Zeit verbunden war, die Lehre aufstellten und festhielten, dass man bei der Bekehrung einen mächtigen und überwältigenden Wechsel erfahren müsse, indem die alte, sündenbefleckte und gottlose Natur plötzlich beseitigt werde und ein neues, weißes und reines Herz an ihren Platz trete. Da ich dieses als eine unumstößliche Wahrheit betrachtete, so prüfte und untersuchte ich mich täglich, ob die Erfahrung einer solchen Veränderung auch bei mir stattgefunden habe; und natürlich leitete mich dieses, nach innen auf mich selbst zu schauen. Und ach, welch schreckliche Dinge fand ich hier! Ich schrak vor all meinen bisherigen Anstrengungen zurück; aber dennoch wagte ich es nicht, sie aufzugeben, Je mehr ich nach innen blickte, desto mehr erkannte ich meinen gefallenen Zustand als den eines Kindes Adams, und es wurde mir jetzt zu einer klaren Tatsache, dass ich ein verlorener Sünder war. Ich sah mich in meinen Sünden und die Sünde in mir; und ebenso war es mir jetzt ganz klar, dass, wenn ich mich nicht befreite von meinen Sünden, ich eines Tages für ewig in den Feuersee gestürzt werden würde. Während ich jedoch in dieser Weise der Wahrheit ins Auge schaute, begann –ein anderer Kampf. Mein stolzes Herz wollte sich nicht der Gerechtigkeit Gottes unterwerfen. Ich war in all dieser Zeit beschäftigt gewesen, meine eigene Gerechtigkeit aufzurichten; und da ich jetzt fand, dass sie weniger als wertlos, dass sie nichts als ein „unflätig Kleid“ sei, und dass mein bisheriges Wirken in religiösen Dingen durchaus keinen Nutzen habe, fühlte ich einen Schlag, der zu stark für meinen Stolz war. Ich widersetzte mich dem Zeugnis des Geistes Gottes bezüglich meines wahren Zustandes vor Ihm und setzte meine Anstrengungen in der Hoffnung fort, dass ich nach und nach errettet werde, oder mich doch wenigstens in eine Stellung bringe, die geeignet sei, um errettet werden zu können. Ich hatte zwar oft das Evangelium verkündigen hören, und mir konnte es nicht unbekannt sein, dass Christus als das Heilmittel Gottes für die Sünde dargestellt war; aber Satan hatte mein Herz so sehr erfüllt mit meinen eigenen Wegen und mit meinem eigenen Tun und Handeln, dass mein Auge zu sehr verblendet war, als dass ich das einzig wahre Heilmittel gesucht und angewandt hätte.

So flog ein Jahr nach dem anderen dahin, und ich fühlte, dass die große Frage zwischen meiner Seele und Gott notwendig bald in Ordnung gebracht werden müsse.

Ich befand mich damals in einer großen Stadt und sah mich als Fremdling ihren Fallstricken und Gefahren preisgegeben. Hier wanderte ich von einem Platz zum anderen, indem ich den Frieden suchte, nach welchem meine Seele so sehr dürstete. Ich fühlte, dass nur die Befreiung von den Banden der Sünde diesen Frieden verschaffen könne. Ach! nur ein Blick im Glauben auf das Kreuz Christi würde die ganze Frage in Ordnung gebracht haben; ja, nur ein Blick im Glauben. Wunderbar, höchst wunderbar! Aber ich war zu sehr eingenommen von dem, was ich war, und zu sehr beschäftigt mit meinen Sünden, als dass ich daran hätte denken können, einfach auf Jesus, das Lamm Gottes, zu blicken – auf jenes von Gott angenommene Opfer für die Sünde – auf Ihn, den gepriesenen Herrn, der bereits alles getan hatte, was ich mich vergeblich zu tun anstrengte.

Da ich nun fand, dass alle meine Anstrengungen mir nicht die gewünschte Ruhe brachte, sondern vielmehr immer neue Bürden auf mich wälzten, begann ich endlich zu ermatten und versank in einen Zustand von Gleichgültigkeit. Da empfing ich eines Morgens den Besuch eines jungen Mannes, der mit mir ein Haus bewohnte. Mit heiteren Blicken stürzte er auf mich zu, und mit einem von Freude überströmenden Herzen teilte er mir mit, dass er Frieden gefunden habe durch den Glauben an das Blut Christi, welches ihn für immer von allen Sünden gereinigt habe. In freudiger Aufregung lobte und pries er die unvergleichliche Liebe Gottes in Christus Jesus – jene Liebe, die seiner Seele einen Genuss bereitet hatte, wie er dergleichen nie erfahren hatte. –

Dieses zusammentreffen gab mir wieder einen neuen Anstoß, um endlich eine alte Frage in Ordnung zu bringen; und ich beschloss, meine Anstrengungen von neuem zu beginnen, wiewohl ich nicht wusste, wie ich die Sache angreifen sollte. Ich überschaute die Sünden meines ganzen Lebens, so viel ich mich derer entsinnen konnte, wohl wissend, dass Tausende meinem Gedächtnis entwischt und Tausende mir gänzlich unbekannt geblieben waren, und gar nicht in Anschlag bringend, dass meine ganze Natur Sünde sei. Das Resultat meiner Prüfung war natürlich ein noch tieferes Elend. Ich erkannte mit einem durch die Gnade Gottes erleuchteten Gewissen meinen wirklichen Zustand in dem schwärzesten Licht; und da ich den Weg der Befreiung von der Sünde nicht kannte und darum ohne Ruhe und Frieden war, so war mein Zustand ein höchst trauriger und kann sicher nur von jemand begriffen werden, der eine ähnliche Erfahrung gemacht hat. Sünde und Tod, Himmel und Hölle standen vor meinen Blicken in ihrer schauerlichen Wirklichkeit. Selbstredend war diese Unruhe hauptsächlich eine Folge der Predigten und Belehrungen, denen ich gewöhnlich beiwohnte, und worin der Sünder zum selbstwirken angetrieben wurde, anstatt ihm Christus vorzustellen als den, der jedes notwendige Werk in göttlicher Weise vollbracht hat, so dass die Seele, welche sich selbst verloren und unfähig fühlt, etwas für ihre eigene Errettung zu tun, im Glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Herrn und Heiland Vergebung und Frieden finden könne. „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass Er seinen eingeborenen Sohn gegeben, auf dass alle, die an Ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben“ (Joh 3,16).

Indes soll keineswegs damit gesagt werden, dass es verkehrt war, mich zu belehren, dass ich ein Sünder sei; vielmehr preise ich den Herrn für diese Unterweisung. Aber es ist verkehrt, den Sünder anzuspornen, sich durch eigenes Wirken einen Weg zu Gott zu bahnen. Wollte Gott, dass jene Christen, welche sich als Prediger des Evangeliums berufen glauben, einen größeren Eifer zeigten, Jesus vor die Seele des Sünders zu stellen, statt ihn immer aufs Neue aufzufordern, auf sich und seine Sünden zu blicken.

Man möge jedoch in keiner Weise dem Gedanken Raum geben, als ob ich das Gefühl gegen die Hässlichkeit der Sünde in etwa schwachen wollte. Gott verhüte dieses! Denn die Sünde kostete dem Herrn Jesus alles, was Er hatte, um seine armen und geliebten Schafe zu erretten und sie für immer aus der Macht derselben zu befreien. Um der Kirche willen gab Er alles hin, was Er besaß, um den Acker zu besitzen, worin die kostbare Perle verborgen war. Die Sünde war die Ursache, um derentwillen der Herr Jesus sein Leben hingab; und nichts würde daher verwerflicher sein, als das Gefühl eines aufrichtigen Herzens gegen die Hässlichkeit der Sünde schwächen zu wollen. Wie beachtenswert sind hingegen die Worte: „Denn die Gnade Gottes, heilbringend für alle Menschen, ist erschienen, und unterweist uns, dass wir, die Gottlosigkeit und die weltlichen Lüste verleugnend, nüchtern und gerecht und gottselig leben in dem jetzigen Zeitlauf, erwartend die glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilands Jesu Christi, der sich selbst für uns gegeben hat, auch dass Er uns loskaufte von aller Gesetzlosigkeit und reinigte sich selbst ein Eigentumsvolk, eifrig in guten Werken“ (Tit 2,11–14).

Doch kehren wir zu unserer Erzählung zurück. In diesem meinem unglücklichen Zustand wurde meine Aufmerksamkeit auf einen Prediger des Evangeliums gelenkt, welcher, wie man mir sagte, durch seine ernsten und gediegenen Predigten eine große Menschenmenge an sich zog. Fest entschlossen, meine Neugierde zu befriedigen, ging ich eines Tages hin, um ihn zu hören. Der Raum war von den zahlreichen Zuhörern bereits angefüllt; aber durch die offene Tür konnte ich fast jedes seiner Worte verstehen. Ich hörte sogleich, dass er in seinem Vortrag beschäftigt war, der horchenden Menge den Heilsweg Gottes, sowie sein für die Sünde dargebotenes Heilmittel zu verkündigen. Ich lauschte mit der größten Spannung. Da wurde plötzlich mein Ohr mit Macht durch die Worte getroffen: „Was der Sünder nötig hat, ist Jesus; ja Jesus und nur Jesus!“ Wie durch göttliche Gewalt drängten sich diese Worte in mein unruhig klopfendes Herz. In der eindringlichsten Art schob der Prediger alles andere bei Seite, bezeichnete jedes andere Hilfsmittel, worauf die Menschen ihr Vertrauen setzen, als die größte Lüge des Feindes Gottes und der Menschen, und stellte Christus, als die einzige von Gott bereitete Zufluchtstätte dar, eine Zufluchtstätte, die nimmer beseitigt werden könne. Wusste ich dieses denn nicht schon lange? Gewiss. Und dennoch war es mir, als hätte ich heute zum ersten Male die köstliche Wahrheit vernommen, dass der Herr Jesus der Einzige war, der auch zu retten und meine Seele mit Frieden und Freude zu erfüllen vermöge. Ja, Er war der Einzige; und sein kostbarer Name fiel wie ein vortrefflicher Balsam auf mein sündenbeladenes, unruhiges Herz, so dass ich alles andere überhörte, was der Prediger sagte. Obgleich ich aus Unkenntnis in Betreff des vollkommenen Werkes Jesu Christi nun noch nicht jenen Frieden erlangte, dessen sich jeder wahrhaft Glaubende an Jesus zu erfreuen das Vorrecht hat, so fand ich doch Ihn, der mir denselben geben konnte und wollte, und in Ihm den Frieden. Ja, nur Christus ist der Friede der Gläubigen. Ermüdet und niedergebeugt unter der Last meines eigenen Wirkens, gab ich jetzt hocherfreut meine hoffnungslose Arbeit auf – eine Arbeit, die nur zu eigenem Verderben enden kann. Ich ruhte in dem vollendeten Werk Christi, welcher für mich sein kostbares Blut vergossen hat, für mich in den Tod gegangen, auferstanden und gen Himmel aufgefahren ist, wo Er, nachdem Er für immer die Frage der Sünde, sowohl in Betreff ihrer Wurzel als ihrer Zweige, zu vollkommener Befriedigung Gottes und zu meiner vollkommenen Freude beantwortet hat, zur Rechten Gottes sitzt, um für mich ein barmherziger Hohepriester und mein Sachwalter zu sein. Ja, dort ist jetzt sein gesegneter Platz; und dorthin werde auch ich mit allen, die seine Erscheinung lieben, bald Ihm folgen, um seine Herrlichkeit zu teilen, „wenn Er kommen wird, verherrlicht zu werden in seinen Heiligen und bewundert in allen bellen, die geglaubt haben“ (2. Thes 1,10).

Gibt es unter meinen Lesern jemand, welcher Erkannt hat, dass er ein verlorener Sünder ist? Bist du ein solcher, dann lass dir sagen, dass auch du es nur mit Jesu zu tun hast. Er kam in die Welt, um „Sünder zu erretten“, und nicht Gerechte; und je früher du mit Ihm in Berührung kommst, desto gesegneter wird der Erfolg sein. Vielleicht hast du dich nicht wie ich durch eigenes fruchtloses Wirken abgemüht, welches, fern von dem Blut Christi, nur im Gericht enden kann; gleichviel – auch für dich gilt das Wort jedes Predigers: „Was der Sünder nötig hat, ist Jesus, ja Jesus und nur Jesus!“ Dort hat meine Arbeit ihr Ende gefunden, und dort muss jede andere Sache, die dem Menschen von Natur angehört, ihr Ende finden, mögen es tote, religiöse, oder gottlose Werke sein. Das Kreuz zeigt uns das göttliche Urteil über alle diese Dinge.

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