Botschafter des Heils in Christo 1887

"Wenn ich das Blut sehe"

Es gibt viele Seelen, die, teils durch falsche Belehrung, teils durch die Eingebungen ihrer eignen Herzen und durch die Einflüsterungen Satans, jahrelang in einem Zustand ängstlicher Besorgnis und peinigender Ungewissheit dahingehen. Obwohl völlig überzeugt von ihrem Verderben und Verlorensein und sich bewusst, dass nur das Werk Christi und sein vergossenes Blut sie zu erretten vermag, suchen sie doch immerfort nach Beweisen in sich selbst, dass sie errettet seien und Vergebung der Sünden haben. Sie eilen hierhin und dorthin, um diesen oder jenen Prediger des Wortes zu hören; aber nichts kann ihnen Ruhe geben. Im Gegenteil, ihre Unruhe wird immer größer, ihre Ungewissheit immer quälender. Sie bemühen sich, Gott zu dienen und seine Gebote zu halten, um auf diesem Weg Ruhe zu finden; aber auch das ist vergebens. Die Entdeckung, dass ihr Fleisch nach wie vor verdorben ist, und dass sie in sich keine Kraft haben, das Gute zu tun, macht sie ganz elend und bringt sie der Verzweiflung nahe. Sie reden sich ein, dass ihr Glaube nicht rechter Art, nicht stark genug sei, und strengen sich an, den rechten Glauben in sich hervorzurufen. Aber so aufrichtig sie es auch meinen mögen – alles ist vergeblich, alle Mühe umsonst. Denn obwohl sie auch völlig überzeugt sind, dass nur Christus sie zu erretten vermag, suchen sie doch, in wunderbarem Widerspruch damit, Ruhe in ihrem Tun, in ihren Gebeten, ihren Gefühlen und ihrem Glauben. Und darum können sie nie zur Ruhe kommen. Denn so kostbar der Glaube auch in den Augen Gottes ist, so kann Er ihn doch nicht annehmen als den Preis unserer Erlösung. Dieser Preis ist das kostbare Blut Jesu Christi, eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken, das zuvorerkannt worden ist vor Grundlegung der Welt, aber offenbart am Ende der Zeiten um unsertwillen. Ja, Gott sieht eine solche Kostbarkeit in diesem Blut, dass Er um dieses Blutes willen an mir vorübergehen will, dass der Zerstörer mich nicht antasten darf. Und deshalb, wenn das Auge sich einmal von dem eignen verdorbenen Ich und alledem, was ans demselben hervorkommt, abwendet und hinblickt auf Jesus, wenn das Ohr sich dem Zeugnis Gottes über das Blut des Opferlammes öffnet und das Herz diesem Zeugnis glaubt, so kehren Ruhe und Frieden in das geängstigte Gemüt ein, und alle Zweifel und Besorgnisse schwinden. Das Herz findet dann da Ruhe, wo auch Gott mit Wonne ruht.

Bevor wir jedoch die wohl bekannten Worte, welche die Überschrift dieser Zeilen bilden, näher ins Auge fassen, möchte ich den Leser an den Zustand des Volkes Israel erinnern, wie er uns in den ersten 11 Kapiteln des 2. Buches Mose geschildert wird. Das Volk befand sich in der Sklaverei des Pharao, in bitterer Knechtschaft. „Und die Kinder Israel seufzten wegen des Dienstes und schrien; und ihr Geschrei stieg hinauf zu Gott wegen des Dienstes“ (Kap 2,23). Und Gott hörte dieses Schreien und erbarmte sich ihrer; „denn ich kenne“, sagte Er zu Mose, „seine Schmerzen.“

Welch ein getreues Bild von dem Zustand des Menschen von Natur. Er hat sich dem Satan verkauft, er ist sein Sklave. Wer wollte das leugnen? Ach, welch ein Schrei bitterer Not und tiefsten Elends steigt von dieser Welt zum Himmel empor! Wie bitter ist die Sklaverei der Sünde, ganz abgesehen davon, dass es nach diesem Leben einen Feuersee gibt, der mit Feuer und Schwefel brennt! Welch ein Elend, wie viel Jammer, Not und Leid hat die Sünde in die Welt gebracht! Ein jedes Herz kennt und erfährt die Bitterkeit der Sünde.

Gott hörte einst das Seufzen der Kinder Israel. Gott ist Liebe. Er hörte ihr Schreien, Er kannte ihre Schmerzen, und Er kam, um sie zu erretten. Die Israeliten hörten, dass Gott ihren Druck und ihr Elend angesehen habe, und sie begehrten, aus Ägypten zu Ziehen und Ihn anzubeten. Es ging ihnen gerade so, wie den Personen, von welchen oben die Rede war. Sie verlangten sehnlichst nach Befreiung aus ihrem Sklavenjoch, um Jehova dienen und Ihn anbeten zu können; aber so wie bei jenen, so machte dieser Wunsch auch ihnen das Joch nur noch fühlbarer, ließ die Last nur noch drückender erscheinen. Ihre Leiden und ihre Schmerzen wurden jetzt größer als je. Wie oft ist dies der Fall, wenn eine Seele aus ihrem Sündenschlaf erwacht und nun nach Heil, ja, nach Gott selbst dürstet! Satan bietet dann alle seine Macht und List auf, um die beschwerte Seele ganz zu Boden zu drücken. Selbst die Verheißungen Gottes haben für sie keinen Wert, sie geben keine Erleichterung, gewähren keinen Trost. Wir sehen dies bei den Kindern Israel. Mose teilte ihnen die herrlichen Verheißungen Gottes mit, „aber sie hörten nicht auf Mose vor Ungeduld (oder Unmut) und vor hartem Dienst.“ Auch sehen wir in den folgenden Kapiteln in dem Verhalten des Pharao, wie Zähe Satan seine Opfer festhält. Er weicht endlich nur dem gewaltigen Arm Gottes.

Vielleicht muss mancher beim Lesen dieser Zeilen ausrufen: „Wie genau gleicht das mir und meinen Erfahrungen! Je mehr ich gewünscht habe, Gott zu dienen, desto schwerer ist mir die Last geworden. Ich habe Trost gesucht in den Worten und Verheißungen Gottes; aber all mein Mühen war umsonst. Immer noch ruht dieselbe Sündenlast auf mir; immer noch quält mich dieselbe Unruhe; immer noch bin ich ungewiss darüber, ob ich wirklich teil habe an Christus, ob ich den rechten Glauben besitze.“ Arme Seele! Wenn das dein Zustand ist, so wirf mit mir einen Blick in das 12. Kapitel des 2. Buches Mose, und Gott gebe, dass dies auch für dich „der Anfang der Monate“ werde. Du verstehst, dass das Lamm geschlachtet, und dass sein Blut an die beiden Türpfosten und an die Oberschwelle gestrichen wurde. Aber erkennst und verstehst du nicht, dass ein jeder, ob jung oder alt, der in dem blutbesprengten Haus Zuflucht suchte, auch teil an dem Blut hatte? Gott hatte gesagt: „Und das Blut soll euch zum Zeichen sein an den Häusern, in welchen ihr seid, und wenn ich das Blut sehe, so werde ich an euch vorübergehen.“ Er hatte nicht gesagt: Wenn ich sehe, wie gut ihr seid; oder: Wenn ich sehe, dass ihr mein Wohlgefallen und meine Hilfe verdient; oder: Wenn ihr eure Sünden genug bereut und in der rechten Weise geglaubt habt. Nichts von alledem. Nein, das Blut war das Erste und das Höchste in den Gedanken Gottes. Es war das Zeichen seiner Liebe zu ihnen, gerade so wie sie waren, und gerade da, wo sie sich befanden. Gott sagte nicht einmal: Wenn ihr das Blut seht, sondern: Wenn ich das Blut sehe. Und ich wiederhole nochmals: Hätte irgendjemand, der sich in einem der blutbesprengten Häuser befand, nötig gehabt zu fragen: Wie kann ich wissen, dass ich teil an dem Blut habe? – das stand außer aller Frage; und jede Seele, welche in jener Nacht einfach dem vertraute, was Gott gesagt hatte, wurde errettet.

Ich brauche kaum darauf hinzuweisen, dass die Erlösung aus Ägypten ein Bild der Erlösung durch das kostbare Blut Christi ist. Es ist das eine Tatsache, die auch dem einfachsten Leser bekannt sein wird. Allein ich möchte fragen: Wenn das Blut des Lammes in Ägypten ein Zeichen der Liebe Gottes zu seinem armen schwachen Volk war, ist dann nicht das Blut Jesu Christi in noch viel höherer und herrlicherer Weise ein Zeichen seiner Liebe zu verlorenen, verdorbenen Sündern? Jesus starb nicht, damit Gott uns lieben möchte; sein Tod war vielmehr der unumstößliche und unwiderlegliche Beweis, dass Er uns geliebt hat. „Hierin ist die Liebe Gottes zu uns offenbart worden, dass Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat.“ „Also hat Gott die Welt geliebt, dass Er seinen eingeborenen Sohn gegeben, auf dass jeder, der an Ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.“ „Hierin ist die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass Er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsere Sünden“ (Joh 3,16; 1. Joh 4,9–10).

Es handelt sich also nicht darum, mein lieber Leser, was du in dem Blut Christi siehst, sondern was Gott darin sieht. Er kennt alle deine Sünden, aber Er siehe zugleich auch das Blut Christi, welches von aller Sünde reinigt. Er sieht, dass die Leiden und der Versöhnungstod seines geliebten Sohnes Ihn rechtfertigen, wenn Er an allen deinen Sünden vorübergeht, so groß und zahlreich diese auch sein mögen. Er selbst sagt es in seinem Wort. Wir lesen in Römer 3,26, dass Er gerecht ist, „wenn Er den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesus ist.“ Fragst du nun immer noch: Wie aber kann ich wissen, dass ich teil an jenem Versöhnungsblut habe? Ei, siehst du denn nicht, dass jeder Israelit, welcher dem Wort Gottes glaubte, auch an dem Blut teilhatte, das an die Türpfosten gestrichen wurde? Und wenn du das Neue Testament durchforschst, so wirst du finden, dass jeder Sünder, der im Blick auf das am Kreuz vergossene Blut Gott vertraute, die volle Gewissheit besaß, dass er erlöst war durch dieses Blut. Und beachte wohl, es ist nicht eine Verheißung, der du Vertrauen zu schenken hast. Die Erlösung ist keine Verheißung mehr, sie ist eine vollendete Tatsache, ein vollbrachtes Werk. Wenn du am Verdursten wärst und jemand käme zu dir mit dem Versprechen, dir Wasser zu holen, so möchtest du diesem Versprechen vielleicht Glauben schenken; aber wenn jener zurückkehrt und dir das versprochene Wasser bringt, so handelt es sich nicht länger darum, dem Versprechen zu glauben; nein, das Versprechen ist erfüllt, und du nimmst das Wasser dankbar entgegen und löschest deinen Durst. Und siehe, gerade so ist es mit der Erlösung. Gott hat sein Versprechen erfüllt. Er hat seinen Sohn gesandt. Das Blut ist geflossen. Alles ist vollbracht. Der Friede ist gemacht und wird dir verkündigt. Möge deshalb Gott dein Herz öffnen, um diesen Frieden dankbar entgegen zu nehmen, auf Grund des untrüglichen Zeugnisses des Gottes, der Jesus aus den Toten auferweckt hat!

Ach, wie töricht ist es, sich mit irgendetwas anderem zu beschäftigen, was es auch sein möge! Wie töricht. Zu den Verheißungen zurückkehren zu wollen, als wenn Gott noch etwas zu tun hätte, um den Sünder erretten zu können! Das Werk ist vollbracht. Das Opferlamm Gottes ist geschlachtet, sein Blut ist vergossen worden; und Gott sieht das Blut. Ich frage dich: Hast du wirklich deine Zuflucht zu diesem Blut genommen? Kannst du sagen, dass das kostbare Blut Christi die einzige Grundlage deines Vertrauens bildet? Wenn das der Fall ist, so ist es auch ganz gewiss, dass du ein ewiges Teil an diesem Blut Haft. Du bist dann erlöst durch dieses Blut, entsprechend dem unendlichen Werte, welchen der Tod Christi in den Augen Gottes hat. Darum beschäftige dich nicht mehr mit dir selbst, mit deinen Gefühlen oder deinem Glauben. Ruhe einfältig in dem vollendeten Werke Christi und in dem Zeugnis Gottes über den Wert, den dieses Werk für Ihn hat. Stehe auf und verlas Ägypten! Ziehe aus, die Lenden umgürtet und den Stab in der Hand, als ein Erlöster des Herrn! Nimm von den Banden, dem Dienst und der Welt Satans für ewig Abschied! Du gehörst nicht länger dir selbst an, sondern du bist um einen Preis erkauft, und um welch einen Preis! Christus starb, der Gerechte für die Ungerechten, um uns zu Gott zu führen.

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