Botschafter des Heils in Christo 1887

Abraham - Teil 1/3

Die Kapitel 1–11 des 1. Buches Mose enthalten zwei deutlich unterschiedene Geschichten diejenige der vorsintflutlichen Heiligen, oder der Zeiten von Adam bis auf Henoch, und die Geschichte Noahs und seiner Nachkommen bis zur Zerstreuung der Völkern. 1 Die erste dieser Geschichten finden wir in Kapitel 1–5, die Zweite in Kapitel 6–11.

Vom 12. bis zum 25. Kapitel wird uns dann die Geschichte Abrahams erzählt; dieselbe bildet den dritten Teil des 1. Buches Mose und stellt uns einen neuen Abschnitt in den Wegen Gottes dar. Dieser Wechsel ist nicht zufällig oder bedeutungslos, sondern wir entdecken darin bei näherer Untersuchung eine schöne moralische Ordnung und eine überraschende Entfaltung der Weisheit Gottes in Bezug auf die Verwaltung der Zeiten. Himmel und Erde werden abwechselnd berufen, die wunderbare Erzählung jener Weisheit zu übernehmen und göttliche Geheimnisse darzustellen Geheimnisse, wie jenes, welches „Gott sich vorgesetzt hat in sich selbst, für die Verwaltung der Fülle der Zeiten: alles unter ein Haupt zusammen zu bringen in dem Christus, das, was in den Himmeln und das, was auf der Erde ist“ (Eph 1,10).

Adam war in dem Zustand der Unschuld ein Mensch der Erde. Er sollte sich an ihr erfreuen, in dem Bewusstsein, dass alles sein war. Aber sobald er aus Eden vertrieben war, wurde er ein Fremdling hienieden. Er erhielt keinen Befehl, die Erde zu verbessern oder zu schmücken; er hatte einfach den Boden für seinen Unterhalt zu bebauen. Auch zeigt uns die Verwandlung Henochs, dass die Bestimmung und das Erbe jener frühesten Haushaltung Gottes himmlisch war. 2

In Noah hingegen ist der Vorsatz Gottes ein anderer. Noah ist wieder ein Mensch der Erde. Er verließ die Arche in einem ganz anderen Charakter, wie Adam den Garten verlassen hatte. Noah trat aus der Arche mit dem Auftrag, als Richter und Regent die Welt in Ordnung zu halten. Nicht Fremdlingschaft, sondern Bürgerschaft auf der Erde und Herrschaft über sie entsprach jetzt wieder der Absicht Gottes. Doch ein zweiter Abfall offenbarte sich unter den Nachkommen Noahs; im Lauf der Zeit strebten sie nach Unabhängigkeit, indem sie die Furcht Gottes beiseitesetzten und ohne Ihn fertig zu werden suchten, wie einst Adam im Garten es gemacht hatte, als er werden wollte wie Gott. Die Antwort Gottes auf den Hochmut des Menschen war die Verwirrung der Sprachen.

Nachher findet Abraham wieder Gnade in den Augen Gottes. Er wird von jenem Schauplatz des Abfalls abgerufen und aus seinem Haus und Land ausgeführt: und wie wir es nach der abwechselnden Darstellung himmlischer und irdischer Geheimnisse nicht anders erwarten können, wird nach Noah, dem Menschen der Erde, Abraham wieder berufen, ein himmlischer Mensch zu sein. Der Herr sagt zu ihm: „Gehe aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus.“ Das war der Charakter der Berufung Abrahams. Es war weniger eine Berufung aus moralischem Verderben, aus Götzendienst und dergleichen, sondern vielmehr eine Berufung aus den Verbindungen der Natur und der Erde. Sicher gab es auch Götzen zu verlassen (vgl. Jos 24,2–3); aber das bildete nicht die Natur der Berufung. Vielmehr finden wir Ähnlichkeit zwischen Abraham und Adam, nachdem dieser den Garten verlassen hatte; Abraham verließ Ur in Chaldäa, wie Adam Eden verließ. Er empfing nicht den Auftrag, das Land Kanaan für den Herrn zu bebauen oder zu erobern und die Volker dort zu regieren. Die Einrichtungen der Welt wurden gerade so gelassen, wie sie waren. Abraham hatte mit den Völkern, durch welche ihn sein Weg nach Kanaan führte, nichts zu schaffen; und auch als er jenes Land erreicht hatte und die Kanaaniter dort vorfand, trat er in keinerlei Verbindung mit ihnen. Er kümmerte sich gar nicht um sie.

In Noah war die Regierung Gottes auf der Erde eingeführt worden, wie im Anfang die natürlichen Beziehungen in Adam. Abraham aber wurde aus diesem allen herausgerufen. Er empfing Gott selbst durch den Glauben; sowohl die Beziehungen der Natur, die Adam ihm überliefert hatte, als auch die Regierung, welche in Noah aufgerichtet worden war, wurden von ihm aufgegeben. 3

In unserem Patriarchen sehen wir also die Auserwählung und Berufung Gottes. Er gehörte der verdorbenen, abgefallenen Familie des Menschen an und hatte keinerlei Ansprüche an Gott zu machen. Aber eine unumschränkte Gnade, in deren Kraft alle Erlösten nach dem ewigen Ratschluss Gottes stehen, hatte ihn zu ihrem Gegenstand gemacht; und unter dieser Gnade ist er zu seiner Zeit als ein Auserwählter offenbart und von Gott berufen worden, als ein himmlischer Fremdling durch diese Welt zu pilgern. Die Schrift spricht von ihm als dem „Vater aller, die da glauben“ (Röm 4,11–12); und in der Tat, wir finden in ihm das Leben des Glaubens in einer überaus köstlichen Weise dargestellt, und gerade das ist es, wobei ich in dieser Betrachtung hauptsächlich verweilen möchte.

In dem „Leben des Glaubens“ finden wir nicht nur den Grundsatz der Abhängigkeit von Gott oder des Vertrauens auf Ihn, obgleich das vielleicht der nächstliegende Gedanke ist; es bezeichnet weit mehr als das. Es ist ein Leben, welches große und mannigfaltige Kräfte offenbart; denn der Glaube vertraut nicht nur auf Gott oder glaubt an Ihn, sondern er versteht auch seine Wege und handelt in Übereinstimmung mit seinen Grundsätzen und Absichten; er empfängt seine Verheißungen, erfreut sich in seiner Gunst, führt seine Befehle aus, erwartet sein Reich, erringt in seiner Kraft Siege und wandelt durch sein Licht im Licht. Der Glaube stellt somit, obgleich in verschiedenartiger Weise, stets ein Leben dar, welches Gott entspricht und durch die Gemeinschaft mit Ihm hervorgebracht wird.

Demgemäß werden wir in dem Leben Abrahams Gelegenheiten finden, bei welchen das Vertrauen auf Gott hervortritt; zu anderen Zeiten offenbart sich Kraft, und Kämpfe werden bestanden; dann wieder zeigen sich die Tugenden des Glaubens in dem bereitwilligen Aufgeben von Rechten und in der stillen Unterwerfung unter zugefügtes Unrecht. Diese Verschiedenartigkeit in dem Leben des Glaubens ist schon, denn sie ist nichts anders als das mannigfaltige Hervorleuchten desselben Sinnes, des Sinnes Christi in den Heiligen.

Indes dürfen wir nicht meinen, dass wir in dem Gläubigen immer nur diesem Licht und dieser Kraft des Glaubens begegnen. Vollkommenheit in dem Leben des Glaubens wird nirgendwo gefunden, außer in dem Einen, der als „der Anfänger und Vollender des Glaubens“ vor unsere Augen gestellt wird, und dessen Weg von Anfang bis zu Ende, und in jedem Augenblick, das Muster dieses Lebens in vollem, ungetrübtem Glanz war. Dennoch dürfen wir das Leben eines Abraham, eines Joseph, eines David oder eines Paulus als ein Leben des Glaubens bezeichnen, weil in diesen Männern jener Grundsatz des Glaubens vorhanden war, obgleich sie immer wieder und auf die verschiedenste Weise die Verderbtheit der Natur, die Wirkung des Unglaubens und die Ratschläge eines Herzens verrieten, welches geneigt ist, mit Fleisch und Blut zu Rate zu gehen und die Wege einer abgefallenen Welt einzuschlagen.

Abraham begann dieses Leben des Glaubens mit einfältigem Herzen und heiligem Ernst. Er zog aus, „nicht wissend, wohin er komme.“ Er nahm Gott zu seinem Schild und seinem Teil, und gerade darin zeigte sich sein Glaube; denn durch die Trennung von der Welt, auf Grund eines unbedingten Vertrauens auf Gott, verlor er alles und erhielt dafür nichts, als das Wort Gottes.

Wir befinden uns nicht gern in solchen Umständen; das menschliche Herz fühlt sich unbehaglich darin, aber der erneuerte Sinn heißt sie gut und rechtfertigt Gott in ihnen. Die Leiden Christi kommen zuerst, danach die Herrlichkeiten (1. Pet 1,11). Israel betrat das Land Kanaan nicht nach einer angenehmen Reise durch ein Land mit friedlichen Städten und Dörfern, mit wogenden Kornfeldern und fruchtbaren Weinbergen, mit Strömen und Weideplätzen, sondern sie durchzogen mühsam öde, unbewohnte Steppen und dürre, sandige Wüsteneien, in welchen es nichts Ermunterndes für das natürliche Auge und Herz gab. Ebenso wurde Abraham aus allem herausgerufen, was für die Natur angenehm war, und er zog seines Weges, ohne zu wissen, wo seine Reise enden würde. Nur das Eine wusste er, dass Gott ihn gerufen hatte, und das war genug für den Glauben. „Er zog aus, um in das Land Kanaan zu gehen; und er kam in das Land Kanaan.“

Indes kam er nicht, um einen festen Wohnplatz dort zu finden, sondern nur, um sich in dem Land der Verheißung aufzuhalten. Er zog von Ort zu Ort und schlug überall nur ein Zelt auf. Der Gott der Herrlichkeit hatte ihm gesagt: „Gehe aus deinem Land ... in das Land, das ich dir zeigen werde.“ Er sollte es für immer in seinem Samen besitzen, aber was seine eigene Person betraf, so sollte er es nur sehen. Und dementsprechend finden wir auch, dass er es nur besieht, aber nichts davon in Besitz nimmt. Er geht zunächst nach Sichem, bis an die Eiche More; von da zieht er südwärts in die Gegend von Bethel und Ai. Aber wohin er sich auch wenden mochte, überall wohnte er nur in einem Zelt. „Es waren zu der Zeit die Kanaaniter im Land.“ Sie waren die Besitzer des Landes, und Abraham machte keinen Versuch, ihnen auch nur einen Fußbreit Boden zu entreißen. Er betrachtete und besaß das Land nur in der Weise, wie der Glaube und die Hoffnung es ihm gaben; aber er suchte kein persönliches, gegenwärtiges Besitztum darin. Die Verheißung lebte in seinem Innern, und sie bildete sowohl die Richtschnur seines Handelns, als auch die Freude seines Herzens.

Sehr bald aber steht in Abraham ein ganz anderer Mensch vor uns; denn obwohl er ein Mann Gottes war, so besaß er doch, wie wir alle, eine böse Natur; und es gibt, wie gesagt, keinen in dem Leben des Glaubens Vollkommenen, außer den Herrn selbst. Eine Hungersnot kam über das Land, in welches die Berufung Gottes Abraham gebracht hatte. Das war ohne Zweifel eine befremdende Überraschung für ihn; allein wäre der Glaube tätig gewesen, so würde er dadurch nicht erschreckt worden sein. Der Glaube in Paulus zeigte sich einer ähnlichen Überraschung gewachsen. Durch die Stimme Gottes nach Mazedonien gerufen, findet er dort Gefängnis und Bande. Aber Paulus hält diesen Stoß aus, während Abraham strauchelt. Paulus und sein Gefährte singen Loblieder in dem Gefängnis zu Philippi; Abraham aber nimmt seine Zuflucht zu einer Lüge, nachdem er vor der Hungersnot in Kanaan in einem anderen Land Hilfe gesucht, von welcher die göttliche Berufung nicht das Mindeste erwähnt hatte.

Solche Dinge sind zu allen Zeiten unter den Heiligen gefunden worden; sie zeigen sich auch heute noch. Es gibt Kleinglauben und auch Unerschrockenheit unter den Auserwählten, so wie sich in jedem von ihnen Fleisch und Geist, die Natur und der erneuerte Sinn befinden. Aber bedenken wir wohl: wenn die Natur uns leitet, wird die Natur uns bloßstellen. Selbst ein irdischer Mann, der Pharao von Ägypten, machte Abraham beschämt; und anstatt in dem Zeugnis seines Zeltes und in der Freude seines Altars voranzugehen, war es eine Reise mit ermatteten Füßen, weil das Herz ihm Vorwürfe machte. Er musste „die ersten Werke tun“, die Stellung, die er verloren hatte, wiedergewinnen, und das ist stets eine schmerzliche Sache, ein kummervolles Werk. Er musste aus Ägypten zurückkehren, und zwar bis zu dem Platz zwischen Bethel und Ai, wo er zuerst seinen Altar erbaut hatte.

Die Herden, die er in Ägypten erhalten hatte, begleiteten ihn nach Haus. Der Glanz des Goldes und Silbers, der Gaben eines Landes, das jenseits dessen lag, wohin der Gott der Herrlichkeit ihn berufen hatte, schmückte und zierte seine Rückkehr. So war es bei Abraham, und so kann es heute bei einem Gläubigen sein. Aber was sagen wir zu dem allen, Geliebte? Ist das Blöken und Brüllen solcher Herden in unseren Ohren gleich der sanften Musik eines guten und ruhigen Gewissens? Oder ist dieser blendende Reichtum gleich dem Glänze der göttlichen Gegenwart, welche Abraham verloren hatte? Ich glaube, ich darf für Abraham antworten – obgleich ich es von mir selbst nicht zu sagen wage – dass sein Geist diesen Unterschied Wohl erkannte. Das ermattete Herz fühlte sich wenig erleichtert durch das, was er aus dem Land Ägypten oder aus dem Haus des Pharao mitbrachte. Es konnte bei einem solchen Mann nicht anders sein. „Wer an mir sündigt, tut seiner Seele Gewalt“ (Spr 8,36), das muss auch er erfahren haben; und seine Handlungsweise in der Geschichte, die uns in unmittelbarer Verbindung mit seiner Rückkehr erzählt wird, zeigt uns etwas davon.

Lot, sein jüngerer Bruder, oder vielmehr seines Bruders Sohn, der mit ihm aus Ur nach Kanaan gekommen war, wird jetzt ein Anlass zur Versuchung für ihn, wie vorher die Hungersnot. Aber der Glaube in Abraham triumphiert dieses Mal in bewunderungswürdiger Weise. Die Hirten der beiden Brüder können ihre Herden nicht mehr zusammen weiden; sie müssen sich trennen. Das war der Anlass zu der neuen Versuchung. Aber die Sprache Abrahams ist: „Lot möge wählen.“ Lot mag die wohl bewässerten Ebenen für sich nehmen; Abraham kann auf den Herrn des Landes vertrauen, obgleich er jene verliert. Er mag Brunnen graben müssen, anstatt sie zu finden. Aber ist es nicht besser, sie in der Kraft Gottes zu graben, als sie auf dem Weg der Habsucht zu finden? Ist es nicht besser, so zu sagen in Kanaan auf sie zu warten, als ihretwegen wieder nach Ägypten zu gehen?

Das war eine herrliche Wiederherstellung. Und siehe da, jetzt besucht der Herr seinen Knecht wieder, was Er in Ägypten nicht getan hatte und nicht hatte tun können. Der Gott der Herrlichkeit, welcher Abraham nach Kanaan gerufen hatte, konnte nicht mit ihm nach Ägypten gehen; aber Er hatte sein Wohlgefallen daran, sich dem Mann zu zeigen, der in der Freude des wiederhergestellten Vertrauens, im Begriff stand, das Beste des Landes seinem jüngeren Bruder zu überlassen.

Und nun lasst mich fragen, Geliebte: Wo befinden wir uns? Wo ist unser Herz? Auf welchem Weg wandeln wir in diesem Augenblick? Kennen wir Ägypten in der Bitterkeit der Selbstanklage? Oder genießen wir ein wiedererlangtes Kanaan in der Freude der Gunst Gottes? Wandeln wir täglich mit Gott? Das Leben des Glaubens kennt sehr wohl den Unterschied zwischen der Verengung eines weltlichen und der Weite eines gläubigen Herzens. Abraham kannte diese Dinge; er wusste, was Ägypten war – die Stätte des Goldes und Silbers, der Vorwürfe und des Todes; er wusste, was es war, Ai wieder zu gewinnen, ohne unterwegs einen Altar zu haben; und er wusste auch, was es war, wieder mit Altar und Zelt unter den Eichen Mannes zu ruhen.

So beginnt das mannigfaltige Leben des Glaubens; doch es enthält noch weit mehr als das. Gerade bei dieser Verschiedenartigkeit der Handlungen zeigt sich die Einsicht desselben, die Wirksamkeit des Geistes Christi oder des geistlichen Sinnes, der die Dinge unterscheidet, wie sie sind, und der die Fähigkeit besitzt, Zeiten und Gelegenheiten Gott gemäß zu erkennen. Dieses seine Unterscheidungsvermögen des Heiligen finden wir in Abraham in dem jetzt folgenden Teile seiner Geschichte. Die Schlacht der „vier Könige gegen die fünf“ wird uns im 14. Kapitel erzählt. Solange es nur ein Streit zwischen jenen Königen war, hatte Abraham nichts damit zu tun; aber sobald er hörte, dass sein Verwandter Lot in den Streit verwickelt war, regte er sich.

Alles ist schön zu seiner Zeit. „Es ist eine Zeit, abzubrechen, und eine Zeit, aufzubauen.“ Es gab für Abraham eine Zeit, stille zu sein, und eine Zeit, in Tätigkeit zu treten; und er verstand die Zeit. Die Grundsätze Gottes waren Abrahams Richtschnur. Lot war gefangen genommen worden, und jetzt war es Abrahams Sache, seine Bruderpflichten zu erfüllen. Das Schlachtfeld im Tal Siddim war nunmehr sein Platz, wie bis dahin das Zelt unter den Eichen Mamres. Es gab jetzt eine andere Aufgabe für ihn zu lernen, und die Zeit war da, das Schweigen zu brechen; sie rief ihn, an der Spitze seiner waffengeübten Knechte, hinaus aufs Schlachtfeld.

Diese Einsicht des Sinnes Christi in dem Heiligen ist in der Tat schön. Jedes Ding ist nur schön zu seiner Zeit; außer der Zeit ist dieselbe Handlung verkehrt und entstellt. Elia mochte von dem Gipfel des Berges Feuer vom Himmel auf die Obersten und ihre Fünfzig herabrufen (2. Kön 1), und ebenso mögen die beiden Zeugen in den Tagen von Offenbarung 11 ihre Feinde verzehren durch das Feuer, das aus ihrem Mund geht. Aber für die Begleiter des demütigen und verworfenen Jesus war es unpassend, in derselben Weise mit den samaritischen Dörfern zu handeln (Lk 9). Nur zu seiner Zeit ist jedes Ding wirklich richtig. Wie wurde der Garten Gethsemane, der durch die Leiden des göttlichen Märtyrers geheiligt war, durch das Blut, welches das Schwert des Petrus dort vergoss, entweiht! Aber ein anderes Schwert verrichtete den rechten Dienst, als es Agag in Stücke hieb (1. Sam 15), oder als es in der Hand der Leviten in die Mitte Israels trat und weder Eltern noch Kinder verschonte (2. Mo 32). Denn wenn Rache befohlen ist, wenn die Trompete des Heiligtums zum Kampf bläst, so sind Rache und Kampf ebenso vollkommen, wie zu anderer Zeit Gnade und Langmut. Es ist Gottes Sache, zu bestimmen und zu offenbaren, welche Handlungsweise und welche Wahrheit der Zeit entsprechend sind. Und wenn Gott seine Gedanken kundgegeben hat, so zeigt sich das Leben des Glaubens immer in einer Weise und in einem Charakter, die dieser Offenbarung entsprechen. Die Pflichten und der Dienst des Glaubens fließen aus anvertrauten Wahrheiten hervor. Wenn die Wahrheit vernachlässigt wird, so ist es unmöglich, die Pflichten und den Dienst zu erfüllen. Und der wohlgefällige Wille Gottes, oder seine offenbarte Weisheit in der Verwaltung der Zeiten, ist in dem Wechsel der Zeitalter verschieden. Das ist sehr beachtenswert; denn die richtige Unterscheidung der Dinge und die richtige Teilung des Wortes Gottes, oder der Wahrheit, wird unter anderen Tugenden in dem Leben des Glaubens erwartet. Abraham war mit diesem schonen Unterscheidungsvermögen ausgerüstet. Er kannte den Ton der silbernen Trompete, mochte sie nun zum Zelt der Zusammenkunft oder zur Schlacht rufen.

Doch wir finden bei dieser Gelegenheit noch etwas anderes bei unserem Patriarchen. Er wird durch zwei Siege ausgezeichnet, und zwar erringt er den Einen über die Heere der Könige und den Anderen über die Ehrerbietungen des Königs von Sodom. Der Erste wurde Abraham zu teil, weil er den Schlag genau zu Gottes Zeit führte; er zog nicht früher und nicht später in die Schlacht, als Gott es wollte. Daher war der Sieg sicher; denn der Kampf war des Herrn, nicht des Abraham. Sein Arm wurde durch den Herrn selbst gestärkt. Dieser Sieg Abrahams gleicht dem Sieg Davids über Goliat, oder demjenigen Jonathans und seines Waffenträgers über das Heer der Philister (1. Sam 14 und 17); denn Abraham hatte nur eine Schar geübter Knechte gegenüber den Heeren von vier verbündeten Königen. – Der zweite Sieg, noch glänzender als der Erste, wurde, wie alle geistlichen Triumphe, in der Kraft der Gemeinschaft mit den Quellen göttlicher Stärke errungen. Der Geist des Patriarchen siegte hier, wie vorher sein Arm. Er hatte so viel genossen in der Gemeinschaft des Königs von Salem, dieses königlichen und priesterlichen Fremden, dass der König von Sodom ihm vergeblich alle Habe anbot. Die Seele Abrahams war im Himmel gewesen, und so konnte er nicht wieder zu der Erde zurückkehren. – das war die gesegnete Erfahrung des Vaters der Gläubigen im Tal Save. Welch ein Glück wird seine Seele erfüllt haben! Gewiss, er hat mehr dort genossen, als in Worten ausgedrückt werden kann.

Doch wir finden hier noch mehr als die Siege des Glaubens; die nächste Szene in Kapitel 15 zeigt uns die Kühnheit desselben. Und ich möchte fragen, gibt es für Gott selbst wohl etwas Köstlicheres, als diese Kühnheit? Die Einsicht des Glaubens ist herrlich, und seine Siege sind glorreich, aber seine Kühnheit in dem Rechnen auf den Gott aller Gnade übersteigt beides.

Nach dem Sieg Abrahams über die Welt oder die Ehrerbietungen des Königs von Sodom kommt der Herr zu ihm mit großen Verheißungen. „Nach diesen Dingen geschah das Wort Jehovas zu Abram in einem Gesicht und sprach: Fürchte dich nicht, Abram; ich bin dir ein Schild, dein sehr großer Lohn“ (Kap 15,1). Nach der Hitze des vorhergehenden Tages wollte Gott in seiner Gnade seinen Knecht aufs Neue anerkennen und ermutigen. Aber der Glaube ist kühn und strebt scheinbar noch höher als die Vorsätze und Unternehmungen der Gnade gehen. Abraham scheint die Worte des Herrn zurückzuweisen. „Ich bin dir ein Schild, dein sehr großer Lohn“, sagt der Herr. „Was willst du mir geben“, erwidert Abraham, „da ich hingehe ohne Kinder? und der Besitzer meines Hauses ist dieser Elieser von Damaskus.“

Das war kühn, aber nicht zu kühn für das Ohr des Herrn, der seine höchste Freude an einer solchen Sprache des Glaubens findet. Abraham musste etwas Besseres haben, als einen Schild und einen sehr großen Lohn. Es ist gut, ein Teil zu haben, aber Abraham suchte einen Gegenstand für sein Herz. Adam erging es einst ebenso; Eden war für ihn nicht das, was Eva war. Der Garten mit allem, was er darbot, genügte ihm nicht; erst die Gehilfin befriedigte ihn völlig. So ist auch für Christus selbst die Kirche mehr, als alle Herrlichkeit des Reiches, wie in dem Gleichnis die Perle und der Schatz größeren Wert hatten für den Mann, der sie fand, als alle seine Besitzungen; denn er verkaufte alles, was er hatte, um sie zu besitzen. Das verirrte Schaf, die verlorene Drachme und der verlorene Sohn bieten dem Himmel – dem Vater, dem Hirten, dem Geist und den Engeln – eine größere Veranlassung zur Freude, als alles Übrige; und zwar deshalb, weil das Herz seinen Gegenstand erhält und die Liebe ihre Erwiderung findet. Liebe und Zuneigung bringen das Herz in Tätigkeit; es kann in nichts anderem Ruhe finden, als in dem Gegenstand seiner Liebe.

Es war in der Tat ein kühner Glaube, der Abraham befähigte, die Worte Gottes gleichsam zurückzuweisen. Aber er war köstlich für Gott; denn ein Glaube, der so handelt und auf solche Weise fordert, spricht die Gedanken und Gefühle des göttlichen Herzens selbst aus. Gott selbst verlangt nach Kindern, so wie Abraham es tat. Nicht der Geist der Knechtschaft soll das Haus Gottes erfüllen, sondern der Geist der Sohnschaft; nicht Knechte, sondern Kinder will Er um sich haben. Er hat „uns zuvorbestimmt zur Sohnschaft durch Jesus Christus für sich selbst.“ Er hat in seinen Kindern einen Gegenstand für sich selbst gefunden; und Abraham sprach deshalb nur jenes Geheimnis aus, welches dem Herzen Gottes und seinem eigenen gemeinsam war. Und sofort wird sein Wunsch beantwortet; der Anblick des Sternenhimmels wird benutzt, um dem Patriarchen etwas Besseres zuzusichern, als alle Erbteile und Segnungen, alle Schilde und Belohnungen. „Und Er führte ihn hinaus und sprach: Siehe jetzt gen Himmel und zähle die Sterne, wenn du sie zählen kannst. ... Also soll dein Samen sein.“

Wir können in der Tat sagen, dass der Glaube nie richtiger handelt, als wenn er hochstrebt und mit kühner Hand zugreift; je höher die Grenze ist, die er sich steckt, desto mehr entspricht sie der Absicht Gottes. „Fordere dir ein Zeichen von Jehova, deinem Gott“, sagt der Prophet Jesaja zu Ahas, „fordere es in der Tiefe oder oben in der Höhe“; d. h. nimm alle göttlichen Hilfsquellen und benutze sie. Aber Ahas wollte nicht. Er antwortete dem Propheten: „Ich will nicht fordern, und will Jehova nicht versuchen“ (Jes 7,10–12). Was der König Ahas nicht tun wollte, indem er durch seinen Unglauben und die Trägheit seines Herzens Gott ermüdete, das tat Abraham wiederholt. Seine Seele ging in derselben Kraft des Glaubens bis zum Ende jener Unterhaltung mit Jehova voran. „Ich will dir dieses Land geben, es zu besitzen“, sagt der Herr kurz nachher zu ihm. „Woran soll ich es erkennen, dass ich es besitzen werde?“ ist seine Antwort. Diese Worte zeigen denselben Charakter; und weil es so ist, weil sie die Kühnheit des Glaubens verraten, so sind auch sie überaus angenehm vor dem Herrn. Abraham suchte etwas mehr als eine Verheißung. Nicht dass er an ihr gezweifelt hätte; im Gegenteil, er war völlig gewiss, dass sie nie fehlen könnte, dass eher Himmel und Erde vergehen würden, als dass ein Wort von der göttlichen Verheißung ausfiele. Aber er begehrte einen „Eid und Blut“ Zu ihrer Besieglung. Sein Glaube begehrte nach einem Bund, als der Grundlage für seine Ansprüche; und er verlangte nichts mehr, als was die Gnade, der Vorsatz und das unumschränkte Wohlgefallen Gottes schon für ihn bestimmt hatten.

Welch ein reicher und kräftiger Trost liegt in diesem allen! Der Glaube ist nie zu kühn. Nein, je kühner er ist, desto mehr gefällt er Gott. Der Herr tadelte in den Tagen seines Fleisches oft die Zurückhaltung und den Argwohn des Kleinglaubens, nie aber die Kraft und Bestimmtheit eines Glaubens, der so zu sagen nach allem strebte und ohne Segnung sich nicht abweisen ließ. Auch die Worte, mit welchen Gott in unserem Kapitel den Glauben seines Dieners beantwortet, zeigen uns die Wonne, die Er an der Kühnheit desselben empfand. Gerade die Art der Antwort drückt dieses aus, wie auch in späteren Tagen bei dem Gichtbrüchigen in Matthäus 9. Dort lassen uns die Worte: „Sei gutes Mutes, Kind, deine Sünden sind dir vergeben“, erkennen, wie sehr das Herz des Herrn, des Gottes Abrahams, durch den Glauben erquickt worden war, welcher ohne Weiteres das Dach des Hauses abdeckte, um zu Ihm zu gelangen. Dasselbe finden wir hier. Der kühne, nicht zweifelnde Glaube Abrahams begehrt ein Kind; und noch in derselben Nacht führt der Herr seinen Knecht hinaus und sagt, indem Er ihm den gestirnten Himmel zeigt: „Also soll dein Samen sein.“ Derselbe Glaube wünscht das Land durch etwas mehr als ein Wort der Verheißung zugesichert zu haben, und siehe da, derselbe Herr bekräftigt den Bund dadurch, dass Er eine Feuerflamme zwischen den Stücken des Opfers hindurchfahren lässt.

Diese Handlungsweise ist sehr bezeichnend. Sie drückt in beredter Weise die Gedanken Gottes aus. Der Herr begnügt sich nicht mit der bloßen Verheißung eines Kindes, oder mit bloßen Versicherungen, dass das Land das Erbe des Samens Abraham sein solle, sondern Er vollzieht in beiden Fällen mit erhabener und ergreifender Feierlichkeit gewisse Handlungen, aus welchen wir unwillkürlich die Freude herausfühlen, mit der Er auf diese Forderungen des Glaubens gelauscht hatte.

Möchten wir unseren Gott doch mehr kennen, wie Er gekannt werden muss, zu seinem Preis und zu unserem Trost! Die Liebe freut sich, wenn sie in Anspruch genommen wird; sie ermüdet, wenn man zu viel Umstände macht. Letzteres ist gewissermaßen eine Beeinträchtigung ihrer wahren Natur und der ihr eigentümlichen Handlungsweise. Die Zuneigung zwischen Familiengliedern z. B. beseitigt alles umständliche Wesen; im Familienkreis herrscht Vertraulichkeit, nicht Form. Die Liebe bewirkt in dem Einen wie in dem Anderen, dass er mit Bereitwilligkeit seine häuslichen Arbeiten verrichtet, und das gegenseitige Vertrauen aller erlaubt, dass es in dem Geist der Liebe geschieht. So ist es auch zwischen dem Herrn und uns. Die Vertraulichkeit des Glaubens ist seiner Gnade angemessen und seinem Herzen angenehm; viele Umstände und Formen sind nur eine Ermüdung für Ihn.

Die Gnade ist ein Meer ohne Ufer, und wir werden ermuntert, mit vollen Segeln hineinzufahren. Der Ölkrug würde unerschöpflich gewesen sein, wenn der Glaube des Weibes noch weiter daraus ausgegossen hätte; und die Siege des Königs von Israel würden nicht aufgehört haben, bis zur völligen Vertilgung der Syrer, wenn sein Glaube das Schlachtfeld in dem Bewusstsein betreten hätte, dass es nur das Feld des Sieges sei (2. Kön 4 und 13). Doch die Kühnheit des Glaubens ist zu unbegreiflich, zu hoch für das enge, karge Herz des Menschen, welches nicht auf den Herrn vertrauen kann. Aber wie herrlich ist es, dass gerade diese Kühnheit der unendlichen Gnade Gottes entspricht und dieselbe benutzt!

Ein glaubendes Herz ist auch ein glückliches Herz; es ist gehorsam und verherrlicht Gott. Es ist dankbar und deshalb geeignet, den Heiligen zum Dienst bereit zu machen und von dem Bösen getrennt zu halten. Es ist sicher gut, wachsam zu sein, in stetem Selbstgericht voranzugehen und sorgfältig darüber zu wachen, dass wir in allem, was wir tun, gerecht sind; aber dabei das Herz durch die Übung eines einfachen, kindlichen und gläubigen Sinnes in dem Licht der Gunst Gottes zu erhalten, das ist es, was Ihn verherrlicht, was seiner Gnade entspricht, und wodurch wir Ihm, mit dem wir zu tun haben, am meisten unseren Dank beweisen. „Wir haben mittelst des Glaubens Zugang zu dieser Gnade, in welcher wir stehen.“ Nicht Vollkommenheit, nicht Wachsamkeit, nicht Dienste oder erfüllte Pflichten berechtigen uns, diesen herrlichen Platz in der Gunst Gottes einzunehmen; nein, „mittelst des Glaubens haben wir Zugang. Zu dieser Gnade“ (Fortsetzung folgt).

Fußnoten

  • 1 Vergleiche die Betrachtungen: „Die Welt vor der Flut“ und „Noah“ in Heft 3–9 des vorigen Jahrgangs des Botschafters.
  • 2 Die Familie Kains stand in jenen vorsintflutlichen Tagen in unmittelbarem Gegensatz hierzu. Allerdings bebaute auch sie den Boden, aber nicht, um einfach ihren Lebensunterhalt zu haben, sondern um das Leben zu verschönern und den Aufenthalt auf dieser Erde so angenehm wie möglich zu machen. Zweck und Ziel ihrer Arbeit waren die Kultur, der Gewinn und das Vergnügen. Dadurch unterschieden sich diese beiden Familien. Die Eine bildete sich unter dem Einfluss des Glaubens und des Gehorsams gegenüber den Offenbarungen Gottes, die Andere wurde gekennzeichnet durch die Verachtung dieser Offenbarungen, gerade so wie es in der Welt bis zu diesem Tag ist.
  • 3 Später ist der Same Abrahams, das Volk Israel, wieder ein irdisches Volk und stellt deshalb gerade das Gegenteil von der Berufung und Stellung Abrahams dar. Sie erschlagen die Völker Kanaans, und anstatt aus ihrem Land und ihrer Verwandtschaft herausgerufen zu werden, werden sie gerade dahin geführt: Männer, Weiber, Kinder und selbst das Vieh reisen von Ägypten nach Kanaan – aus dem Land der Fremdlingschaft in das Land ihres Besitztums.
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