Botschafter des Heils in Christo 1887

Was ist Anbetung?

„Ein Strom – seine Bäche erfreuen die Stadt Gottes, das Heiligtum der Wohnungen des Höchsten“ (Ps 46,4). Dieser Strom mit seinen Bächen ist ein Bild von den Strömen der Gnade Gottes, welche durch den Sohn, mittels des Heiligen Geistes, in unsere Herzen herabfließen; und gerade so wie ein Strom seine Wirbel hat, in welchen das Wasser immer wieder dahin zurückströmt, woher es gekommen ist, so stießt auch bei der Anbetung der Strom der Gnade immer wieder zu seiner Quelle zurück. Wahre Anbetung ist das Ausströmen eines Herzens, welches Gott kennen gelernt hat als einen Geber; das den Sohn kennt, durch welchen die Gabe vom Himmel herab ihm zufließt; und das endlich von dem lebendigen Wasser des Heiligen Geistes getrunken und, nachdem es getrunken, in diesem Geist eine Quelle lebendigen Wassers gefunden hat, welches in das ewige Leben quillt und so zu seiner Quelle zurückstießt in Anbetung, Lob und Dank (vgl. Joh 4,10.14.21). Wahre Anbetung ist mit anderen Worten die Antwort des Herzens eines Menschen, welcher erkannt und erfahren hat, dass er durch Gottes Willen errettet und geheiligt ist; dass dieser Wille durch den Sohn Gottes ausgeführt wurde, mittels eines Opfers, welches alle seine Sünden hinweggetan und ihm ein vollkommenes Gewissen gegeben hat, während der Heilige Geist ihm Zeugnis gibt mit den Worten: „Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken“ (Heb 10,7-10; 12-17).

Es werden im Neuen Testament zwei Wörter zur Bezeichnung der Anbetung gebraucht. Das Eine bedeutet: durch Niederwerfen seine Ehrfurcht bezeugen, jemandem göttliche Ehre erweisen, und wird gewöhnlich durch „anbeten, huldigen“ übersetzt (vgl. Mt 2,211; 4,10; Joh 4,20-21; Off 4,10). Das Andere steht mehr in Verbindung mit dem öffentlichen Dienst in der Stiftshütte, kommt wiederholt in Hebräer 9 und 10 vor, und ist durch „dienen“, „Dienst“ wiedergegeben (vgl. Heb 9,1.6.9.14; 10,2; Phil 3,3). Der allgemeine Sinn der beiden Ausdrücke ist daher: Gott Preis und Ehre geben, Ihm dienen, sei es für das, was Er in sich selbst ist, oder für das, was Er für alle diejenigen ist, welche Ihm nahen. Wir sehen hieraus, dass die Anbetung das Gegenteil ist von Gebet und Flehen; während wir bei letzterem etwas von Gott erbitten, bringen wir in der ersterem Gott etwas dar. Ohne Zweifel ist wahre Anbetung immer mit Gebet verbunden; allein ich kann andererseits zu Gott beten, ohne dass mein Gebet irgendwie den Charakter der Anbetung trägt, außer in dem Sinn, dass ich Gott als das, was Er ist, anerkenne.

Es ist nicht Anbetung oder, wie man es gewöhnlich nennt, Gottesdienst, wenn ich gehe, um die Predigt eines Evangelisten zu hören. Der Evangelist wendet sich an die Welt, an verlorene, gottentfremdete Sünder, während die Anbetung aus Kinderherzen zu Gott emporsteigt. Beides mit einander zu vermischen ist verderblich, und ganz und gar dazu angetan, das Bewusstsein der Trennung, welche Gott zwischen der Welt und der Kirche gemacht hat, zu schwächen. Ebenso wenig ist es Anbetung, wenn ich mich mit anderen versammle, um das Wort Gottes zu betrachten, obwohl eine solche Betrachtung Anbetung hervorrufen mag. Der Dienst, der bei diesen beiden Arten von Zusammenkünften ausgeübt wird, fließt von Gott herab, den Hörenden zu, während wahre Anbetung von den Versammelten zu Gott emporsteigt.

Leider ist der Begriff einer wahren Anbetung, eines wahren Gottesdienstes in der Christenheit nahezu verloren gegangen. Die Welt wird eingeladen, Gott anzubeten; Christen treten im Verein mit Unbekehrten, mit der Welt, vor Gott hin, um Ihm zu dienen, und nicht selten wird zum Schluss dieser Handlung, bei derselben Zusammenkunft, den Unbekehrten das Evangelium gepredigt. Während das Wort Gottes diese beiden Dinge streng scheidet, hat der Mensch alles miteinander vermengt; es ist Satan gelungen, selbst die Herzen vieler Kinder Gottes im Blick auf diesen Punkt so sehr zu verblenden, dass sie jene Beimengung sogar als gut und Gott wohlgefällig verteidigen. Ach, wenn sie dem Wort Gottes unterworfen wären und sich in einfältigem Gehorsam unter dasselbe beugten, so würden sie bald erkennen, wie sehr jene Vermischung zur Verunehrung des Herrn gereicht. Es steht geschrieben: „Das Opfer der Gesetzlosen ist ein Gräuel“ (Spr 21,27; vgl. auch Jes 1,10-15; Ps 50,14-21). Wie ganz anders sind die Beispiele von wahrer Anbetung, welche uns das Wort Gottes gibt! Lasst uns einige derselben in Kürze betrachten, und der Heilige Geist wolle sie mit Macht auf unsere Herzen und Gewissen anwenden!

Werfen wir zunächst einen Blick auf 5. Mose 26. Wir hören dort, dass die Israeliten angewiesen werden, nachdem sie in das verheißene Land gekommen seien, die Erstlingsfrüchte jenes Landes an den Ort zu bringen, welchen Jehova erwählen würde, seinen Namen daselbst wohnen zu lassen, und sie an diesem Ort Jehova zu opfern. Der Opfernde musste zu dem Priester gehen, den Korb mit den Früchten vor dem Altar Jehovas niedersetzen lassen, und dann bekennen, dass er in das Land gekommen sei, welches der Herr seinen Vätern verheißen habe. Wie schön und bezeichnend ist das! Der Opfernde kam als ein Israelit, der sich bereits in dem Land der Verheißung befand, der dies wusste und bekannte; als solcher brachte er Jehova seinen Korb mit den Erstlingsfrüchten dar. Dann, nachdem der Korb vor Jehova niedergesetzt war, musste er sagen: „Ein elender Aramäer war mein Vater, und er zog hinab nach Ägypten Und weilte daselbst als Fremdling mit wenigem Volk; und er ward daselbst zu einer großen, starken und zahlreichen Nation. Und die Ägypter misshandelten uns und bedrückten uns und legten einen harten Dienst auf uns. Und wir schrien zu Jehova, dem Gott unserer Väter, und Jehova hörte unsere Stimme und sah unser Elend und unsere Mühsal und unsere Unterdrückung. Und Jehova führte uns aus Ägypten heraus mit starker Hand und mit ausgestrecktem Arm und mit großem Schrecken und mit Zeichen und Wundern; und er hat uns gebracht an diesen Ort und uns dieses Land gegeben, ein Land, von Milch und Honig fließend. Und nun siehe, ich habe gebracht die Erstlinge der Frucht des Landes, das du, Jehova, mir gegeben hast. – Und du sollst sie vor Jehova, deinem Gott, niedersetzen und anbeten vor Jehova, deinem Gott, und dich freuen all des Guten, das Jehova, dein Gott, dir gegeben hat“ (V 5–11).

Siehe, mein Leser, das ist Anbetung. Der Israelit kam in der vollen, unumstößlichen Gewissheit seiner Errettung aus der Hand aller seiner Feinde, in der völligen Gewissheit, dass er sich bereits in Kanaan befand, in einem Land, von Milch und Honig fließend; er kam mit den Erstlingsfrüchten dieses gesegneten Landes in seinem Korb, und mit dem Bekenntnis auf seinen Lippen: Ich war einst elend und arm, aber du, o Gott, hast nach deiner großen Gnade und Barmherzigkeit mich unendlich reich und glücklich gemacht; ja, er kam als ein Erretteter, als ein Befreiter, als ein reich gesegneter Bürger Kanaans, und betete an vor Jehova, seinem Gott. Er pries die Gnade und Güte Gottes und freute sich vor dem Angesicht des Herrn all des Guten, das Jehova ihm gegeben hatte.

Ich wiederhole noch einmal: Das ist Anbetung. Und dann möchte ich fragen: Hat sich dieselbe im Lauf der Jahrhunderte verändert? Dem Charakter nach wohl, ihrem Grundsatz nach nicht. Alles, was der Israelit besaß, war irdisch, alles, was der Christ besitzt, ist himmlisch. Auch der Ort der Anbetung ist nicht ein irdisches Heiligtum, sondern das Heiligtum droben. Der christliche Anbeter ist in Christus in das himmlische Kanaan versetzt und gesegnet mit aller geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern. Er ist aus der Macht Satans befreit, von der Sklaverei der Sünde erlöst, er ist errettet, gereinigt, gerechtfertigt und geheiligt. Und als solcher bringt er dem Herrn die kostbaren Früchte des Lobes und der Anbetung dar, welche aus einem Herzen hervorquellen, das mit Christus erfüllt ist. Auf Grund der Gnade, die ihm widerfahren ist, und in dem bewussten und gekannten Besitz aller seiner herrlichen Segnungen, tritt er in die Gegenwart Gottes und gibt dem Herrn gleichsam das zurück, was er von Ihm empfangen hat, während sein Herz zu gleicher Zeit mit tiefer, überströmender Freude all das Gute genießt, welches Gott über ihn ausgeschüttet hat.

Einem schönen Beispiel von Anbetung begegnen wir auch in Matthäus 2,1-11. Nachdem die ans weiter Ferne gekommenen Weisen den Christus gefunden haben, welchen sie suchten, und zwar in einer Krippe liegend in dem Stall von Bethlehem, weit entfernt von dem religiösen Mittelpunkt jüdischer Anbetung in Jerusalem, fallen sie nieder und beten Ihn an, indem sie ihre besten Schätze, Gold, Weihrauch und Myrrhe, Ihm als Gaben darbringen.

Endlich sehen wir in Offenbarung 4 und 5, welcher Art die Anbetung im Himmel sein wird; und wahrlich, wir sollten jene Szenen mit tiefer Aufmerksamkeit betrachten und jetzt schon, in unserem geringen Maße, eine ähnliche Anbetung darzubringen bemüht sein. In Offenbarung 4,11 handelt es sich um die Anbetung des Schöpfers: „Du bist würdig, o unser Herr und unser Gott, zu nehmen die Herrlichkeit und die Ehre und die Macht; denn du hast alle Dinge erschaffen, und deines Willens wegen waren sie und sind sie erschaffen worden.“ In diesen Worten findet sich keine Spur von Gebet und Flehen. Es ist nichts als Preis und Dank für das, was Gott ist und was Er getan hat. Im 5. Kapitel folgt dann die Anbetung um der Erlösung willen. Die vierundzwanzig Ältesten, das Bild der Erlösten, fallen nieder vor dem Lamm, sie singen ein neues Lied und sagen: „Du bist würdig, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen; denn du bist geschlachtet worden und hast für Gott erkauft, durch dein Blut, aus jedem Geschlecht und Sprache und Volk und Nation, und hast sie unserem Gott zu Königen und Priestern gemacht, und sie werden über die Erde herrschen“ (V 9–10).

Das sollte jetzt schon das Vorbild für unsere Anbetung bilden; aber ach! wie wenig gottesdienstliche Zusammenkünfte in dem weiten Bereiche der Christenheit tragen diesen Charakter! Wie völlig hat man vergessen, was wahre Anbetung ist! Wie klein ist die Zahl derer, welche ein Auge und ein Ohr für diese Dinge habend Wie schrecklich wird der Name Gottes verunehrt durch jene so genannten Gottesdienste, bei welchen der Mensch einen weit höheren Platz einnimmt, als Gott! – Mein Leser, verstehst du, was wahre Anbetung bedeutet? Und bringst du sie Gott dar in Gemeinschaft mit anderen Gläubigen? Kennst du deinen Platz als ein Glied am Leib Christi, und nimmst du ihn ein in Treue und Einfalt deines Herzens? Bringst du Gott, deinem Vater, und Jesus Christus, deinem Herrn, die Opfer des Lobes dar, welche sich für dich geziemen, sowohl in deinem Kämmerlein daheim, als auch in Gemeinschaft mit den Gläubigen am Tisch des Herrn?

Christus ist allen Gläubigen geworden zur Weisheit von Gott, zur Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung. Er ist das Maß unserer Absonderung für Gott. So wie Er abgesondert ist für Gott, so sind auch wir geheiligt durch das ein für alle Mal geschehene Opfer seines Leibes; wir haben Freimütigkeit, in das Allerheiligste einzutreten durch sein Blut. Wir sind in Ihm versetzt in die himmlischen Örter. Lasst uns deshalb gemeinschaftlich unserem Herrn die Früchte dieses Landes als unsere Opfergabe darbringen. Lasst uns den Herrn Jesus als den einzigen Mittelpunkt unserer Anbetung anerkennen, so wie es einst die Erlösten im Himmel tun werden (Off 5), und wie es die Weisen taten, als unser Herr und Heiland in der Krippe zu Bethlehem lag. Lasst uns Hinzunahen mit wahrhaftigem Herzen, in voller Gewissheit des Glaubens, und lasst uns einstimmen in das neue Lied der Erlösten: „Du bist würdig!“

Noch einmal, mein Leser, verstehst du, was eine solche Anbetung ist und bedeutet? Wenn du es verstehst, so musst du auch anerkennen, dass der allgemeine christliche Gottesdienst, den wir um uns her erblicken, weit, weit von dem entfernt ist, was er sein sollte, ja, dass er eigentlich gar nicht Gottesdienst oder Anbetung genannt werden kann. Wie stimmt ein Gottesdienst, wie man ihn heutzutage überall in der Christenheit findet, mit dem Himmel überein? Ist ein solcher Gottesdienst passend für das Heiligtum Gottes, für das Allerheiligste droben? Sind die Anbeter, welche die Kirchen der Christenheit füllen, Geheiligte, Abgesonderte, Gerechtfertigte, Erlöste? Und doch musst du alles das sein, um wirklich anbeten zu können im Heiligtum Gottes. – Der Herr gebe allen Lesern dieser Zeilen geöffnete Augen, um zu erkennen, was sie Gott schuldig sind, und dass wahre Anbetung eine Gabe ist, welche man Gott bringt, und die deshalb vollkommen sein muss, wenn sie anders annehmlich vor Ihm sein soll! Hüten wir uns, dass nicht ein ähnlicher Vorwurf von seiten des Herrn uns treffe, wie er einst durch den Mund des Propheten Maleachi dem Volk Israel gemacht wurde: „Ihr bringt auf meinen Altar unreines Brot, und ihr sprecht: Womit verunreinigen wir dich? Damit, dass ihr sprecht, der Tisch Jehovas ist verächtlich. Und wenn ihr ein Blindes darbringt zum Opfer, es ist nicht böse, und wenn ihr ein Lahmes oder Krankes darbringt, es ist nicht böse. – Bringe es doch deinem Landpfleger dar! Wird er dich annehmen, oder mit Wohlwollen auf dich blicken? spricht Jehova der Heerscharen. ... Solches ist von eurer Hand geschehen; wird Er mit Wohlwollen auf euch blicken? spricht Jehova der Heerscharen. ... Ja, verflucht sei der Betrüger, der ein Männliches in seiner Herde hat, und opfert dem Herrn ein Verderbtes! denn ich bin ein großer König, spricht Jehova der Heerscharen, und mein Name ist furchtbar unter den Nationen“ (Mal 1,7-9.14).

Ja, hüten wir uns vor einem solch schrecklichen, Gott verunehrenden Verhalten! Es muss das ernste Gericht Gottes auf uns herabbringen. Lasst uns darauf achthaben, dass die Opfer unserer Lippen ans einem reinen, aufrichtigen Herzen zu Ihm emporsteigen; und lasst uns ferner unsere Opfer nicht mit den Opfern der Gesetzlosen vereinigen, welche ein Gräuel sind vor Gott! Der Herr gebe uns allen, mit tiefem Ernst über diese Dinge nachzudenken und mit wahrer, aufrichtiger Gottesfurcht vor dem zu wandeln, der da gesagt hat: „Seid heilig, denn ich bin heilig!“

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