Botschafter des Heils in Christo 1873

Leben und Freiheit

Es gibt viele göttlich lebendig gemachte Seelen, welche es sehr bedürfen, die Kraft der gebietenden Worte: „Löst ihn auf und lasst ihn gehen!“ kennen zu lernen. Sie sind durch das lebendig machende Wort des Sohnes Gottes dem Zustand des Todes entrissen; aber sie kommen heraus, „an Händen und Füßen mit Grabtüchern gebunden“, und ihr Gesicht „mit einem Schweißtuch umbunden.“ sind, mit anderen Worten, noch nicht fähig geworden, die Fesseln ihres früheren Zustandes abzuschütteln und sich auf ihrem Weg in der Freiheit zu bewegen, womit Christus sein Volk freigemacht hat. Dass sie göttliches Leben empfangen haben, geht deutlich aus den Verlegenheiten, Anstrengungen und Kämpfen hervor, über die sie beständig klagen. Die welche noch „tot in den Sünden und Vergehungen“ sind, wissen von dergleichen nichts. Solange Lazarus von der eisigen Hand des Todes erfasst, in dem schweigenden Grab lag, fühlte er keineswegs, dass die Grabtücher seine Bewegungen hinderten und dass das Schweißtuch den Blick seines Auges hemmte. Alles an ihm und um ihn her war finster, kalt und leblos; und die Grabtücher waren die angemessenen Zierden eines solchen Zustandes. Ein Mensch, dessen Hände und Füße von den Fesseln des Todes umklammert waren, konnte unmöglich die Grabtücher lästig und beschwerlich finden; und jemand, dessen geschossene Augen durch die strenge Hand des Todes versiegelt waren, vermochte nimmer die Beschwerlichkeit eines Schweißtuches zu fühlen.

Ebenso verhält es sich mit unbekehrten, nicht wiedergeborenen Seelen. Sie sind „tot“ moralisch, geistlich „tot.“ Ihre Füße sind umklammert von den Fesseln des Todes; aber sie wissen es nicht. Ihre Hände sind in die Handschellen des Todes eingezwängt; aber sie fühlen es nicht. Ihre Augen sind mit dem Schweißtuch des Todes verhüllt; aber sie merken es nicht. Sie sind tot. Die Gewänder des Todes umringen sie – die Grabtücher bedecken sie – alles ist ihrem Zustand angemessen.

Aber die Seelen, für welche ich diese Zeilen niederschreibe, sind auf diese oder jene Weise, durch die mächtige, lebendig machende Stimme des Sohnes Gottes – durch Ihn, der das „Leben und die Auferstehung“ ist – aufgeweckt und in Bewegung gesetzt. Durch irgendeine Schriftstelle, oder durch eine Predigt, durch einen Traktat, durch ein Lied, durch ein Gebet, oder durch ein stattgehabtes Ereignis ist ihr Ohr geöffnet worden, um eine Leben gebende Stimme zu vernehmen. Diese Stimme ist in ihr Herz gefallen und bis in dessen Tiefen eingedrungen. Sie sind aufgeweckt, sie wissen nicht wie. Sie sind erwacht, sie wissen nicht warum. „Der Wind weht, wo er will; und du hörst sein Sausen; aber du weißt nicht, woher er kommt, und wohin er geht; also ist jeglicher, der aus dem Geist geboren ist“ (Joh 3,8). Das Leben ist vorhanden, und alles ist Wirklichkeit. Die neue Geburt hat stattgefunden. Die neue Natur ist mitgeteilt worden. Die, welche ihnen zur Seite stehen, und welche wissen, was das Leben ist, gewähren die Bewegungen, Kämpfe, Anstrengungen und Wirkungen des Lebens, aber sie erkennen auch, dass die Grabtücher und das Schweißtuch noch vorhanden sind. Ich glaube, dass es viele lebendig gemachte, wiedergeborene Seelen gibt, die sich in diesem Zustand befinden, und die weder die mit ihrer Geburt verknüpften Vorrechte, noch die Quelle und den Zweck des ihnen mitgeteilten Lebens kennen. Mit einem Wort, sie bedürfen es, dass dieselbe Stimme, welche bereits gesagt hat: „Lazarus, komm heraus!“ auch noch die Worte hinzufüge: „Löst ihn auf und lasst ihn gehen!“ Sie sind lebendig gemacht worden; sie müssen noch freigemacht werden.

Lasst uns ein Beispiel aus dem Wort Gottes wählen. Der verlorene Sohn war lebendig gemacht, ehe er befreit wurde. „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen“, war die Äußerung des neuen Lebens – der Hauch der neuen Natur. Als er diese Worte sprach, war er voll von Zweifeln und Ungewissheit bezüglich der Art und Weise, wie ihn der Vater empfangen würde. Die Gesetzlichkeit füllte sein Herz; seine Gedanken beschäftigten sich mit der Knechtschaft und keineswegs mit der Sohnschaft. Das neue Leben war vorhanden, aber noch verbunden mit den Zweifeln und Befürchtungen seines Innern; die Lumpen seines früheren Zustandes lagen noch auf ihm. Er war aufgerüttelt worden durch eine Leben gebende Stimme; aber er bedurfte noch in Freiheit gesetzt zu werden. Die ihm mitgeteilte neue Natur bewegte sich der Quelle entgegen, welcher sie ihren Ursprung verdankte; aber ihre Bewegungen waren gleichsam gehemmt durch die Grabtücher, und ihr Blick gehindert durch das Schweißtuch.

Wer würde nun die widernatürliche Idee aufrechterhalten wollen, dass der verlorene Sohn in seinen Lumpen hätte bleiben, dass er in seinen Zweifeln, in seinen Ängsten und in seiner Ungewissheit hätte verharren müssen? Wer würde es zu behaupten wagen, dass Lazarus für den Rest seiner Tage seine Grabtücher und sein Schweißtuch hätte tragen sollen, um zu beweisen, dass er ein lebendiger Mensch sei? Es wird uns gezeigt, dass die Umarmung des Vaters alle Befürchtungen des verlorenen Sohnes zerstreute; denn wie konnte er sich noch fürchten in den Armen der väterlichen Liebe? War es nicht der Vater selbst, welcher gebot, die Lumpen mit dem „vornehmsten Kleid“ zu vertauschen? Und was Lazarus betrifft, so muss es nachdrücklich hervorgehoben werden, dass dieselbe Stimme, welche ihn belebt und auferweckt hatte, ihn zu lösen und gehen zu lassen gebot. Und verhält es sich nicht ebenso in Bezug auf jemanden, welcher durch Glauben an den Namen des Sohnes Gottes ein neues Leben empfangen hat? Ja, in der Tat, ein solcher wird nicht länger die Lumpen des „fernen Landes“, die Zierden des Grabes, zu tragen haben. Seine Hände und seine Füße werden gelöst sein, so dass er seinem Herrn und Heiland dienen und in den Pfaden seiner Gebote wandeln kann. Sein Antlitz wird unverhüllt, das Schweißtuch entfernt worden sein, so dass er seine Augen auf Ihn heften kann, dessen mächtige Stimme ihn ins Leben gerufen hat.

Erinnern wir uns stets daran, dass es dieselbe Stimme ist, welche lebendig macht und befreit, welche das Leben und welche die Freiheit gibt, welche uns von der Herrschaft des Todes erlöst und uns in die Freiheit des Lebens hineinführt. Es ist nötig, dieses zu erkennen. Das Leben und die Freiheit sind mit einander verbunden, als kommend aus einer und derselben Quelle. Das Leben, welches der Gläubige besitzt, ist nicht das verbesserte Leben des alten Adams, sondern das mitgeteilte Leben des neuen Adams; und die Freiheit, in welcher der Gläubige wandelt, ist nicht eine Freiheit für den alten Menschen, um seine schrecklichen Lüste zu befriedigen, sondern eine Freiheit für den neuen Menschen, um in die heiligen Fußstapfen Christi zu treten und mit Gott zu wandeln. Auf welchem Weg erlangt er dieses Leben und diese Freiheit? Durch das Wort Gottes, empfangen mittelst des Glaubens durch die Kraft des Heiligen Geistes. Dieselbe Stimme, welche den Lazarus lebendig machte, gibt auch der Seele das Leben. Und wo lässt sich diese Stimme vernehmen? – In dem Wort der Wahrheit des Evangeliums. Die Seele, welche an den Namen des Sohnes Gottes glaubt, hat das neue Leben empfangen. Welches Leben? – das Auferstehungsleben Christi. Das einfache Wort des Evangeliums ist der Samen, welcher dieses neue Leben hervorbringt. Und welche Erklärung gibt uns das Evangelium, diese frohe Botschaft? – Wir vernehmen hier, dass Jesus Christus gestorben und wieder auferstanden, dass Er ein Opfer für die Sünde geworden, dass Er gen Himmel aufgefahren ist, dass Er uns durch sein Blut von unseren Sünden gereinigt hat, dass Er jedem Widersacher, jeder Forderung, jedem Bedürfnis begegnet, dass die Gerechtigkeit befriedigt, unser Gewissen beruhigt und der Feind vernichtet ist. Dieses gibt Leben und Freiheit – neues Leben und göttliche Freiheit. Es führt die Seele heraus aus der alten Schöpfung und ihrem Zubehör, und führt sie ein in die neue Schöpfung und in all ihre Vorrechte, Freuden und Herrlichkeit. Der Tod Christi befreit den Gläubigen aus dem Zustand des alten Adams, in welchen er geboren war, und die Auferstehung Christi führt ihn ein in den Zustand des neuen Adam, in welchen er wieder geboren ist.

Alles dieses ist eine Frucht des Wortes Gottes – der Stimme Christi – der Wirkung des Heiligen Geistes. Menschliche Anstrengungen sind dabei gänzlich ausgeschlossen der tote Körper des Lazarus wurde belebt durch die mächtige Stimme Christi. Das eine ist von dem Menschen so unabhängig, wie das andere. Sowohl die lebendig machende Kraft für den Leib, als auch die für die Seelen liegt in der „Stimme des Sohnes Gottes“ (Siehe Joh 5,25; vgl. mit den Versen 28–29). Dieses nimmt allen Ruhm aus der Hand des Menschen und legt ihn, wie sich es geziemt, in die Hand des Sohnes Gottes. Ja, Ihm gebührt alle Ehre, gelobt sei sein Name in alle Ewigkeit!

O wie sehr wünsche ich, dass diese Wahrheit tief eindringen möge in die Herzen solcher Leser, die über ihre Stellung in Christus noch nicht die durchaus nötige Klarheit haben! Denn gerade solchen Seelen, welche lebendig gemacht, aber noch nicht befreit sind, sind diese Zeilen gewidmet. Es gibt viele, welche sich in dem Zustand des verlorenen Sohnes befinden, als er sich auf dem Weg zum Vaterhaus, aber sich noch nicht in den Armen seines Vaters befand. Ich wünsche von Herzen, dass sie in die volle Freiheit eingehen möchten. Ich wünsche, dass sie es mit ganzer Seele erfassen möchten, dass das ganze Werk vollendet, das Opfer vollbracht, das Lösegeld bezahlt ist. Sie haben keinen Schritt zu tun, kein Werk zu verrichten, um Frieden zu schaffen; denn Christus hat Frieden gemacht. Gott ist völlig zufrieden gestellt. Der Heilige Geist gibt Zeugnis davon. Das Wort Gottes gibt die deutlichsten Aufschlüsse darüber. Wo gibt es nun noch Grund für irgendeinen Zweifel? In dir selbst, mein Leser, nicht wahr? Aber, mein teurer Freund, vergiss nicht, dass du nichts zu tun hast in einer Sache, die bereits für dich in Ordnung gebracht ist. All dein eigenes Wirken, um die Gerechtigkeit, die du bei dir suchst, zu erlangen, wird eitel und unnütz sein; aber „dem, der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet“ (Röm 4,5). Wenn du etwas zu tun hättest, um die Gerechtigkeit zu erlangen, so würde diese Schriftstelle eine Lüge enthalten. Aber nicht in deiner, sondern in Gottes Hand liegt dein Heil. Er will nicht dein Wirken; du stehst Ihm nur damit im Weg. Er duldet nicht, dass du das Gewicht einer Feder von menschlichem Wirken in die Waagschale legst, um das Opfer Christi für dich annehmbar zu machen. Du wirkst von dir selbst nichts als Sünde und bringst dem Tod Frucht; aber Christus hat völlig genug getan für deine gegenwärtige, persönliche und ewige Errettung. Er gibt das Leben, und Er löst die Banden der Knechtschaft. Alles ist sein Werk!

Möge der Herr, der Geist, noch viele Seelen die zwar vom Tod zum Leben gekommen sind, aber sich noch gebunden und in ihren Bewegungen gehemmt fühlen, mit der köstlichen Wahrheit der völligen Befreiung bekannt machen! Mögen alle, die auf seinen mächtigen Ruf das Grab der Sünde verlassen haben, auch die alles durchdringenden Worte hören und verstehen: „Löst ihn auf und lasst ihn gehen!“

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