Botschafter des Heils in Christo 1887

Ein Wort über die Ausübung der Zucht

Es ist eine unbedingte Notwendigkeit, dass inmitten der Versammlung Gottes Zucht geübt werde. „Tut den Bösen von euch selbst hinaus“, ermahnt der Apostel die Gläubigen in Korinth. Indes ist es nicht der Zweck dieser Zeilen, die verschiedenen Arten der Zucht zu betrachten, sondern vielmehr einige Worte über die Art und Weise zu sagen, wie die Zucht, und vor allem die ernsteste Art derselben, der Ausschluss, ausgeübt werden sollte.

Wenn sich bei einer Seele ein bedenklicher, gefahrdrohender Zustand offenbart, so sollten „die Geistlichen“ in einer Versammlung dieser Seele in treuer, liebevoller Hirtenpflege nachgehen und sie in Gnade und Sanftmut auf den rechten Weg zurückzuführen suchen. Erst dann, wenn diese Bemühung der Liebe sich vergeblich erweist, der Betreffende vielmehr in seinem traurigen Zustand verharrt und alle Ermahnungen unbeachtet lässt, erst Harm darf eine Versammlung zu dem letzten und schmerzlichsten Zuchtmittel ihre Zuflucht nehmen. Freilich kann es vorkommen, dass bei einem Bruder oder einer Schwester sich unvermutet ein so schlechter Zustand zeigt, eine so offenbare Sünde zum Vorschein kommt, dass die Versammlung um der Ehre des Herrn willen gezwungen ist, unverzüglich zu handeln. Aber diese Fälle werden selten sein, und gewiss, die Versammlung ist auch dann nicht ohne Schuld. Ein wachsameres Auge würde schon früher bei dem, an welchem Zucht geübt werden muss, Nachlässigkeit oder dgl. entdeckt, und vielleicht würde eine liebevolle Ermahnung den schlimmen Ausbruch des Nebels verhindert haben. Wenn ein Ausschluss notwendig wird, so hat die ganze Versammlung Ursache, sich tief vor dem Herrn zu demütigen: und der Ausschluss selbst sollte stets mit traurigen, betrübten Herzen und im Blick auf die Wiederherstellung des Auszuschließenden vorgenommen werden. Denn Heilung, nicht Zerstörung, ist der Zweck aller wahren Zucht.

Jede Versammlung, ob groß oder klein, ist verantwortlich, die Ordnung in ihrer Mitte aufrecht zu erhalten, sowie über die Reinheit des Tisches des Herrn zu wachen; und sie hat dies zu tun in einfältigem Gehorsam gegen das Wort des Herrn. Wenn ein Ausschluss zu vollziehen ist, so sollte der Fall so klar und offenbar sein, dass für ein aufrichtiges Herz keine Frage mehr bleibt und die Versammlung in heiliger und ernster Übereinstimmung handeln kann. Wir sollten uns vor jeder Übereilung hüten, aber auf der anderen Seite auch vor jeder Gleichgültigkeit. Beides liegt uns leider so nahe.

Das 13. Kapitel des 3. Buches Mose ist ein lehrreicher Abschnitt für alle diejenigen, welche sich für das Wohl der Versammlung, besonders im Blick auf den vorliegenden Gegenstand, interessieren. Wir wollen hier nicht näher auf dieses Kapitel eingehen, allein wir empfehlen es dringend der ernsten Aufmerksamkeit unserer Brüder. Der Priester durfte in keinem der dort berührten Fälle ein voreiliges Urteil abgeben. Die geduldigste Sorgfalt und die eingehendste Prüfung waren notwendig, damit nicht ein Glied der Gemeinde Israels als ein Aussätziger hinausgetan würde, der es nicht wirklich war, oder andererseits ein wirklicher Fall von Aussatz der Aufmerksamkeit entginge. Keine Übereilung, keine Gleichgültigkeit durfte stattfinden.

Es ist von der höchsten Wichtigkeit, den wahren Zweck, die Natur und den Charakter der Zucht in der Versammlung Gottes zu verstehen. Es ist sehr zu befürchten, dass über diesen Punkt viel Unkenntnis herrscht. Manche betrachten die Zucht als ein Mittel, solche Personen los zu werden, deren Verhalten ein missfälliges und den Namen des Herrn verunehrendes ist. Das ist aber ein großer Irrtum. Der wichtige Zweck der Zucht ist einerseits die Verherrlichung Gottes, soweit sie mit der Heiligkeit seiner Versammlung in Verbindung steht, und andererseits das Wohl der Seele, an welcher die Zucht ausgeübt wird.

Und was die Natur und den Charakter der Zucht betrifft, so sollten wir uns stets daran erinnern, dass wir, wenn wir anders nach den Gedanken Christi daran teilnehmen wollen, die Sünde des Betreffenden zu unserer eignen machen und sie als solche vor Gott bekennen müssen. Es kann jemand in herzloser Förmlichkeit aufstehen und den Ausschluss eines Bruders oder einer Schwester bekannt machen; aber eine ganz andere Sache ist es, wenn die ganze Versammlung in aufrichtiger Betrübnis und Zerknirschung des Herzens vor Gott hintritt, um unter schmerzlichem Bekenntnis etwas Böses hinweg zu tun, was auf keine andere Weise entfernt werden konnte. Wenn mehr von diesem Letzteren in unserer Mitte gefunden würde, so würden wir sicher auch mehr Fälle von göttlicher Wiederherstellung erfahren.

Haben wir alle, geliebte Brüder, von Herzen Leid getragen, wenn in unserer Mitte etwas Böses sich zeigte, dass eine so ernste Handlung seitens der Versammlung nötig machte? Hat sich ein jeder von uns mit der Sache eins gemacht und vor dem Herrn gedemütigt und um Gnade und Erbarmen für den oder die Verirrte gefleht? Ach, müssen wir nicht bekennen, dass es in dieser Beziehung nicht unter uns steht, wie es stehen sollte? dass da vieles mangelt? Der Herr gebe uns, dass wir zu einem tiefen Bewusstsein unserer persönlichen Verantwortlichkeit betreffs dieser Dinge erwachen und immer mehr verstehen lernen, wie innig wir unter einander verbunden sind, und wie durch die Sünde des Einen die ganze Versammlung berührt und verunreinigt wird! Ja, Er wolle uns anleiten, mit brüderlicher Liebe und Sorge über einander zu wachen, uns gegenseitig zu ermuntern und zu ermahnen, damit eine solch schmerzliche Ausübung der Zucht in unserer Mitte immer weniger notwendig werde! Wie schrecklich ist eine Gesinnung, wie sie sich in den Worten Kains kundgibt: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Der Herr wolle uns in Gnaden vor einer solchen Sprache bewahren, und uns offene Augen geben, wenn sich in unseren Herzen und in unserem Verhalten irgendetwas von dieser Gesinnung offenbaren sollte. Denken wir nur nicht, dass sie uns so ferne läge! Es ist die Gesinnung unserer natürlichen Herzen. Aber in welch einem schrecklichen Gegensatz steht sie zu der Gesinnung unseres Herrn und Meisters, der sich selbst für uns dahingab und Tag und Nacht in unermüdlicher Sorgfalt und zärtlicher Liebe mit uns beschäftigt ist! Möchten wir von Ihm lernen!

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