Botschafter des Heils in Christo 1873

Stephanus

Es gibt zwei Tatsachen wodurch das Christentum gekennzeichnet wird, und wodurch es von allem, was vorher bestand, unterschieden ist. Diese Tatsachen sind: der Mensch ist verherrlicht im Himmel, und Gott wohnt in dem Menschen auf der Erde. Wie wunderbar und herrlich! Wenn wir diese Wahrheit verstehen, so wird sie sicher einen kräftigen Einfluss auf unsere Herzen und unser Leben ausüben.

Diese Tatsachen bestanden nicht bevor die Erlösung vollkommen vollbracht war und der Erlöser seinen Platz zur Rechten der Majestät in den Himmeln eingenommen hatte. Erst dann wird zum ersten Male ein Mensch auf dem Thron Gottes gesehen. Es ist das Resultat der vollbrachten Versöhnung. Satan schien den Sieg davongetragen zu haben, als der erste Mensch aus Eden vertrieben war; aber nein, der Zweite Mensch hat seinen Triumphzug im Himmel gehalten und sich auf den ewigen Thron Gottes gesetzt.

Die zweite Tatsache, dass der Heilige Geist im Menschen auf Erden wohnt, ist eine notwendige Folge von der ersten. In der alttestamentlichen Haushaltung waren diese Dinge unbekannt. Was wusste Abraham von einem verherrlichten Menschen im Himmel? Keine jener Heiligen wussten davon etwas. Und wie wäre dieses auch möglich gewesen? Kein Mensch fand sich auf dem Thron Gottes in dem Himmel, bis Jesus seinen Platz dort eingenommen hatte; und solange Er nicht verherrlicht im Himmel war, konnte der Heilige Geist nicht im Menschen auf Erden Wohnung machen. „Wer an mich glaubt, gleich wie die Schrift gesagt hat, aus dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fliehen. Dieses aber sagte Er von dem Geist, welchen die an Ihn Glaubenden empfangen sollten; denn der Geist war noch nicht weil Jesus noch nicht verherrlicht worden war“ (Joh 7,38–39). „Doch ich sage euch die Wahrheit! Es ist euch nützlich, dass ich hingehe; denn wenn ich nicht hingehe, so wird der Sachwalter nicht zu euch kommen, wenn ich aber hingehe, so will ich ihn zu euch senden“ (Joh 16,7). In diesen Stellen sind die beiden Tatsachen ganz bestimmt mit einander verbunden: Christus ist verherrlicht im Himmel und der Heilige Geist wohnt in uns auf der Erde. Die letzte Tatsache ist ganz von der ersten abhängig; und beide zusammen bilden die zwei großen Kennzeichen des herrlichen Christentums, welches in dem Evangelium Gottes offenbart ist.

Vorausgesetzt, dass der Leser diese Wahrheiten in seinem Herzen aufgenommen hat und sich derselben erfreut, wird er auch fähig sein, ihre praktische Kraft und ihren herrlichen Einfluss zu würdigen, wozu uns die Geschichte des Stephanus die beste Anleitung gibt. Richten wir unseren Blick auf diese feierliche Szene.

Der größte Teil des Kapitels teilt uns die ganze Geschichte Israels von der Berufung Abrahams bis zur Kreuzigung Christi mit. Am Ende seiner Rede wandte sich Stephanus an die Gewissen seiner Zuhörer, deren Wut sich mit jedem Augenblick steigerte. „Als sie aber dieses hörten, wurden ihre Herzen durchbohrt; und sie knirschten mit den Zähnen gegen ihn.“ Hier sehen wir die Wirkung der Religiosität ohne Christus. Diese Leute waren die Beschirmer des Gottesdienstes und die Führer des Volkes. In ihrer Feindseligkeit erblicken wir das schreckliche Muster eines Gottesdienstes ohne Gott und ohne Christus, während wir in Stephanus die herrliche Entfaltung des wahren Christentums sehen. Sie waren erfüllt mit fanatischer Feindschaft und Wut, während er voll des Heiligen Geistes war. Sie knirschten mit ihren Zähnen, während sein Antlitz dem eines Engels glich. Welche Gegensätze! „Als er aber, voll des Heiligen Geistes, unverwandt gen Himmel schaute, sah er die Herrlichkeit Gottes, und Jesus stehend zur Rechten Gottes, und sprach: Siehe ich sehe den Himmel geöffnet, und den Sohn des Menschen zur Rechten Gottes stehend.“

Hier sehen wir also die beiden Tatsachen in einem Menschen, wie wir sind, verwirklicht. Stephanus war voll des Heiligen Geistes und sein Blick war unverwandt auf den verherrlichten Menschen im Himmel gerichtet. Das ist das Christentum. Das ist der wahre Zustand eines Christen. Es ist ein Mensch voll des Heiligen Geistes, schaut mit dem Auge des Glaubens zum Himmel empor und beschäftigt sich mit einem verherrlichten Christus. Das ist und bleibt unser Maßstab, wie wenig wir auch diese unsere Stellung verwirklichen mögen. In Betreff der Verwirklichung müssen wir uns sicher tief demütigen; aber dennoch ist dieses der göttliche Maßstab; und jeder wahrhaft Gläubige ist mit nichts Geringerem zufrieden. Es ist das glückselige Vorrecht eines jeden Christen voll des Heiligen Geistes zu sein und das Auge des Glaubens auf den verherrlichten Menschen im Himmel zu richten. Die Erlösung ist vollbracht; die Sünde ist zunichtegemacht; die Gnade herrscht durch die Gerechtigkeit; es ist ein Mensch auf dem Thron Gottes; der Heilige Geist ist auf die Erde hinabgestiegen und hat in dem Gläubigen insbesondere und in der Versammlung insgesamt seine Wohnung aufgeschlagen.

Dieses sind Wahrheiten von großem, praktischem Nutzen und kräftigem Einfluss, wie wir dieses deutlich in der Geschichte des Märtyrers Stephanus wahrnehmen. Man kann unmöglich die letzten Verse unseres Kapitels lesen, ohne die mächtige und herrliche Wirkung zu sehen, die der Gegenstand, auf den seine ganze Seele gerichtet ist, hervorruft. Die schrecklichsten Umstände umringen ihn; gleich blutdürstigen Tigern stürzen seine Feinde über ihn her; die Steine Zerschmettern seinen Körper, der Tod steht in der schrecklichsten Gestalt vor seinen Augen; doch anstatt in irgendeiner Weise von den Umständen beherrscht zu werden, nehmen die himmlischen Dinge, welche er schaut, ihn ganz in Anspruch. Sein Auge ist unverwandt gen Himmel gerichtet; und dort sieht er Jesus. Die Erde verwirft ihn, wie sie vorher seinen Herrn verworfen hat; aber der Himmel öffnet sich ihm; und in den geöffneten Himmel hineinschauend, fängt er die Strahlen der Herrlichkeit Gottes auf und lässt sie wieder von sich ausstrahlen. Nie herrlich! Stephanus war nicht nur über alles, was ihn umringte, erhaben, sondern war auch fähig gemacht, seinen Mördern die Gnade und Güte Jesu zu offenbaren. Ja, wahrlich, der höchste Ausdruck des himmlischen Christentums steht hier der finstersten und entsetzlichsten Offenbarung der religiösen Feindschaft gegenüber. „Sie schrien aber mit starker Stimme, hielten ihre Ohren zu und stürzten einmütig auf ihn los. Und als sie ihn aus der Stadt hinausgestoßen, steinigten sie ihn ... der anrufend sprach: Herr Jesu, nimm meinen Geist auf! – Und niederkniend rief er mit starker Stimme: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht zu!“ –

Welch eine Gleichförmigkeit mit dem Bild Christi! Wie der sterbende Heiland, bittet auch Stephanus für seine Feinde. Anstatt an seine eigenen Leiden zu denken, denkt er an andere und betet für sie. In Betreff seiner selbst ist alles in Ordnung. Sein Auge ist auf die Herrlichkeit gerichtet; und der Abglanz dieser Herrlichkeit strahlt von ihm aus. Sein Antlitz glänzt von dem Licht dieser Herrlichkeit, in die er bald eintreten soll; und er ist im Stande, durch die Kraft des Heiligen Geistes seinem gesegneten Herrn und Meister zu folgen. Nachdem er für seine Feinde gebetet, gab es auf dieser Erde nichts mehr für ihn zu tun, als das Auge zu schließen vor einem Platz des Elends und des Todes und sie zu öffnen in einer Stätte ewiger Freude und Herrlichkeit.

Teurer Leser. Bedenke wohl, dass dieses das wahre Christentum ist. Es ist das gesegnete Vorrecht des Christen, voll des Heiligen Geistes zu sein, von sich selbst und von allem, was ihn umringt, abzusehen, unverwandt seinen Blick gen Himmel zu richten und mit dem verherrlichten Menschen Christus Jesus beschäftigt zu sein. Dem, auf welchem das Auge ruht, gleichförmig zu sein, ist die unausbleibliche Folge – gleichförmig im Geist, im Wandel und im ganzen Charakter. „Wir alle, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde.“ So war es bei Stephanus. Also wird es auch bei uns sein. O möchten wir doch die Wichtigkeit und das Glück davon fühlen, auf dass unser Herz ernstlich begehre, das Bild Christi in all unseren Wegen und Taten zur Schau zutragen! Dazu gebe der Herr uns Gnade!

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