Botschafter des Heils in Christo 1887

Wache auf, der du schläfst!

„Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den Toten, und der Christus wird dir leuchten!“ (Eph 5,14) Diese ernste Ermahnung erhält ein umso größeres Gewicht durch die Tatsache, dass sie sich an Gläubige richtet, denen ihre Stellung in Christus gemäß den Ratschlüssen Gottes offenbart war. Sie kannten diese Stellung und die erhabenen Vorrechte, welche sich an dieselbe knüpften. Sie kannten Gott als ihren Gott und Vater in Christus Jesus und wussten, dass sie gemäß ihrer Stellung in Christus heilig und tadellos vor Gott standen, und dass sie seine Kinder waren. Mit Recht kann von solchen ein Wandel erwartet werden, wie ihn unser Kapitel bezeichnet; ein Wandel, der als eine natürliche Folge aus dem Bewusstsein dieser erhabenen Stellung hervorgeht. Aber die oben angeführte Ermahnung zeigt uns, dass der Gläubige das Bewusstsein seiner Stellung und der damit verbundenen Vorrechte verlieren und moralischerweise in einen Zustand des Schlafes verfallen kann. Der Schlaf ist ein Bild des Todes. Ein schlafender Mensch vernimmt ebenso wenig von dem, was um ihn her vorgeht, wie ein Toter. Wie dieser sieht er nichts von den Schönheiten und Reizen der Schöpfung Gottes, wenngleich die Sonne hoch am Himmel stehen und mit ihrem Lichtglanz Flur und Wald bestrahlen mag. So kann auch ein Gläubiger in einen Zustand kommen, der ihn verhindert, von den Schönheiten und Reizen der neuen Schöpfung mehr zu genießen, als ein natürlicher Mensch, der doch nach dem Urteil Gottes „tot“ ist und von geistlichen Dingen nichts zu erkennen vermag; so dass der Gläubige in dieser Beziehung mit jenem auf gleicher Stufe steht. Vielleicht führt er nicht gerade einen unmoralischen Wandel, aber es ist auch kein himmlischer Wandel; denn sein Herz ist in den Dingen dieser Welt. Diese bilden seinen „Schatz“, und wo unser Schatz ist, da ist auch unser Herz. Sein Wandel ist irdisch und seine Gesinnung weltlich. Er steht nicht im Einklang mit seiner himmlischen Berufung und ist nicht ein „Nachahmer Gottes“, der „in Liebe“ und als ein „Kind des Lichtes“ wandelt; denn Gott ist Licht und Liebe.

In dem Herzen eines solchen Gläubigen hat Christus keinen Platz mehr. Nicht dass er den Herrn geradezu verachtete oder nie mehr an Ihn dächte; aber er kennt ihn gleichsam nur als einen Nothelfer, und besitzt Ihn nicht als den Gegenstand seiner Freude und Wonne. Als solchen kann er Ihn tagelang entbehren, ohne Ihn auch nur einmal zu vermissen. Andere Dinge nehmen von früh bis spät sein Herz ein und haben mehr Wichtigkeit für ihn als Christus. Jene und nicht dieser sind die Beweggründe und der Zweck seines Lebens; ihnen widmet er sein Dasein und opfert er seine Kräfte. Die Sprache: „denn das Leben ist für mich Christus“, liegt ihm ganz und gar fern und scheint ihm unerreichbar zu sein.

Ebenso unerreichbar erscheint ihm die Verwirklichung seiner Stellung in den himmlischen Örtern, obwohl er sie der Lehre nach vielleicht kennen mag. Er weiß, dass er ein Kind Gottes, und dass Gott sein Vater ist; aber dieses Bewusstsein vermag ihn nicht glücklich zu machen, noch ihn von seinen beständigen Sorgen, Befürchtungen und leider auch von seinem Misstrauen gegen diesen ihn so innig liebenden Vater zu befreien. Gleich dem verlorenen Sohn bringt er, fern von dem Herzen und dem Haus des Vaters, sein Leben in Kummer und Sorgen zu, indem er nichts sieht als den Mangel und die Entbehrungen der Wüste. Oder er verlebt, was ebenso traurig ist, seine Tage in Gleichgültigkeit, Leichtfertigkeit und Weltsinn und sucht mit dem, was die Welt ihm darbietet, die Leere seines Herzens auszufüllen. Wie traurig ist ein solcher Zustand!

Ein solcher Christ führt in der Tat nicht nur kein glückliches, sondern vielmehr ein verlorenes Leben, ein Leben, das seinen eigentlichen Zweck verfehlt. Ebenso ist der hohe Preis, den Christus zu diesem Zweck für ihn erlegt hat, gleichfalls verloren. Wie ernst ist das! Wie ernst der Gedanke, dass der Tod Christi in dieser Beziehung für einen solchen vergeblich war! Der Leser wolle mich wohl verstehen; ich sage nicht, vergeblich betreffs seiner Errettung, denn das ist unmöglich; wohl aber vergeblich betreffs des oben genannten Zweckes, betreffs des Lebens und Zeugnisses für Ihn, der uns so teuer erkauft hat. Denn es steht geschrieben, dass Christus „sich selbst für uns gegeben hat, auf dass Er uns loskaufte von aller Gesetzlosigkeit und reinigte sich selbst ein Eigentumsvolk, eifrig in guten Werken“ (Tit 2,14). Und wiederum: „Denn ihr seid um einen Preis erkauft; verherrlicht nun Gott an eurem Leib“ (1. Kor 6,20). Und ferner: „Welcher selbst unsere Sünden an seinem Leib auf das Holz getragen hat, auf dass wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben, durch dessen Striemen ihr heil geworden seid“ (1. Pet 2,24). Man könnte die Zahl solcher Stellen leicht vermehren; aber diese genügen, um zu zeigen, dass Christus nicht allein für uns starb, um uns zu erretten, sondern auch um uns zu seinen Dienern und zu Zeugen seiner Herrlichkeit zu haben. Man bedenke wohl, was es sagen will, dass Er, um diesen Zweck bei uns zu erreichen, sterben musste. Wie tief schmerzlich muss es nun für sein liebendes Herz sein, wenn alle seine Mühe und Arbeit, sein Tod, sein unergründliches Leiden, die Angst seiner heiligen Seele, wenn alles das für einen der Seinen in dieser Beziehung vergeblich war! Und ach! trotzdem ist es so betreffs aller Gläubigen, die sich in dem oben beschriebenen Zustand befinden.

Geliebter Leser! sollte es dein Zustand sein, so gilt dir der Mahnruf: „Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den Toten, und der Christus wird dir leuchten!“ Das erste Zeichen deines Aufwachens wird sein, dass du diesen Mahnruf hörst und deinen traurigen Zustand erkennst. Als Folge davon wird zweitens ein ernstes, tiefes Selbstgericht in dir wachgerufen werden, und du wirst „aufstehen aus den Toten“, d. h. du wirst entschieden brechen mit diesem irdisch gesinnten, verweltlichten Zustand. Und alsdann wird drittens „Christus dir leuchten“ – du wirst Ihn erkennen in seiner Kostbarkeit und Schönheit, und Er wird das helle Licht deines Weges sein. Die eitlen, nichtigen Dinge dieser Welt werden von diesem Augenblick an ihren Wert für dich verlieren und Ihm, dem teuren Herrn, Platz machen in deinem Herzen. Du wirst in Wahrheit glücklich sein und mit dem Apostel sagen können: „Unser Wandel ist in den Himmeln“; denn dort ist dann der Gegenstand deines Herzens, deiner Freude, deiner Lust und Wonne; und „wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz.“

Bedenke indessen, geliebter Leser, dass dir nur dann Christus leuchten wird, wenn die beiden ersten Dinge bei dir eingetroffen sind. Solltest du wirklich aufwachen, und dennoch kein „Aufstehen aus den Toten“, kein entschiedener Bruch mit deiner irdischen Gesinnung stattfinden, so sei versichert, dass du bald wieder in deinen alten Zustand des „Schlafes“ zurückfallen wirst. Erst dann, wenn Christus dir leuchtet, wirst du gründlich geheilt sein; erst dann wird dein Zustand im Einklang stehen mit den Gedanken Gottes und mit deiner himmlischen Berufung, indem du in Ihm einen Ersatz gefunden hast, der dich alles für Ihn „einbüßen und für Dreck achten lässt“ (Phil 3). Alsdann wirst du deinen Platz als ein Auferstandener mit Christus nicht mehr in dem Bereich der Toten, sondern in dem der Lebendigen einnehmen. Möge dir daher der Herr Gnade zu einem ernsten und tiefen Selbstgericht geben!

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