Botschafter des Heils in Christo 1873

Die Errettung

Man kann gegenüber der Neigung solcher Seelen, die, in ihren Gewissen beunruhigt, durch eigene Anstrengung Rettung und Frieden suchen, nicht oft genug wiederholen, dass die Bibel das Heil des Sünders nirgends von menschlichem Tun, sondern ganz allein von dem abhängig macht, was der Herr getan hat. Wie der Prophet Jona sich nicht selbst aus dem Bauch des Fisches befreien konnte, sondern ausrufen musste: „Bei Jehova ist Rettung“, ebenso kann auch der Sünder nichts zu seiner Befreiung aus der Tiefe des Verderbens tun. Er ist von Natur „ein Kind des Zornes“ und offenbart sich in seinem Wandel als ein Sklave Satans; und wenn er je etwas anderes, etwas Besseres ist, so kann dieses nur der Fall sein, wenn Gott etwas für ihn tut oder getan hat. Und was hat Gott getan? „Also hat Gott die Welt geliebt, dass Er seinen eingeborenen Sohn gegeben, auf dass jeder, der an Ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass Er die Welt richte, sondern dass die Welt durch Ihn gerettet werde“ (Joh 3,16–17). Also gerade jene Kinder des Zornes sollen Rettung finden, nicht etwa erst, wenn sie wollen; denn der Mensch kann kein Verlangen nach Rettung haben, bevor Gott dieses Verlangen in ihm gewirkt hat. Er zweifelt nimmer an seiner Seligkeit, bis er von der Tatsache überzeugt worden, dass er ein verlorener Sünder ist; und diese Überzeugung kommt weder von seiner eigenen Natur noch von dem Teufel, unter dessen Macht er steht. Kein Mensch hat je eine göttliche Traurigkeit über die Sünde, bevor er lebendig gemacht ist. „Der Sohn macht lebendig, welche Er will“ (Joh 5,21). „Gott aber ... als auch wir in den Vergehungen tot waren, hat uns mit dem Christus lebendig gemacht“ (Eph 2,4–5). Was kann ein toter Mensch tun? Darum ist es Gott, der von Anfang bis zu Ende „in euch wirkt beides – das Wollen und das Wirken nach seinem Wohlgefallen.“ – „Steht fest und seht die Rettung Jehovas!“ ruft Moses den fliehenden Kindern Israels zu, die in ihrer Ohnmacht gezwungen waren, Gott allein die Ehre zu geben. Der Mensch zeigt, solange er nicht von seiner Ohnmacht überzeugt ist, stets die Neigung, bei seiner Rettung die Hand mit ans Werk zu legen; und nichts ist schwerer und demütigender für ihn, als mit göttlicher Überzeugung seinen Ruin und seine völlige Hilflosigkeit zu bekennen. Und doch gibt es andererseits nichts, welches die Gnade Gottes so sehr ins Licht stellt und verherrlicht.

Nichts hat wohl die christliche Lehre mehr entstellt, als der von vielen Seiten angenommene Lehrsatz, dass man aus der Gnade fallen könne. Allerdings wenn ein Mensch kraft seines eigenen Willens ein Kind Gottes werden könnte, so kann er im nächsten Augenblicke kraft desselben Willens wieder ein Sklave Satans werden. Aber wenn kein Mensch durch die Wirkung seines eigenen Willens ein Kind Gottes werden kann, so kann auch kein Mensch das Verhältnis aufheben, welches Gott selbst gegründet und aufgerichtet hat. „Niemand kennt den Vater, denn nur der Sohn, und wem irgend der Sohn Ihn offenbaren will.“ „Niemand kommt zu mir, es sei denn, dass der Vater der mich gesandt hat, ihn ziehe.“ „Niemand kommt zum Vater, als nur durch mich.“ „Welche nicht aus Geblüt, noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind.“ „Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist.“ „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der nach seiner großen Barmherzigkeit uns wiedergezeugt hat“ (Mt 11,27; Joh 6,44; 14,6; 1,13; 3,6; 1. Pet 1,3).

Ist ein Kind geboren, weil es dieses für gut fand und sich daher entschloss, geboren zu werden? War seine Geburt die Folge seines eigenen Willens? Niemand wird um eine Antwort verlegen sein. Blicken wir uns daher um, damit wir erkennen, was Gott getan, um uns zu seinen Kindern zu machen. „Größere Liebe hat niemand, denn diese, dass jemand sein Leben lässt für seine Freunde“ (Joh 15,13). „Christus ist, da wir noch kraftlos waren, zu seiner Zeit für Gottlose gestorben. Denn kaum wird jemand für einen Gerechten sterben; denn für den Gütigen möchte vielleicht jemand zu sterben wagen. Gott aber erweist seine Liebe gegen uns, indem Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist. Vielmehr nun, da wir jetzt durch sein Blut gerechtfertigt sind, werden wir durch Ihn errettet werden vom Zorn. Denn wenn wir, da wir Feinde waren, Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, vielmehr werden wir, da wir versöhnt sind, durch sein Leben errettet werden“ (Röm 5,6–10).

Gepriesen sei Gott! Wenn die Liebe Gottes, da ich noch ein Feind, ein Sünder, ein Gottloser war, für meine Rechtfertigung und Versöhnung ein so sicheres Unterpfand gegeben hat, wie vielmehr wird dann jetzt diese Liebe mir, einem Kind gegenüber, in den Riss treten, um mich für die Herrlichkeit zu bewahren. Und ich bin gewiss, dass es viele Stellen gibt, die von Seiten der Menschen oft ganz falsch auf Gläubige angewandt werden, die aber, wenn sorgfältig geprüft und mit anderen Schriftstellen verglichen, deutlich zeigen, dass der Heilige Geist eine Klasse von Bekennern im Auge hat, welche nimmer durch die lebendig machende und erneuernde Gnade Kinder Gottes waren. Richten wir z. B. unseren Blick auf Hebräer 6,4–6, wo wir nach dieser Richtung hin die stärksten Ausdrücke finden. Wenn wir diese Ausdrücke mit anderen Schriftstellen vergleichen, so werden wir sogleich entdecken, dass unter denen, die „einmal erleuchtet waren und geschmeckt haben die himmlische Gabe und teilhaftig geworden sind des Heiligen Geistes“ nicht solche zu verstehen sind, welche Leben aus Gott, himmlische Gaben zu ihrer Nahrung und den Heiligen Geist, als in ihnen, seinen Tempeln wohnend, empfangen haben. Es sind ganz andere Ausdrücke gewählt worden, während von Kindern gesagt wird, dass sie erwählt, berufen, lebendig gemacht, gerechtfertigt, versöhnt, angenehm gemacht, zur Kindschaft verordnet und in Christus vollendet sind. Wenn man nun vollends weiterliest, so findet man im siebenten Verse eine Erläuterung, und in dem achten und neunten Verse einen klaren Aufschluss über die wahre Bedeutung jener Stelle, die uns eine Klasse von Menschen darstellt, welche nie gerettet waren. – Auch die Stelle in Galater 5,4: „Ihr seid aus der Gnade gefallen“, berührt in keiner Weise den in Frage stehenden Punkt der Errettung; denn die Galater waren in Gefahr, sich von der im Evangelium verkündigten Gnade abzuwenden und zum Judentum oder zum Gesetz zurück zu kehren. – Ebenso wird die Stelle in Philipper 2,12: „Bewirtet eure eigene Seligkeit mit Furcht und Zittern“, oft ganz falsch angewandt und ihrer wahren Bedeutung entkleidet. Lesen wir den ganzen Vers. „Also denn, meine Geliebten, wie ihr allezeit gehorsam gewesen, nicht nur als in meiner Gegenwart, sondern jetzt vielmehr in meiner Abwesenheit, bewirkt eure eigene Seligkeit mit Furcht und Zittern.“ Unmöglich würde der Apostel solche, die noch nicht gerettet, mithin noch Feinde Gottes waren, mit den Worten: „meine Geliebte“ angeredet haben. Er wendet sich vielmehr an solche, welche gerettet und sich ihrer Rettung bewusst sind, und an sie ergeht die Aufforderung, ihre eigene Seligkeit mit Furcht und Zittern zu bewirken, d. h. sich mit äußerster Wachsamkeit von den drei großen Feinden ihrer Seele, von der Welt, dem Fleisch und dem Teufel fern zu halten. Und in welcher Weise konnte dieses geschehen? Die Worte: „Denn Gott ist es, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Wirken nach seinem Wohlgefallen“, geben uns darüber völligen Aufschluss. Ja, nicht in uns selbst liegt das Vermögen, um uns von unseren Feinden fern zu halten; aber wir fliehen zu Gott, welcher den Willen und die Kraft darreicht, um dem Teufel zu widerstehen, das Böse zu überwinden und uns in Hoffnung der Herrlichkeit zu erfreuen. Wir sehen also, dass die ganze Idee des freien Willens durch die Wahrheit bei Seite gesetzt ist.

Aus den verkehrten Anschauungen über das Wort Gottes, sowie überhaupt aus den Gedanken des Menschen über Gott und über sich selbst entspringen die größten Irrtümer. Wenn sich ein Mensch den Gedanken Gottes in Betreff seiner unterwirft, so wird er bald finden, dass er nicht die Wahl hat, über sich frei zu bestimmen; denn er ist schon gerichtet. Welche Macht oder Freiheit, um sich selbst zu retten, besitzt ein Gefangener, der bereits verurteilt ist und dem Tag seiner Hinrichtung entgegenharrt? – Aber ein Kind Gottes ist sich seiner Freiheit bewusst und wandelt in diesem Bewusstsein; denn „wen der Sohn freimacht, der ist wirklich frei.“ Wählen wir zu unserer Aufklärung folgendes Beispiel: Ein Mann von großem Vermögen nimmt einen armen Knaben, der weder Vater, noch Mutter, noch sonst einen Versorger hat, in sein Haus und sagt ihm: „Höre, mein Junge; wenn du zu mir kommen und mir fünfzehn Jahre lang treu dienen willst, so werde ich dich zu meinem Universalerben einsetzen.“ Was für eine Stellung wird der Knabe einnehmen? Eine Stellung der Knechtschaft und der Furcht während der ganzen fünfzehn Jahre. Um seinem Herrn nicht zu missfallen, oder gar von ihm entlassen zu werden, wird er nicht wagen, dieses zu tun, und wird nicht wagen, jenes zu unterlassen. Und das ist eben die herrschende Theologie unserer Tage, welche die Menschen durch die Furcht vor der Hölle in die Knechtschaft führt. Da heißt es stets: „Wenn du dies oder das tust – wenn du dich sauber und rein hältst, wirst du selig werden, im entgegengesetzten Fall aber ist die Verdammnis dein unausbleibliches Los.“

Aber Gott stellt uns in seinem Evangelium auf einen ganz anderen Boden. Er sagt: „Höre, mein Sohn, ich erwähle dich zu meinem Kind und Erben. Komm nun, und betrage dich, wie es eines Kindes würdig ist.“ – Welch ein Unterschied! Während jener reiche Mann die Erbschaft von der Treue des Knaben abhängig macht, tritt hier der Berufene sofort und ohne Vorbehalt in die Freiheit eines Sohnes und Erben. Er ist „wirklich frei.“ Er kann sagen: „Dies alles ist mein, und es ist nur eine Zeitfrage, wann ich in den vollen Besitz dieser Dinge kommen werde.“ Er kann den Willen seines Vaters mit einem fröhlichen Herzen und einem heiteren Gemüt erfüllen, weil er weiß, dass alles bezüglich seines Erdteils sicher ist. Der Herr sei dafür gepriesen! Unser Erbteil ist sicher und wird für uns im Himmel aufbewahrt. Bemerkst du nicht die große Verschiedenheit zwischen jenem Knaben, welcher, wenn er treu ist, auf das Erbteil hoffen darf, aber, weil alles von seiner Treue abhängt, dessen nie völlig versichert ist, und dem bereits angenommenen Sohn, der, weil er sich seiner Sohnschaft bewusst ist, in dem Gefühl völliger Freiheit wandeln kann? Du siehst, dass es sich nicht um meine Treue und Standhaftigkeit handelt, sondern um das, was Gott getan hat und tut. Denn in mir selbst bin ich total verdorben und habe von Natur durchaus keine Kraft in mir, das Gute zu tun. „Denn ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt.“ – „Ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir. Was ich aber jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich durch Glauben, durch (den Glauben) an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat“ (Gal 2,20). Verherrlicht sei sein teurer Name!

Jetzt nun, als ein neuer Mensch, als ein angenommener Sohn, bewirke ich meine Seligkeit mit Furcht und Zittern; und das, was dieses Zittern hervorbringt, ist nicht, dass ich schließlich verloren zu gehen fürchte, sondern es ist das Gefühl meiner Schwachheit gegenüber den feindlichen Mächten, gegen welche ich zu kämpfen habe, und zwar mit dem Bewusstsein, dass Gott es ist, welcher, um mich – das einstige Kind des Zornes – in seine Herrlichkeit zu bringen, in Gnade mit mir handelt. O wie wunderbar groß ist die Güte und Gnade Gottes! „Wie unausforschlich sind seine Gerichte und unaufspürbar seine Wege!“ Merken wir uns den großen Unterschied! Ich wirke, weil ich gerettet bin, und nicht weil ich nach treuem Wandel gerettet zu werden hoffe; denn dieses würde mein Werk dahinstellen, wo das Werk Gottes allein stehen kann. Wenn es sich handelt um mein Wirken, dann bin ich selbst im besten Fall ein „unnützer Knecht.“ Daher wie lieblich ist es, den Herrn sagen zu hören: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut, sondern ich habe euch Freunde genannt.“ „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr alles tut, was ich euch gebiete.“ Er sagt nicht: „Weil ihr alles tut“, sondern: „Wenn ihr alles tut.“ Wenn wir nicht tun, was Er gebietet, so beweisen wir, dass wir nicht seine Freunde sind. Wir sind nicht seine Freunde, weil wir seine Gebote halten, sondern wir halten seine Gebote, weil wir seine Freunde sind.

Das zweite Kapitel in dem Brief des Jakobus bezieht sich auf denselben Punkt. Dort finden wir eine Klasse von Menschen, die nach ihrem Bekenntnis Anspruch darauf machen, gerettet, mithin Freunde Christi zu sein, während ihr ganzes Verhalten dieses Bekenntnis Lüsten strafte. Sie handelten nicht als Freunde; sie wandelten nicht als gerettete Menschen. Sie mögen sehr religiös gewesen sein, wie es viele in unseren Tagen sind; aber die natürliche Frucht der Annahme war nicht vorhanden. Darum ergeht an sie die Ermahnung: „Also redet und also tut, als die durch das Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen“ (V 13). Und wiederum: „Zeige mir deinen Glauben ohne Werke und ich werde dir meinen Glauben zeigen aus meinen Werken“ (V 18). Euer Mund mag Glauben bekennen; aber eure Werke leugnen ihn. Ich bekenne Glauben, und meine Werke bestätigen ihn. Ihr bekennt euren Glauben ohne einen dazu passenden Wandel, während ich euch meinen Glauben aus meinen Werken zeige. Ich habe nicht Glauben, weil ich Werke habe, sondern ich habe Werke, weil ich Glauben habe. – Geliebte Brüder, merkt ihr diesen Unterschied? Der Glaube ist nicht die Frucht der Werke, sondern die Werke sind die Früchte des Glaubens. Wir wirken nicht, um gerettet zu werden, sondern wir sind gerettet, und darum wirken wir. Möge daher unser Glaube aus der Stellung hervortreten, die Gott aus Gnaden uns angewiesen hat, und möge all unser Wirken es bezeugen, dass wir uns in dieser Stellung befinden!

Erst dann können wir einstimmen in die freudigen Worte: „Seht, welch eine Liebe uns der Vater gegeben, dass wir sollen Gottes Kinder heißen ... und es ist noch nicht offenbart worden, was wir sein werden; wir wissen aber, dass, wenn Er offenbart ist, wir Ihm gleich sein werden; denn wir werden Ihn sehen, wie Er ist“ – erst dann werden wir auch die Worte verstehen: „Ein jeglicher, der diese Hoffnung zu Ihm hat, reinigt sich selbst, gleich wie Er rein ist“ (1. Joh 3,1–3).

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