Botschafter des Heils in Christo 1873

Der treue Arbeiter - Teil 2/2

Aber bei dem einzigen vollkommenen Arbeiter war dieses nicht der Fall. Bei ihm war alles vortrefflich und ausgezeichnet. Er konnte mit Ruhe seine Blicke von den Schwierigkeiten und Hindernissen dieser Erde abwenden und sie hinlenken auf die unversiegbaren Hilfsquellen. „Ich preise dich!“ Er konnte sein Herz auf den ewigen Ratschlüssen Gottes ruhen lassen. Alle Dinge waren Ihm übergeben; Er konnte sagen: „Alles was mir der Vater gibt, kommt zu mir!“ Alles war festgestellt, alles wohlgeordnet. Und in der Tat, der Rat Gottes wird bestehen, und das göttliche Wohlgefallen wird erfüllt werden. Welch eine süße Ruhe für das Herz inmitten der Hindernisse und der getäuschten Erwartungen! Gott wird in Betreff seiner Diener alles vollenden; und selbst in Betreff der Mängel und Gebrechen, die leider in Überfluss bei uns vorhanden sind, wird die reiche Gnade des Herrn alles überströmen, wiewohl sicher unsere Verirrungen ihre eigenen peinlichen und demütigenden Resultate erzeugen werden. Nur die Erinnerung an diese treue Fürsorge des Herrn gibt unseren Herzen Ruhe inmitten der höchst entmutigenden Umstände. Wenn wir unser Auge von Gott abwenden, werden unsere Seelen bald zu Boden gedrückt sein. Es ist unser Vorrecht, in irgendeinem Grad fähig zu sein, Gott im Blick auf alle Begegnungen danken und zu seinen ewigen Ratschlüssen unsere Zuflucht nehmen zu können; denn alle Dinge müssen zum Guten mitwirken trotz des Unglaubens des Menschen und trotz der Bosheit und List Satans.

Richten wir jetzt noch zum Schluss unsere Blicke auf die gnadenreiche Tätigkeit des Herrn, die Er von neuem den Menschen widmet. „Kommt her zu mir, alle Mühselige und Beladene, und ich werde euch Ruhe geben. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen, denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht“ (V 28–30).

Wir führen diese Worte an, um das in unserem Kapitel dargestellte liebliche Gemälde zu vervollständigen. Hat der Leser mit Interesse die Hindernisse und die Hilfsquellen des treuen Arbeiters verfolgt, so wird er auch mit demselben Interesse seine Aufmerksamkeit auf die von neuem beginnende gnadenreiche Wirksamkeit desselben richten. Sie enthält für uns eine bewundernswürdige Belehrung. Der Herr Zieht sich von dem Schauplatz getäuschter Erwartungen zurück und findet seine Quelle in Gott; dann aber wendet Er seinen Blick wieder auf denselben Schauplatz, wo Er abgewiesen ist, und beginnt wieder von neuem seine gnadenreiche Arbeit. Es geschieht dieses in vollkommener, untrüglicher Gnade – in unerschöpflicher Barmherzigkeit – in unermüdlicher Geduld. Freilich hatte Er eine zurechtweisende Antwort an Johannes den Täufer gesandt; Er hatte die Menschen jenes Geschlechts treu geschildert; Er hatte ein feierlich ernstes Wehe über die unbußfertigen Städte ausgesprochen; aber Er kann von neuem hervortreten in der ganzen Frische und Fülle der Gnade, die in Ihm war, und kann allen mühseligen und beladenen Seelen zurufen: „Kommt her zu mir!“

Dieses alles, geliebter Leser, ist göttlich. Es beugt unsere Herzen zur Anbetung und Danksagung. Wenn die Wahrheit im Blick auf die zunehmende Verstocktheit gezwungen ist, ein „Wehe dir!“ auszusprechen, so kann sich die Gnade an jedes mühselige und beladene Herz wenden, mit der rührenden Einladung: „Kommt her zu mir!“ Beides ist vollkommen. Der Herr Jesus fühlte die Hindernisse. Er würde nicht ein Mensch gewesen sein, wenn Er sie nicht gefühlt hätte. Ja, Er fühlte die Hindernisse. Er konnte sagen: „Ich habe auf Mitleiden gewartet, aber da war keins, und auf Tröster, aber ich habe sie nicht gefunden.“ Man merke es wohl: Sein liebendes, so oft getäuschtes Herz wartete auf Mitleiden und fand keins. Er wartete auf „Tröster“ und wartete vergebens. Es gab kein Mitleiden für Jesus, es gab keine Tröster für Ihn. Er war allein gelassen. Einsamkeit, Betrübnis, Hunger, Durst, Schande und Tod – das war das Teil des Sohnes Gottes und des Sohnes des Menschen. „Der Hohn hat mein Herz gebrochen“, sagt Er. Es ist ein höchst verwerflicher Irrtum, vorauszusetzen, dass der Herr Jesus nicht in jeder Beziehung die mannigfachen Hebungen, die Er durchzumachen hatte, in der Weise gefühlt habe, wie der Mensch sie fühlen werde. Er fühlte mit Ausnahme der Sünde alles, was der Mensch zu fühlen im Stande war; und die Sünde trug und sühnte Er am Kreuz. Gepriesen sei sein Name!

Das ist nicht nur eine Hauptlehre des christlichen Glaubens, sondern auch eine Wahrheit von unendlicher Lieblichkeit für das Herz jedes wahren Gläubigen. Der Herr Jesus fühlte als Mensch, was es war, verachtet, getäuscht, Verwundet und verhöhnt zu sein. Hochgelobter Jesus! Ja, du fühltest jeden Schmerz, jeden Kummer, jedes Wehe inmitten einer gefühllosen und herzlosen Welt, dein liebendes Herz suchte Mitleiden und fand keins. Während du nach Gemeinschaft verlangtest, war Einsamkeit dein Teil. Diese Welt hatte kein Mitleiden, keinen Trost für dich.

Und doch, welch eine Gnade strahlt uns aus den Worten entgegen: „Kommt her zu mir?“ Und wie sehr beschämen sie uns! Wenn wir, die wir diese Gnade in unseren Wegen tagtäglich erfahren, mit Hindernissen und getäuschten Erwartungen zusammenstoßen, was ist dann oft die Folge? Findet man uns dann sogleich wieder in jener gnadenreichen Tätigkeit, die unermüdlich mühselige und beladene Seelen sucht, um sie Ihm zuzuführen, welcher stets in demselben Erbarmen sagt: „Kommt her zu mir?“ Ist unser Herz nicht oft mit Kummer, mit Verdruss und mit bitteren Klagen angefüllt? Und warum dieses? Wenn wir sagen: „Wir sind nicht vollkommen“, so ist es sicher wahr, dass wir in uns selbst nichts weniger als vollkommen sind; aber wir können Versichert sein, dass, wenn wir mehr darin geübt waren, uns von den Hindernissen der Welt oder der bekennenden Kirche zurück zu ziehen und zu den Hilfsquellen in Gott unsere Zuflucht zu nehmen, wir auch fähiger sein würden, aufs Neue eine gnadenreiche Tätigkeit zu beginnen auf einem Schauplatz, auf welchem wir vorher abgewiesen wurden. Aber ach, wie oft ist es geschehen, dass wir, anstatt uns auf Gott zu werfen, mit uns selbst beschäftigt sind! Und dann ist es eine unausbleibliche Folge, dass wir, anstatt in Gnade tätig zu sein, der Bitterkeit das Herz öffnen. Es ist unmöglich, die Seelen zu Jesu zu führen, wenn wir uns nicht zuvor an den Quellen Gottes erfrischt haben.

O möchten wir doch von Jesu lernen und sein Joch auf uns nehmen! Möchten wir zu den Füßen dessen sitzen, der sanftmütig und von Herzen demütig ist! Welche Worte! „Sanftmütig und von Herzen demütig.“ Wie unähnlich unserer Natur! Wie unähnlich der Welt! Wie unähnlich unserem Verhalten! Wie viel Stolz, Hochmut und Selbstüberhebung zeigt sich in uns! Möge der Herr uns geben, dass wir uns sehen, wie Er uns sieht, um in seiner Gegenwart im Staub zu liegen und immer demütig vor Ihm zu wandeln! Möge Er uns geben, in diesen Tagen des Eigendünkels und des Hochmuts die moralische Sicherheit eines sanftmütigen Geistes und eines demütigen Herzens ans Licht zu stellen! Es ist eine bewundernswürdige Sache, zum Tragen desselben Jochs berufen zu sein, welches Jesus trug – das Joch der gänzlichen Unterwerfung unter den Willen des Vaters in allen Dingen. Das ist das Geheimnis des wahren Friedens und der wahren Kraft. Wir können nur, wenn der eigene Wille unterworfen ist, die wahre Ruhe des Herzens kosten. Diese Ruhe wird unser Teil sein, wenn wir jeder Fügung der Hand unseres Vaters mit einem „Ja, Vater“ entgegenkommen. Wenn der eigene Wille in Tätigkeit ist, kann von keiner Ruhe die Rede sein. Um Ruhe des Gewissens zu erlangen, muss man zu Jesu kommen; um Ruhe des Herzens zu erlangen, müssen wir sein Joch auf uns nehmen und von Ihm lernen. O möchte unser Herz diese Ruhe in unseren Tagen rastloser Tätigkeit immer mehr erkennen und genießen!

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