Botschafter des Heils in Christo 1873

Über christliche Erfahrung

Es gibt vielleicht keinen Gegenstand, über welchen unter den Kindern Gottes eine größere Begriffsverwirrung vorherrscht, als über das, was man „christliche Erfahrung“ nennt. Es ist z. B. durchaus nichts Ungewöhnliches, dass manche Christen die Menge ihrer Zweifel, sowie die Furcht und Ungewissheit in ihrer Seele als notwendige Erscheinungen betrachten und sehr geneigt sind, diejenigen, welche mit Freuden ihre Pfade ziehen, als leichtfertig zu bezeichnen. Es ist daher unser Wunsch, unter der Leitung des Herrn die Grundsätze klar zu stellen, die wir bezüglich dieses Punktes im Wort Gottes finden.

Wir wagen es, kühn zu behaupten, dass die Ursache der Zweifel, der Furcht und Ungewissheit teils in der mangelhaften Erkenntnis des vollkommenen Werkes Christi, teils in dem nachlässigen Wandel der Gläubigen zu suchen ist, indem derselbe entweder den Willen des Herrn nicht kennen zu lernen sucht, um in Unterwürfigkeit folgen zu können, oder falls Er diesen Willen kennt, nicht Folge zu leisten die Neigung hat.

In Bezug auf den ersten Punkt lasst uns folgende Frage zu beantworten suchen: Ist das Evangelium der Gnade Gottes so vollkommen und vollendet, dass eine gläubige Seele mit Vertrauen und Zuversicht sagen darf: „Meine Sünden sind vergeben – ich bin ein Kind Gottes?“ – Gottlob, sie darf es ohne Rückhalt sagen. Betrachten wir diese Sache etwas näher.

Was ist der Mensch von Natur? – Ein Kind des Zornes – ein Feind Gottes – tot in den Vergehungen und Sünden. Das ist nach dem Wort Gottes der Zustand aller vom König bis zum Bettler herab. „Es ist keiner, der gerecht ist.“ – Und wie hat Gott dem Sünder gegenüber gehandelt? In unendlichem Erbarmen, indem Er seinen eingeborenen Sohn sandte, der, um seinen Willen zu tun, von einem Weib geboren wurde und als ein heiliges Kind vor Gott und Menschen wandelte, der als ein gerechter Mensch vom Anfang bis zum Schluss seines Dienstes die Stimme des Beifalls Gottes auf sich hernieder zog, und der als fleckenloses Lamm zur Sünde gemacht und mit den Sünden des Menschen beladen, von Gott verlassen wurde, welcher keine Gemeinschaft mit Sünde haben kann und „dessen Auge zu rein ist, als dass Er die Sünde ansehen könnte.“ Alle Wogen und Fluten Jehovas schlugen über dem Haupt des sterbenden Erlösers zusammen; Er ertrug vollständig den gerechten Zorn Gottes wider alle Sünden, die Ihm zugerechnet und auferlegt wurden. Wir finden dieses in dem Vorbild des lebendigen Bockes (3. Mo 16,21–22) deutlich dargestellt. Er hat „Seine Seele ausgeschüttet in den Tod“ (Jes 53,5–6.12). Er starb für Sünder (Röm 5,8).

Ist nun aber das am Kreuz vergossene Blut Jesu in Gottes Augen von hinreichendem Wert, um den Sünder erlösen zu können? Ist dieses Blut zur Befriedigung der Gerechtigkeit Gottes gänzlich genügend, so dass der Glaubende völlige Vergebung und Reinigung darin finden kann? Gottlob die Auferweckung Jesu liefert uns den Beweis für die Wertschätzung desselben von Seiten Gottes – ja, den sicheren Beweis, dass jede Sünde, für welche Er starb, für immer hinweggetan ist; denn Er, „der um unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist“, hat sich wie jemand, der sein Werk vollendet hat, erst dann „für immer zur Rechten Gottes gesetzt, nachdem Er durch ein Opfer auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden“ (Röm 4,25; 5,21; Heb 10,12–18). Ja, wäre auch nur ein Flecken auf Jesu geblieben, so hätte Er nicht vor Gott bestehen können.

Der Sünder, der durch die Gnade im Glauben zu Jesus Christus gekommen, wird von Seiten Gottes wie jemand betrachtet, dessen Gericht in dem Kreuz Christi vollzogen und der Ihm ebenfalls in der Auferstehung gleichförmig geworden ist. Ein solcher ist fleckenlos und heilig wie Christus fleckenlos und heilig ist (Gal 2,20; Eph 1,4; 2,5–6). Nichts vermag die Kostbarkeit des Blutes zu vermindern, nichts das Kindesverhältnis zu zerstören. Der Geist, wodurch eine lebendig gemachte Seele versiegelt ist, ist der Geist der Kindschaft, in welchem sie Gott als „Abba, Vater“ anruft. Es ist nicht der Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe (2. Tim 1,7). Warum wandeln nun noch so viele Seelen in Dunkelheit und Ungewissheit? –

Wie ernst tadelt der Herr Jesus die Zweifler: „O du Kleingläubiger, warum zweifeltest du?“ – „Sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ – Die Furcht ist die natürliche Folge der Zweifel und ein Hindernis für jeden gesegneten Dienst. „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus, denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe“ (1. Joh 4,18), d. h. er glaubt nicht an die Vollkommenheit der Liebe Gottes. Das aber ist sehr zu beklagen; denn „Gott ist die Liebe.“ Meine Seele ist berufen, nicht in meiner Liebe, die unvollkommen ist, sondern in der vollkommenen Liebe Gottes zu mir zu ruhen. Es ist daher beachtenswert, dass die Ungewissheit in meiner Seele eine Folge meines Ungehorsams ist. Beides ist unzertrennlich; wo Ungewissheit ist, da ist auch Ungehorsam; und nur der Ungehorsam ist es, der den Gläubigen verhindert, sich im Herrn zu freuen.

Wir werden finden, wie sehr deutlich das Wort Gottes uns dieses zu erkennen gibt. Schon die folgenden vier Stellen, wie viele andere auch noch hinzugefügt werden könnten, werden genügen, uns darüber Klarheit zu geben, „Freut euch allezeit“ (1. Thes 5,16). „Freut euch in dem Herrn allezeit! wiederum sage ich: Freut euch!“ (Phil 4,4) „Wenn ihr dieses wisst, glückselig seid ihr, wenn ihr es tut“ (Joh 13,17). „Und dieses ist die Botschaft, die wir von Ihm gehört haben und euch verkündigen: dass Gott Licht ist und ist gar keine Finsternis in Ihm. Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit Ihm haben und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit. Wenn wir aber in dem Licht wandeln, wie Er in dem Licht ist, so haben wir Gemeinschaft mit einander, und das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde“ (1. Joh 1,5–7).

Wenn ich mich nicht allezeit erfreue, so unterlasse ich etwas, das mir zu tun geboten ist. Beachten wir wohl die Ermahnung: „Freut euch in dem Herrn!“ Es ist in mir selbst Nichts vorhanden, wodurch diese Freude hervorgerufen werden könnte. Viele Gläubige suchen in sich diese Freude; und indem sie ein zunehmendes Maß vom Bösen (ich sage, ein zunehmendes Maß, weil, je klarer das Licht scheint, desto deutlicher die Sünde hervortritt) in sich wahrnehmen, sind sie beunruhigt. Wenn sie das, was Gott über das Fleisch ausgesprochen, völlig geglaubt hätten (Joh 6,63), so würden sie nichts anders erwarten, als dass bei der Zunahme des Lichts die verborgene Gottlosigkeit mehr und mehr sich zu erkennen geben werde. Der Heilige Geist verbessert nicht die alte adamitische Natur; Er macht sie zu nichts. Es ist die neue Natur, in welcher und durch welche Er allein wirken kann. Jeder Gedanke der alten Natur muss in „Unterwürfigkeit“ gebracht werden (Siehe Röm 8,13; 2. Kor 10,5). Hieraus geht klar hervor, dass, wenn der Christ aufgefordert ist, sich „allezeit zu freuen“, dieses nicht in ihm selbst oder in äußeren Dingen oder Umständen geschehen kann, sondern es heißt: „Freut euch in dem Herrn allezeit!“ Und was ist der Grund? – Sowohl für den Sünder, als auch für den Gläubigen ist alle Fülle in Jesu. Als das Lamm Gottes vergoss Er sein Blut, damit die Sünden vergeben werden möchten; als der Hohepriester ist Er jetzt droben der Repräsentant seines Volkes und hat Mitleiden mit den Schwachheiten der Seinen; als der Bräutigam seiner Kirche wird Er bald wiederkommen, um sie zum Beweise, wie teuer sie seinem Herzen ist, zu sich zu nehmen und seinen Thron und seine Herrlichkeit mit ihr zu teilen; als der Erstgeborene vieler Brüder wird Er die Seinen zu ihrem Gott und Vater bringen und sie leiten in ihrem Lobgesang. „Freut euch in dem Herrn allezeit.“

„Aber“ – wird vielleicht irgendjemand einwenden – „mir fehlt, wie gern ich diesem allem auch nachkommen möchte, die Kraft, dieses tun zu können.“ – Nun – möchten wir antworten – fordert denn Gott irgendetwas von uns, wozu Er uns nicht die nötige Kraft verleiht? – „Aber gerade diese Kraft mangelt mir“, ruft jener aus. – Mein christlicher Leser, wie sehr sind doch unsere Herzen stets geneigt, jeden Einwand zu ergreifen, um doch alle Schuld auf Gott zu werfen! Es ist sehr demütigend, und das Fleisch sträubt sich, dieses anzuerkennen, dass jeder Schatten von Dunkelheit und Ungewissheit seinen Grund in uns selbst hat. Aber die von Gott an seine Kinder gesandte Wahrheit, dass „Gott. Licht und keine Finsternis in Ihm ist“, bleibt unverändert, wie gern das Fleisch dieses auch leugnen möchte. „Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit Gott haben und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit.“ Es ist wohl zu beachten, dass nicht gesagt wird: „Wir kennen nicht die Wahrheit“, sondern es heißt: „Wir tun nicht die Wahrheit!“ Und dies erinnert uns mit Macht an das bereits angeführte Wort Jesu: „Wenn ihr dieses wisst, glückselig seid ihr, wenn ihr es tut.“ Warum mangelt daher so oft bei dem einen oder dem anderen die Freude des Herzens? Es ist nicht schwer, die richtige Antwort zu finden; – er „tut nicht die Wahrheit.“ Man beachte wohl, von wem Gott etwas zu tun begehrt; – gewiss nicht von dem Sünder. Vor diesem entfalte man das Evangelium der Gnade Gottes, das vollendete Werk Christi und den in der Auferstehung erwiesenen vollen Wert des Blutes Christi; aber das in der Familie Gottes aufgenommene Kind ermahne man zum Gehorsam, diesem einzigen Wege zur Freude; denn wenn es den erkannten Willen Gottes nicht tut, so kann es sich nicht freuen.

Ach, wie oft findet man einen solchen freudelosen Zustand selbst bei denen, die Lehrer sein wollen! Wenn der, welcher das Hirtenamt versieht, der Herde eine Nahrung vorsetzt, die der Erzhirte für sie nicht bestimmt hat, ist es da ein Wunder, wenn die Schafe nur ein höchst kümmerliches Dasein fristen? Verantwortlichkeit ruht auf allen. „Schändlicher Gewinn“ oder ein Trachten nach Selbsterhöhung (1. Pet 5,2–4) mögen die Triebfedern sein, oder Christus mag „aus Neid und Streit“ (Phil 1,15) verkündigt werden, – in jedem Fall ladet ein Lehrer in diesem Sinn ein schweres Urteil auf sich, während an den Hörer die ernste Ermahnung ergeht: „Habt Acht auf das, was und wie ihr hört; denn das Wort, welches“ – wie der Herr sagt – euch „richten wird am letzten Tag“, soll euch jetzt zum Prüfstein von allem dienen, was gesprochen und getan wird; und wenn ihr die Wahrheit hört, so seht zu, dass ihr euch derselben unterwerft, denn dann wird sie Früchte bringen zur Verherrlichung Gottes. Es kann sicher nicht stark genug betont werden, dass die Verherrlichung Gottes und die Freude des Gläubigen zwei unzertrennliche Dinge sind; wer jene vernachlässigt, verliert auch diese. „Wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht sein.“

Es ist bereits gesagt worden, dass jemand gleichgültig und mithin in Finsternis wandeln kann, weil er nicht den offenbarten Willen Gottes kennen zu lernen trachtet, oder weil, wenn er denselben erkennt, nicht unterwürfig ist. Gott hat z. B. die Seelen lebendig gemacht und ihnen den Geist der Kindschaft gegeben, um rufen zu können: „Abba, Vater!“ Aber seine grenzenlose Fürsorge hat nicht aufgehört, für sie tätig zu sein, sondern hat ihnen, hinsichtlich ihres Zusammenkommens und ihrer gemeinschaftlichen Auferbauung, durchaus notwendige Verhaltungsregeln gegeben. Wenn nun aber ein Kind Gottes in diesem Punkt bezüglich des Willens seines Vaters gleichgültig ist, oder, obgleich es diesen Willen kennt, dennoch seine eigenen Wege geht, wie kann es da erwarten, „erfüllt mit Freude“ und voll Licht zu sein? Der eigene Wille in einem Gläubigen bringt stets bittere Früchte, während die Unterwürfigkeit unter den Willen Gottes in allen Dingen der einzige, wahrhaft richtige Weg zur Freude und zum Glück ist (Man lese 2. Pet 1,5–9). Abraham, der in gläubigem Gehorsam seine Verwandtschaft und sein väterliches Haus verließ und sich der Gemeinschaft Gottes erfreute, wurde der „Freund Gottes“ genannt und empfing, da ihm der Herr seinen Willen offenbarte, eine Erkenntnis von dem, was Gott zu tun beabsichtigte. – Lot hingegen, ebenfalls ausgegangen aus dem Vaterhaus, suchte hernach seine Bequemlichkeit in Sodom, weilte dort wissentlich in der Mitte der Gottlosen, quälte täglich seine gerechte Seele mit den ihn umgebenden Werken der Finsternis und wusste nichts von dem herannahenden Gericht; obwohl er gerettet wurde, wie alle Kinder Gottes gerettet werden (Joh 10,28), doch – wie durch Feuer (1. Kor 3,15). Befinden wir uns nun in der glücklichen Lage Abrahams oder in dem unglücklichen Zustand Lots? Man frage – um auf das oben angeführte Beispiel zurück zu kommen – die Christen, welche irgendeiner größeren oder kleineren Partei angehören, zu welchem Zweck sie sich eigentlich versammeln, und wir sind gewiss, dass sie außer Stand sein werden, eine schriftgemäße Antwort geben zu können. Wie viele von ihnen gehen vielleicht da und dorthin, um diesen oder jenen Prediger zu hören! Aber obwohl dieses an und für sich nichts Böses ist, so ist es doch weder ein „gemeinschaftliches Auferbauen in Liebe“, noch Anbetung oder Gottesdienst, wo jedes Glied einen verantwortlichen Platz einnimmt, weil der Leib nicht aus einem Glieds, sondern aus vielen Gliedern besteht (1. Kor 12). Ach, wie wenig wird der durch die Schrift bezeichnete Zweck des Zusammenkommens erkannt. Und dieses beweist nur zu deutlich, dass es einer großen Zahl von Christen nicht darum zu tun ist, den Willen des Herrn in dieser Beziehung kennen zu lernen.

Sicher betrachtet der Herr Jesus unser Zusammenkommen nicht als eine Angelegenheit, über welche wir nach unserem Gutdünken zu beschließen haben. „Dieses tut zu meinem Gedächtnis!“ war sein Gebot, als Er in der Nacht, da Er verraten ward, mit den Seinen das Brot brach und den Kelch teilte; und dieses war es, was sie als ein Leib zu tun hatten, um, da sie alle durch dasselbe Blut erlöst und mit demselben Geist erfüllt waren, ihrer Einheit Ausdruck zu geben (1. Kor 10,16–17). Und nach diesem Gebot kamen die Jünger am Abend des ersten Tages der Woche – des Auferstehungstages (nicht am siebenten Tage, am jüdischen Sabbat (siehe Kol 2,16)) zusammen, um das Brot zu brechen (Apg 20,7). Und in einer solchen Versammlung sollte Gelegenheit gegeben werden, um jene Gaben auszuüben, die der Herr, als das Haupt der Versammlung, zur Auferbauung des Leibes gegeben hatte (Eph 4,7–16; Röm 12,4–9; 1. Kor 12,4–7). 1 Christus, unser Aufseher und Hirte (1. Pet 2,25), teilt nach seiner Weisheit diese Gaben aus und ist der Einzige, der jemanden durch seinen Geist zu irgendeinem Dienst berufen kann. Eine so genannte Ordination, wie sie jetzt von Menschen geschieht, ist, um gelinde zu sprechen, bloße Nachahmung, eine „Form ohne Kraft.“ Durch die Auslegung der Hände von Seiten der Apostel wurde irgendeine besondere Gabe mitgeteilt. Wenn nun aber die römischen Bischöfe dieses zu tun sich anmaßen, so ist das sicher eine wirkungslose Handlung, zu der sie keineswegs berechtigt sind. Das Vorgeben auf diesem Weg eine apostolische Amtsfolge aufrechterhalten zu wollen, ist eine Erfindung, wodurch Satan in den Stand gesetzt wird, seine eigenen Diener unter dem Schein der Gottseligkeit zu Ämtern und Würben zu bringen (2. Kor 11,13–15). Paulus befahl bei seinem Abschied die Ältesten der Versammlung zu Ephesus nicht irgendeinem seiner Nachfolger, sondern sagte: „Und nun befehle ich euch Gott und dem Wort seiner Gnade, welches vermag aufzuerbauen“ (Apg 20,32; siehe auch 2. Tim 3,16–17). Gott, der durch die Apostel seine Ratschlüsse vollkommen offenbart und durch Johannes, als den letzten derselben, seine Offenbarungen geschlossen hat, hat niemanden zum Nachfolger derselben bestimmt. War Paulus dazu autorisiert, sich einen Nachfolger zu wählen? Keineswegs. Wer gibt denn jetzt einem Bischof oder einem Konsistorium das Recht, jemanden ordinieren zu können?

Wenn man in der dritten Brief des Johannes die Worte liest: „Ich schrieb etwas an die Versammlung, aber Diotrephes, der gern unter ihnen der Erste sein will, nimmt uns nicht an“ (V 9), so findet man einen Zustand, dem wir in unseren Tagen fast überall begegnen Es ist in der Tat die Gnade Gottes, welche es zuließ, dass wir alle diese Nebel, welche sich in der letzten Zeit in einer erschreckenden Größe zeigen, schon in den Tagen der Apostel finden, indem uns dadurch die Ermahnungen der Apostel als Warnungen und zur Richtschnur dienen können. Und welche Ermahnung gibt uns jetzt der Apostel? Sagt er vielleicht, wie so mancher in unseren Tagen es tut: „Man darf nicht irgendeine Kirchenpartei verlassen, wiewohl viel Böses darin gestattet wird?“ Im Gegenteil. „Seid nicht Nachahmer des Bösen, sondern des Guten!“ Wie ernst und entschieden sind die Worte des Apostels, wenn er sagt: „In den letzten Tagen werden schwere Zeiten kommen: denn die Menschen werden sein eigenliebig ...; die die Form der Gottseligkeit haben, aber ihre Kraft verleugnen; und von diesen wende dich weg“ (2. Tim 3,1–5). „Wende dich ab vom Bösen und tue Gutes.“

Wenn man nun in diesen Dingen ungehorsam ist, wie kann man dann freudige Erfahrungen erwarten? wie kann man sich dann freuen im Heiligen Geist, wozu uns das Wort Gottes auffordert? Der Heilige Geist ist die einzige Kraft der Freude; – betrübt Ihn, und mit eurer Freude ist es vorbei! Es ist wahr, die Gläubigen sind – mögen sie ihre Vorrechte erkennen oder nicht – für immer gerettet; sie sind Gottes Kinder, Miterben Christi, der Tempel des Heiligen Geistes; aber sie können unwürdig, im Ungehorsam wandeln (1. Thes 2,12), sie können den Heiligen Geist betrüben (Eph 4,30) und sich des Genusses einer glücklichen Gemeinschaft mit Gott berauben.

Einer kirchlichen Partei oder Sekte anzugehören, wird von dem Heiligen Geist, der alle Gläubigen zu einem Leib getauft hat, verurteilt, und ist das Mittel, um der wahren Freude den Eingang im Herzen zu verwehren. „Dieses gebiete ich euch, dass ihr euch einander liebt“ (Joh 15,17) sagt der Herr Jesus; und der Heilige Geist wiederholt diese Ermahnung durch die ganze Heilige Schrift. „Liebt einander mit Inbrunst aus reinem Herzen“ (Man lese mit Aufmerksamkeit 1. Kor 1,12–13; 3,4–5; Heb 10,24–25; 2. Kor 6,14; Joh 15,11–12; 1. Joh 3,10–21; 1. Pet 1,22–23). Nur durch den Glauben an Christus Jesus, durch welchen ich gerettet bin, bin ich auch zur Gemeinschaft der Heiligen berechtigt; wenn eine der Kirchengemeinschaften mehr oder weniger fordert, so sind das menschliche Einsetzungen und nicht Anordnungen Gottes. Dagegen ist die Zucht in der Versammlung zur Aufrechterhaltung der Wahrheit und der Heiligkeit erforderlich (1. Kor 5; 1. Tim 1,19–20).

Wie aber kann man freudige Erfahrungen machen in den Stunden schwerer Prüfungen? – Die Prüfung des Glaubens ist nicht von Furcht, sondern von Freude begleitet und offenbart den Zustand der Seele. „Als Traurige, aber allezeit uns freuend“ (2. Kor 6,10). „Die ihr jetzt eine kleine Weile, wenn es nötig ist, traurig seid durch mannigfache Versuchungen; damit die Bewährung eures Glaubens viel köstlicher als die des Goldes (das vergeht, aber durch Feuer erprobt wird) erfunden werde zu Lob und Herrlichkeit und Ehre Gottes in der Offenbarung Jesu Christi, welchen ihr, obgleich ihr Ihn nicht gesehen, liebt; an welchen glaubend, obgleich ihr Ihn jetzt nicht seht, ihr mit unaussprechlicher Freude frohlockt, indem ihr das Ende eures Glaubens, die Errettung der Seelen, davontragt“ (1. Pet 1,6–9). „Geliebte, lasst euch das Feuer der Verfolgung unter euch, das euch zur Versuchung geschieht, nicht befremden, als begegne euch etwas Fremdes, sondern sowie ihr der Leiden des Christus teilhaftig seid, freut euch, auf dass ihr auch in der Offenbarung seiner Herrlichkeit mit Frohlocken euch freut“ (1. Pet 4,12–13). Wir sind sicher in Gefahr, in den Trübsalen, gleich Hiob und Jonas, zu ermatten; aber nichtsdestoweniger leitet Gott alle Dinge für uns zum Guten und sollte daher von unserer Seite, anstatt Ihn durch unsere Zweifel zu verunehren, stets gepriesen werden.

Die Wüste, durch welche wir eine kurze Zeit pilgern, hat ihre Dornen und rauen Pfads, wie auch ihre reißenden Tiere; aber wir sind von Ägypten erlöst und wandeln himmelwärts zu unserer ewigen Ruhe. Gott aber ist für und mit uns; warum sollten wir uns nun fürchten? Nichts anderes kann unsere Freude trüben, als eine weltliche Gesinnung, oder eine Rückkehr des Herzens nach Ägypten, wovon wir durch den Glauben erlöst sind (Gal 1,4), oder schließlich ein Misstrauen gegen den Herrn, der so vieles und Großes an uns getan hat. Möge Er doch unseren Glauben vermehren! O mein christlicher Leser, betrachte doch das vollbrachte Werk, die gegenwärtige Liebe und die verheißene Herrlichkeit, und richte dann die Frage an deine Seele, ob du der Welt, die Ihn kreuzigte, gleichförmig sein darfst (1. Kor 10,6; Heb 10,37; 1. Joh 2,15–16; Joh 15,18–21; Röm 12,2; Gal 6,14).

In dem Maß, wie wir treu und aufrichtig sind, wird auch unsere Freude zunehmen in der Hoffnung der Herrlichkeit bei der Wiederkunft Christi. Die Gläubigen unserer Tage sind meistens der Welt so sehr gleichförmig geworden, dass sie vergessen haben, auf ihren Herrn zu warten und sich in Bereitschaft zu halten, um Ihm entgegengehen zu können. Und wie nahe ist seine Ankunft (Siehe Mt 34,43; 35,13; Joh 14,3; Apg 1,11; 1. Kor 1,7; Phil 3,20–21; 1. Thes 1,9–10; 4,15–18; Tit 2,13–14; Heb 9,38; Jak 5,7–8; 1. Pet 1,7–13; 1. Joh 3,2–3; Röm 8,34; Off 1,7; 22,20)! Die Wiederkunft Christi für seine Heiligen und mit seinen Heiligen sind zwei ganz verschiedene Momente; Letztere steht in Verbindung mit dem Gericht der Gottlosen (2. Thes 1,7–10; Jud 1,14–16). Aber ein Gläubiger kann – obwohl er, von der Welt getrennt, sich mit Brüdern zur Gemeinschaft versammelt, wo dieselben, nach der empfangenen Gabe eines jeglichen, sich unter einander in Liebe auferbauen, oder, als Christi Leib, am Tisch des Herrn in der Erwartung seiner baldigen Wiederkunft seinen Tod verkündigen – als Einzelner den Heiligen Geist betrüben, indem er sein Gewissen verunreinigt. Paulus war daher stets bemüht, „allezeit ein Gewissen ohne Anstoß vor Gott und Menschen zu haben;“ und dieses soll auch bei uns der Fall sein. Und dieses ist von großer Bedeutung in Bezug auf unsere äußere Stellung und unseren äußeren Beruf (Eph 4,28), sowie in Bezug auf die Hingabe an die Fürsorge Gottes hinsichtlich dessen, was unsere äußeren Bedürfnisse betrifft (Phil 4,11).

Wenn ich gegen Gott allein gesündigt habe, so habe ich auch vor Gott allein zu bekennen; habe ich hingegen gegen Menschen und Gott gesündigt, so habe ich auch vor Menschen und Gott mein Bekenntnis abzulegen. Die Gnade unseres Gottes und Vaters ist in solchen Umständen besonders köstlich und das Blut Jesu von unendlichem Wert; auf der Grundlage dieser durch das Blut der Versöhnung bewirkten Gnade kann die Wiederherstellung eines fehlenden, aber gebeugten Kindes zu seinen herrlichen Vorrechten stets geschehen (Jak 5,16; 1. Joh 1,9).

Wir finden dieses in der herrlichsten Weise im 3. Buch Mose dargestellt, wo Gott mit Israel, nachdem es unter dem Gesetz gefehlt hatte, in Gnade handelte. Das Opfer am großen Versöhnungstag befähigte das Volk, nachdem das Blut an und vor den Gnadenstuhl gesprengt worden war, den Platz von Anbetern wieder einnehmen, d. h. ihren Gottesdienst halten zu können; und es war wieder dessen glückseliges Vorrecht, seine Brandopfer, Speisopfer und Friedensopfer darbringen zu dürfen, von welchen allen gesagt ist, dass sie „ein süßer Wohlgeruch dem Jehova waren“ (3. Mo 1,9). Hatte sich jemand durch Ungehorsam dieses Vorrechts beraubt, so war zu seiner Wiederherstellung von Seiten Gottes Vorsorge getroffen. Es musste ein Sündopfer dargebracht werden (3. Mo 5); und nachdem, der Schuldige seine Sünden bekannt hatte, war er wieder in den Stand gesetzt, als Anbeter an dem Gottesdienst Teil nehmen zu können. Im 4. Buch Mose finden wir dieses noch ausführlicher (Kap 19). Die „rote Kuh“ wurde als ein Sündopfer „außerhalb des Lagers“ verbrannt und die mit Wasser vermischte Asche auf den Israeliten gesprengt, der sich verunreinigt hatte, und auf diese Weise die Reinigung von der Sünde bewirkt. Die Gläubigen bedürfen es, dass „ihre Herzen besprengt“ und sie „also gereinigt sind vom bösen Gewissen“ (Heb 10,22); denn das vergossene Blut heiligt, und das gesprengte Blut reinigt (Heb 13,12; 1. Pet 1,2). Es ist daher klar, dass es nur eine Geringschätzung der gnädigen Anordnung Gottes von unserer Seite ist, die uns aus seiner glückseligen Gemeinschaft fernhält, während Er uns so gern in seiner nächsten Nähe haben möchte.

Ich füge hier nur noch einige Bemerkungen über die Psalmen hinzu, weil diejenigen, welche ihre trüben Erfahrungen zu verteidigen trachten, sich häufig Auf dieselben berufen. Die Psalmen sind, genau genommen, nicht die Erfahrungen eines Christen; sie tragen vielmehr, mögen sie der Vergangenheit oder der Zukunft angehören, einen durchaus jüdischen Charakter. Beachten wir es, was der Herr Jesus in Lukas 24,44–45 zu seinen Jüngern sagte. Während wir die Evangelien als die Urkunde alles dessen, was „Jesus begann zu tun und zu lehren“, zu betrachten haben, finden wir in vielen Psalmen die Erfahrungen seiner Seele. Gekommen in die Welt, um den Willen seines Vaters zu tun, hören wir Ihn als den Sündenträger sagen: „Denn Nebel bis zur Unzahl haben mich umgeben; meine Ungerechtigkeiten haben mich erreicht, dass ich nicht sehen kann;“ (Ps 40,7.12) und wiederum: „Mein Gott, mein Gott! warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,1; Mt 27,46) „Ihn, der Sünde nicht kannte, hat Gott für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm“ (2. Kor 5,21). Gott wandte sein Angesicht von Ihm ab, damit es nimmer nötig sei, es vor uns zu verbergen. Ebenso hören wir Ihn in den Psalmen als den Auferstandenen sagen: „Er sandte aus der Höhe; Er nahm mich; Er zog mich aus großen Wassern; Er befreite mich von meinem starken Feind“ (Ps 18,16–17). Als der Gerechte ruft Er: „Jehova vergalt mir nach meiner Gerechtigkeit; nach der Reinheit meiner Hände lohnte Er mir“ (Ps 18,20). Als den Propheten finden wir Ihn in Psalm 18,37–50; 35,9–10; als den Priester in Psalm 60; und als den König, der in Gerechtigkeit regiert und während seiner Regierung die Fülle der Segnungen unter den Juden und Nationen ausströmen lässt, in Jesaja 9,7; Lukas 1,32–33, sowie in den Ps 96–98 und anderen Stellen.

Es ist daher sicher verkehrt, wenn ein Gläubiger für seine trüben Erfahrungen in den Psalmen einen Grund sucht. Gott spricht: „Wer Lob opfert, der verherrlicht mich;“ (Ps 50,23) und im Hebräerbrief werden wir ermahnt: „Durch Ihn nun lasst uns Gott stets das Schlachtopfer des Lobes darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen“ (Heb 13,15). So hat der Gott aller Gnade vollkommene Vorsorge getroffen, um eine ungestörte Freude in unseren Herzen wohnen zu lassen; und nur unser eigener Ungehorsam verhindert uns, die Freude völlig zu genießen.

„So denn, meine geliebten und ersehnten Brüder, meine Freude und Krone, steht also fest in dem Herrn, Geliebte. Ich ermahne – gleich gesinnt zu sein in dem Herrn ... Freut euch in dem Herrn allezeit! wiederum sage ich: Freut euch! Lasst eure Gelindigkeit kund werden allen Menschen; der Herr ist nahe. Seid um nichts besorgt, sondern in allem lasst durch Gebet und Flehen mit Danksagung eure Bitten vor Gott kundwerden; und der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt, wird eure Herzen und eure Sinne bewahren in Christus Jesus“ (Phil 4,1–7).

Fußnoten

  • 1 Eine Bemerkung über den Wirkungskreis dessen, der das Evangelium verkündigt, wird, da darüber große Verwirrung in vielen Gemütern besteht, hier am Platz sein. Der Wirkungskreis desselben ist die Welt. „Geht hin in alle Welt und lehrt alle Völker.“ – Der Wirkungskreis des Hirten und des Lehrers ist die Versammlung. „Hütet die Herde Gottes“ (1. Pet 5,2; Apg 20,28). Wohl hat der Herr angeordnet, dass die, welche das Evangelium verkündigen, sich auch vom Evangelium nähren, und die, welche die Herde hüten, von der Versammlung, wenn sie es bedürfen, unterstützt werden sollen; aber ein bestimmter Gehalt ist ebenso schriftwidrig, wie die Hebung von Zehnten und Kirchensteuern alles sollte willig und nicht mit Verdruss oder aus Zwang geschehen; denn Gott liebt den fröhlichen Geber (1. Kor 9,14; 2. Kor 9).
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