Botschafter des Heils in Christo 1887

Ein Wort zur Beherzigung

Zu den wesentlichsten Bedingungen eines gesunden Glaubenslebens gehört, wie wir alle wissen, ein beständiges und ernstes Wachen und Beten. Ohne das ist ein geistliches Wachstum in persönlicher und gemeinschaftlicher Beziehung, sowie eine gesegnete und gedeihliche Wirksamkeit in dem Dienst des Herrn unmöglich. Darum nahm auch in dem Dienst der Apostel und in den Versammlungen der Gläubigen der ersten Tage das Gebet den ersten Platz ein. „Wir aber“, sagten die Apostel, „werden im Gebet und im Dienst des Wortes verharren“ (Apg 6,4). Wie wichtig der Dienst des Wortes auch sein mochte, so stand er doch erst in zweiter Linie. Die Apostel fühlten tief ihre Abhängigkeit von dem Herrn und wussten, dass sie nur dann im Dienst gesegnet sein konnten, wenn sie in stetem, ununterbrochenem Verkehr mit Ihm blieben. Auch wissen wir aus dem Wort Gottes, dass das Gebet den weitaus größten Teil der Wirksamkeit des Apostels Paulus ausmachte. Ebenso lesen wir von den Gläubigen der ersten Tage: „Sie verharrten aber in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und in den Gebeten“ (Apg 2,42).

Wie ganz anders ist es in dieser Beziehung in unseren Tagen! Wenn es auch einzelne rühmliche Ausnahmen geben mag, so müssen wir doch zu unserer Beschämung und tiefen Demütigung bekennen, dass das zusammenkommen zum Gebet im Allgemeinen nicht den hervorragenden Platz unter uns hat, den es haben sollte, sondern im Gegenteil viel vernachlässigt und sogar in manchen Versammlungen gänzlich versäumt wird. Was aber wird in praktischer Beziehung die Folge eines solchen Zustandes sein? Was wird aus Christen oder Versammlungen, selbst den begabtesten und bevorzugtesten, werden, wenn sie die Gebetsversammlungen in den Hintergrund drängen, unter dem Vorwand, dass solche bei regelmäßiger Wiederholung leicht zur Gewohnheit werden könnten, oder weil die Meisten kein Interesse dafür haben und einen Vortrag vorziehen? Es sind das ohne Zweifel die charakteristischen Merkmale einer falschen Sicherheit und einer schlimmen Selbsttäuschung, die eine ernste Sichtung zur Folge haben können.

Geliebte Brüder! Wenn es je eine Zeit gab, wo die Christen nötig hatten, sich zu einmütigem Gebet und Flehen zu versammeln, so ist es die gegenwärtige. Nicht weil es eine Zeit schrecklicher Verfolgungen ist, sondern weil der Feind die größten Anstrengungen macht, um die Christen in eine falsche Sicherheit einzuwiegen. Diese Tatsache allein bietet schon Grund genug, um uns mit allem Ernst im Gebet vor dem Herrn zu vereinigen. Wie unschätzbar auch die Erkenntnis der Wahrheit ist, welche uns der Herr nach seiner reichen Gnade in diesen letzten Tagen geschenkt hat, so kann diese uns dennoch nicht schützen vor innerem und äußerem Verfall, wenn wir nicht klein bleiben in unseren Augen, und im Gefühl unserer Schwachheit beständig unsere Hilfe bei dem Herrn suchen. Die Geschichte der Kirche bestätigt das in der feierlichsten Weise. Sie ist nicht gefallen aus Mangel an Erkenntnis, sondern weil es dem Feind gelungen ist, sie in eine falsche Sicherheit einzuwiegen. Dasselbe bestätigen uns auch die traurigen Erfahrungen, welche die Versammlungen anderer Länder in unseren Tagen gemacht haben, die ebenfalls reich an Erkenntnis der Wahrheit sind. Darum tut es Not, dass wir uns nicht allein regelmäßig in bestimmten Stunden zum Gebet versammeln, sondern dass wir diesem zusammenkommen nächst dem Brotbrechen auch den ersten Platz einräumen. Eine Nachlässigkeit oder gar Gleichgültigkeit gegenüber dem persönlichen oder gemeinschaftlichen Gebet wird und muss über kurz oder lang die bittersten Früchte tragen.

Und wahrlich, außer der uns drohenden Gefahr einer falschen Sicherheit gibt es noch Grund genug, um die Gläubigen zu einmütigem und ernstlichem Gebet und Flehen anzuspornen. Niemand, selbst nicht ein Ungläubiger, leugnet den Ernst der Zeiten, der uns gegenwärtig auf allen Gebieten des Lebens entgegentritt. Für den Gläubigen aber gilt mehr als je der Zuruf des Herrn: „Ich komme bald: halte fest, was du hast, auf dass niemand deine Krone nehme!“ (Off 3,11) Die Gläubigen der Jetztzeit haben deshalb auch mehr als je nötig, in ihrem Gebet und Flehen nicht nachzulassen, damit sie wachend und bereit erfunden werden. Und wenn wir angesichts der in Eile herannahenden Gerichte an diejenigen denken, welche noch draußen sind, und besonders an die uns Nahestehenden, können wir da dem Gedanken Raum geben, dass wir unsere Knie zu viel und oft vor dem Herrn beugen könnten, oder dass es besser sei, einen Vortrag zu hören? Oder sollten wir deshalb, weil die Gefahr vorliegt, dass das Zusammenkommen zum Gebet zu einer Gewohnheitssache werden könnte, das Gute unterlassen? Sicher, wir haben alle Ursache, uns vor dem Herrn über die Lauheit und Trägheit zu demütigen, welche wir bisher betreffs des Gebets an den Tag gelegt haben, und an die ernste Ermahnung des Apostels zu gedenken: „Ich ermahne nun vor allen Dingen, dass Flehen, Gebete, Fürbitten, Danksagungen getan werden für alle Menschen, für Könige und alle, die in Hoheit sind, auf dass wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit. Denn dieses ist gut und angenehm vor unserem Heiland Gott, welcher will, dass alle Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. ... Ich will nun, dass die Männer an jedem Ort beten und heilige Hände aufheben, ohne Zorn und Zweifelnde Überlegung“ (1. Tim 2,1–4.8).

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