Botschafter des Heils in Christo 1887

Das Buch Josua

1 Das Buch Josua stellt uns in einem Vorbild den Gegenstand der Brief an die Epheser vor Augen. Die Gemeinde der Kinder Israel war an dem Ziel ihrer Wanderungen durch die Wüste angelangt, und es handelte sich nun für sie darum, den Jordan unter der Leitung eines neuen Führers zu überschreiten, um sich das Land der Verheißung zu eigen zu machen, indem sie die Feinde aus dem Besitz desselben vertrieben. Ganz ebenso verhält es sich mit uns. Unser Kanaan sind die himmlischen Örter (Eph 1,3), in welche wir jetzt eintreten in der Kraft des Geistes Gottes, der uns mit einem gestorbenen und auferweckten Christus verbindet und uns in Ihm mitsitzen lässt in der Herrlichkeit droben, so dass wir im Voraus etwas von dieser Herrlichkeit genießen, welche Er sich erworben hat, in die Er uns einführen will, und die wir bald mit Ihm teilen werden. Aber während wir auf diesen Augenblick warten, haben wir gegen die geistlichen Mächte der Bosheit, die in den himmlischen Örtern sind, den Kampf des Glaubens zu führen (Eph 6,10–18), um uns jeden Zoll breit des Landes, das Gott uns zum Erbteil gegeben hat, zu eigen zu machen. Der Unterschied zwischen dem Vorbild und der Wirklichkeit besteht darin, dass Israel die Wüste hinter sich hatte, als es Kanaan betrat, während für uns die Wüste und Kanaan zugleich bestehen. Indes ist der Segen nur umso größer. Wenn die Wüste uns lehrt, dass wir noch nötig haben, gedemütigt und versucht zu werden, um zu erkennen, was in unseren Herzen ist (5. Mo 8,2), so machen wir bei unseren Schwachheiten auch in derselben die köstliche Erfahrung, dass es göttliche Hilfsquellen gibt inmitten dieses dürren Landes ohne Wasser: Gott öffnet seine Hand, um uns mit Manna zu speisen, um uns mit dem Wasser aus dem Felsen zu tränken und uns die unerschöpflichen Quellen seiner Gnade schmecken zu lassen; denn nichts hat seinem Volk auf seiner Wanderung durch die Wüste gefehlt. Er konnte sagen: „Dein Kleid ist nicht veraltet an dir, und dein Fuß ist nicht geschwollen diese vierzig Jahre“ (5. Mo 8,4). Andererseits aber befinden wir uns gleichzeitig, wenn auch nicht in demselben Augenblick, auf den grasreichen Triften und an den stillen Wassern eines reichen Landes, dessen Erstlingsfrüchte wir genießen; wir können uns im Frieden an der gedeckten Tafel jenseits des Jordans niederlassen, um die Früchte dieses Landes zu essen, indem wir uns von einem himmlischen Christus nähren, der in der Herrlichkeit zur Rechten thront.

In dem Augenblick, wo dieser neue Abschnitt in der Geschichte Israels beginnt, wird Josua berufen, die Führung des Volkes zu übernehmen. Dieser bemerkenswerte Mann tritt zum ersten Mal in 2. Mose 17 auf, während des Kampfes mit Amalek; und dieses Auftreten gibt uns den Schlüssel zum Verständnis seines vorbildlichen Charakters. Während Mose, (der an jener Stelle ein Vorbild der göttlichen Macht ist, welche mit dem himmlischen Priestertum Christi und seiner Gerechtigkeit aufs Innigste verbunden ist) die Zeit des Kampfes droben auf dem Berg zubrachte, sehen wir unten in der Ebene, in Verbindung mit dem kämpfenden Volk, das er anführte, Josua, „einen Mann, in welchem der Geist war“ (4. Mo 27,18), und der die Schlachten Jehovas schlug. Dieser Josua ist Christus, aber Christus hienieden in uns oder unter uns wohnend, in der Macht des Heiligen Geistes. Von nun ab wird Josua ein ebenso treuer Führer des Volkes nach und in Kanaan sein, wie Mose als Führer in der Wüste unzertrennlich mit dem Volk verbunden war. Es heißt von ihm: „ein Mann, der vor ihnen her ausziehe und der vor ihnen her einziehe, und der sie ausführe und der sie einführe, dass die Gemeinde Jehovas nicht sei wie Schafe, die keinen Hirten haben ... und du sollst von deiner Macht auf ihn legen, dass ihm gehorche die ganze Gemeinde der Kinder Israel“ (4. Mo 27,17.20).

Wir kommen jetzt zu dem Land und seinen Grenzen. Im 2. Verse des ersten Kapitels unseres Buches wird des Jordans Erwähnung getan, jener Schranke, die das Volk noch von dem Land der Verheißung trennte. Um Kanaan betreten zu können, musste es den Strom unter der Führung Josuas überschreiten. Ihr Erbteil war einzig und allein eine Gabe der Gnade Gottes, wie es heißt: „Gehe über diesen Jordan, du und dieses ganze Volk, in das Land, das ich ihnen, den Kindern Israel, gebe.“ Sie empfingen es von Jehova; aber für das Volk handelte es sich nicht nur darum, dass das Land ihnen gehörte, sondern vornehmlich auch um die tatsächliche Besitzergreifung desselben, wie wir lesen: „Jeden Ort, worauf eure Fußsohle treten wird, habe ich euch gegeben“ (V 3).

Auch wir nun besitzen geistlicher Weise alle diese Dinge. Die Gnade Gottes, und sie allein, hat uns den Himmel gegeben; aber wir vermögen nicht in denselben einzutreten, wenn wir nicht mit Christus und in der Macht seines Geistes durch den Tod und die Auferstehung hindurchgegangen sind. Und nur durch die Beschäftigung mit diesen Dingen und indem wir mit Fleiß und für uns persönlich in dieselben eingehen, ergreifen wir Besitz von uns ein Segnungen, und nur so erfahren wir deren himmlische Wirklichkeit. In einem Wort, der Christ muss sich durch den Glauben sein himmlisches Besitztum zu eigen machen; sonst gleicht er einem armen kranken Könige, der im Ausland lebt und sein Reich nie bereist, nie genossen hat.

Im 5. Verse begegnen wir einem anderen charakteristischen Zuge des Landes. Der Feind wohnt dort; es gibt dort Hindernisse; überall, wo wir unseren Fuß hinsetzen, erhebt sich ein Gegner. Hier sehen wir deutlich, dass Kanaan nicht der Himmel ist, so wie wir ihn nach dem leiblichen Tod finden, sondern der Himmel, in welchem sich der Feind noch befindet, der Himmel als der gegenwärtige Kampfplatz des Christen. Wie kostbar aber ist die Verheißung, welche Jehova seinem Knecht gibt: „Niemand soll vor dir bestehen alle Tage deines Lebens“, d. h. so lange bis er das Volk in den endgültigen Besitz des Landes eingeführt hatte! Welch eine Sicherheit lag zugleich für das Volk in dieser Verheißung! Kaum wirst du, sagt Gott, auf deinem Weg dem Feind begegnen, so wird er sich vor dir zerstreuen. – Sieg! Hätte das Volk ausrufen können; Satan kann vor uns nicht bestehen! – „Vor uns?“ Ach, armes Israel, du wirst es bald vor Ai sehen, was du in dir selbst bist: nichts als ein Spielball für die Macht Satans; du hast keine Kraft, ihm zu widerstehen. Aber deine Starke ist in Christus; denn die Verheißung: „Niemand wird vor dir bestehen“, war Josua gegeben worden, während das Volk die Verheißung erhalten hatte: „Ich habe euch jeden Ort gegeben, worauf eure Fußsohle treten wird.“

Noch ein anderer Punkt ist bemerkenswert. Gott gibt dem Volk im 4. Verse eine genaue Beschreibung der Grenzen Kanaans. Welches sind nun diese Grenzen? Weit ausgedehntere, als das Volk sie je erreicht hat und erreichen wird, es sei denn, dass die Herrlichkeit des tausendjährigen Reiches sie ihm geben wird. – Genauso verhält es sich mit uns. Die himmlischen Örter sind tatsächlich von uns erobert, soweit und wohin irgend unser Fuß tritt; aber werden wir je die ganze Ausdehnung unseres Erbteils durchmessen? „Wir erkennen stückweise“; aber der Tag nähert sich, wo das Vollkommene gekommen und das, was Stückwerk ist, hinweggetan sein wird. „Alsdann werde ich erkennen, wie auch ich erkannt worden bin.“

Die Grenzen des Landes wurden gebildet durch eine große Wüste, ein großes Gebirge, einen großen Strom und ein großes Meer. Das war es, was sich außerhalb jenes fruchtbaren Landes vorfand, und worauf das Volk seinen Fuß nicht setzen konnte oder durfte. Finden wir hierin nicht die Welt vorgebildet und das, was sie moralisch kennzeichnet: ihre geistliche Dürre, ihre Macht, ihre äußere Wohlfahrt und ihre stete Unruhe? Was ihre Dürre betrifft, so hatte Israel sie durchschritten und die Erfahrung gemacht, dass es in ihr selbst keine Segensquellen gab, und dass nur das Brot vom Himmel es auf dem Weg durch diese Wüsteneien ernähren konnte.

Das ist, Geliebte, der Charakter der Dinge, die nicht unser sind. Unser wahres Teil aber ist Kanaan, der Himmel; allerdings Kanaan mit seinen Kämpfen, aber auch mit seinen Siegen; Kanaan mit Josua und mit „dem Engel Jehovas“; Kanaan mit den friedlichen Segnungen und Genüssen unbegrenzter Besitzungen, die sich mit und in der Person eines auferweckten und verherrlichten Christus verbunden und vereinigt finden.

Nun noch ein Wort über die moralischen Eigenschaften, welche nötig sind, um in Kanaan eingehen zu können. Da finden wir zunächst die geistliche Energie, welche der Apostel Petrus „die Tugend“ nennt (2. Pet 1,5). Der Glaube befähigte die Kinder Israel ihre Fußsohle überallhin niedersetzen; diesem Glauben sollte die Tugend hinzugefügt werden. Doch bemerken wir, dass dieselbe sich nicht in uns vorfindet; sie war für das Volk in Josua, und sie ist für uns in Christus. „Sei fest und mutig“, heißt es zu Josua, „denn du sollst diesem Volk das Land austeilen, das ich ihren Vätern geschworen habe, ihnen zu geben.“ Ja, „glückselig ist der Mann, dessen Stärke in dir ist! ... sie gehen von Kraft zu Kraft.“ Dieser Grundsatz ist von der höchsten Wichtigkeit. Wie viele Christen sind eifrig bemüht, in sich selbst die Kraft zu entdecken, um sich für den Kampf stark zu fühlen. Ihre Bemühung führt, wenn sie nicht völlige Verzagtheit hervorruft, nur zur Selbstzufriedenheit, was nicht besser ist. Die Stärke liegt nicht hier; sie liegt in Christus, aber in Christus für uns. Und wozu wird sie uns verliehen? Um uns in unseren eignen Augen groß zu machen oder uns zu verherrlichen? Weit entfernt davon; sie soll uns vielmehr auf den Weg des Gehorsams führen (Kap 1,7). Kleine Kinder lernen gehorchen. Die Stärke macht uns klein; sie macht aus dem Menschen ein Stäublein, damit die Kraft Christi sich offenbare und verherrlicht werde. Wir finden ein schönes Beispiel von dieser Wahrheit im 6. Kapitel des Buches der Richter. „Und der Engel Jehovas erschien Gideon und sprach zu ihm: Jehova ist mit dir, du tapferer Held!“ Diese beiden Dinge sind innig mit einander verbunden: In Jehova selbst lag Gideons Stärke. „Und Jehova wandte sich zu ihm und sprach: Gehe hin in dieser deiner Kraft.“ Doch nun wird sich Gideon plötzlich seines eigenen Nichts bewusst, und er antwortet: „Siehe, mein Tausend ist das ärmste in Manasse, und ich bin der Kleinste im Haus meines Vaters.“ Doch Jehova sprach zu ihm: „Gewiss, ich werde mit dir sein!“

Der Gehorsam hält sich stets genau an Gottes Wort. Gott gibt Josua Kraft, „dass du“, wie Er zu ihm sagt, „darauf achtest, zu tun nach dem ganzen Gesetz, das dir Mose, mein Knecht, geboten hat.“ Doch zu der geistlichen Energie, welche notwendig ist, um Gott zu gehorchen, muss noch etwas anderes hinzukommen. Es heißt darum im 8. Vers weiter: „Dieses Buch des Gesetzes lass nicht von deinem Mund weichen, und du sollst darüber sinnen Tag und Nacht, damit du darauf achtest, zu tun nach allem, was darin geschrieben ist.“ Es bedarf also außer der geistlichen Energie noch eines sorgfältigen Fleißes, sich die Gedanken Gottes zu eigen zu machen. Gott ermahnt Josua: „Sinne darüber, um es zu tun.“ Leitet auch uns bei der Betrachtung des Wortes dieser Zweck? Oftmals lesen wir es, um weiter zu kommen in der Erkenntnis, und die Erkenntnis ist gut; zu anderen Zeiten forschen wir darin, um andere unterweisen zu können; gewiss auch eine vortreffliche Sache an ihrem Platz. Aber die für uns so überaus wichtige Frage ist: Ist es unsere Gewohnheit, Gottes Wort in der Absicht zu lesen, um es fleißig zu beobachten und ihm zu gehorchen? O, dass es also wäre! Wie würde es den ganzen Lebenslauf des Christen umgestalten!

Es heißt ferner: „Sinne darüber Tag und Nacht!“ Es gibt Christen, die morgens ein Kapitel (ach! vielleicht nur ein Verslein) lesen, das sie den Tag über wie eine Art Zauberformel bewahren soll. Heißt das, über Gottes Wort sinnen Tag und Nacht? Doch man wird einwenden: Was soll aus unserer Arbeit werden? Ich aber frage: Ist es Gottes Wort, das dich während deines Tagewerks innerlich von Gott nährt und speist, um der Genuss deiner Seele zu sein und um dich auf dem Weg des Herrn zu leiten? Siehe, nur „alsdann wirst du guten Erfolg haben auf deinen Wegen, und alsdann wird es dir gelingen!“

Im 9. Vers finden wir einen weiteren Grundsatz, der unserer ernsten Beachtung wert ist: „Habe ich dir nicht geboten: Sei fest und mutig?“ Welch eine Stärke verleiht uns die Gewissheit der Gedanken Gottes! Alle Unentschiedenheit im Wandel, alle Angst und alle Furcht schwinden dann; Satan vermag nichts über uns. Hat uns Gott nicht geboten?

Das sind also die Grundsätze, welche das Herz beherrschen müssen, wenn es die himmlischen Dinge genießen und die Streite Jehovas streiten will. Es ist schön, sie ganz am Anfang dieses Buches niedergelegt zu finden, ehe noch Israel einen einzigen Schritt getan hat, um ihm so die blanken Waffen in die Hände zu geben, womit es den Sieg davontragen kann.

Fußnoten

  • 1 Aus den „Betrachtungen über das Buch Josua“ von H. R., die, so Gott will, binnen kurzem im Druck erscheinen werden.
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