Botschafter des Heils in Christo 1887

Das Buch Jona - Teil 3/4

Sobald Jona aus dem Bauch des Fisches erlöst war, „geschah das Wort Jehovas zum anderen Male zu Jona und sprach: Mache dich auf, gehe nach Ninive, der großen Stadt, und rufe ihr den Ruf aus, den ich dir sagen werde.“ Denn wenn der Herr seinen Knecht mit seinem Sturm und Unwetter verfolgt und ihn in die Tiefe, in das Herz des Meeres geworfen hatte, so war es nur geschehen, um seine Seele wiederherzustellen und ihn in einen Zustand zu bringen, der ihn befähigte, das Gefäß des göttlichen Willens zu bilden. Dieser Zweck war jetzt erreicht, und Jona versuchte nicht noch einmal zu fliehen, sondern „er machte sich auf und ging nach Ninive, nach dem Wort Jehovas.“ Es ist stets so in den Wegen Gottes mit seinem Volk. Wenn wir uns von dem Pfad abwenden, welchen Er uns vorgezeichnet hat, so werden wir sicher und gewiss den Züchtigungen seiner Hand begegnen; und der Zweck seiner Wege mit uns ist nicht eher erreicht, als bis wir wieder auf den Pfad zurückgebracht sind, den wir verlassen haben, und bis wir durch die Gnade bereitgemacht sind, denselben zu wandeln. Wir finden diesen Grundsatz auch in den Worten des Psalmisten ausgedrückt: „Bevor ich gedemütigt ward, irrte ich; jetzt aber bewahre ich dein Wort“ (Ps 119,67).

Diese Lehre liegt gleichsam auf der Oberfläche der Geschichte des Propheten; aber als Vorbild betrachtet, hat der Inhalt unseres Kapitels eine tiefere Bedeutung. Jona ist in bildlichem Sinn ein auferstandener Mensch; denn er sagt: „Ich schrie aus dem Bauch des Scheol.“ Jehova hatte ihn gleichsam durch den Tod gehen lassen; und in Verbindung damit dürfen wir nicht vergessen, dass Jona in dieser Stellung ein Bild des jüdischen Überrestes war. Wir haben deshalb hier eine doppelte vorbildliche Bedeutung. Israel wird, in der Person Jonas, wegen seiner Untreue als Gefäß des Zeugnisses beiseitegesetzt. Nach menschlichem Urteil ist das Licht ausgelöscht, und alle Hoffnung für die Welt ist auf immer dahin. Als alle die Wogen und Wellen des göttlichen Zornes über das Haupt derer hinrollten, welche Er zu seinen Zeugen auf der Erde erwählt hatte, da schien die Möglichkeit irgendeines ferneren Zeugnisses in der Welt völlig abgeschnitten zu sein. Wir könnten mit dem Psalmisten fragen: „Wirst du an den Toten Wunder tun? Oder werden die Schatten aufstehen, dich preisen? Wird deine Güte erzählt werden im Grab, im Verderben deine Treue? Werden in der Finsternis bekannt werden deine Wunder, und deine Gerechtigkeit in dem Land der Vergessenheit?“ (Ps 88,10–12)

Die Antwort auf diese Fragen wird nur in dem Tod und der Auferstehung Christi gefunden. Alle Hoffnung, soweit sie sich auf die Verantwortlichkeit des Menschen gründete, war in der Tat verschwunden. Aber Gott sandte in seiner Gnade und Huld seinen geliebten Sohn; dieser kam und machte sich eins mit seinem Wolke, stieg in seinem Erbarmen auf den Platz herab, wo sie, tot in Sünden und Übertretungen, lagen, und Er starb, indem Er ihre ganze Verantwortlichkeit auf sich lud, um auf diese Weise Gott gerade da zu verherrlichen, wo sie Ihn verunehrt hatten. Er selbst sagte einst zu den Schriftgelehrten und Pharisäern: „Gleichwie Jona drei Tage und drei Nächte in dem Bauch des großen Fisches war, also wird der Sohn des Menschen (der Verworfene) drei Tage und drei Nächte in dem Herzen der Erde sein“ (Mt 12,40). Aber es war unmöglich, dass Er von dem Tod behalten wurde, unmöglich im Blick auf die Herrlichkeit Gottes sowohl, als auch auf die Rechte seiner eignen Person; und deshalb stand Er am dritten Tage als der Erstgeborene aus den Toten wieder auf, und von Ihm, als dem Auferstandenen, wird Jona jetzt ein Vorbild. Als der Auferstandene ist Christus obwohl (Er dies ja stets war) der treue und wahrhaftige Zeuge; und da Israel jetzt beiseitegesetzt ist, so kann Er, in der Erfüllung der Absichten Gottes, vor den Nationen Zeugnis ablegen, und das Resultat dieses Zeugnisses zeigt (hier im Bild), dass „die Verstoßung der Juden die Versöhnung der Welt ist“ (Röm 11).

Jona ist jetzt gehorsam und geht nach Ninive; aber bevor wir etwas von seiner Predigt hören, macht der Heilige Geist eine Pause, um die Aufmerksamkeit auf die Größe der Stadt zu lenken. „Ninive war eine außerordentlich große Stadt, von drei Tagereisen.“ Das ist die Frucht der Tätigkeit des Menschen in seiner Entfremdung von Gott, des Menschen, der sich der Größe, des Glanzes und der Pracht seiner Werke rühmt und versucht ist, mit Nebukadnezar zu fragen: „Ist das nicht das große Babel, das ich erbaut habe zu einem Haus des Königreichs durch die Stärke meiner Macht und zur Ehre meiner Herrlichkeit?“ (Dan 4) Und berauscht von seinem eignen Stolz, geht er sorglos dahin, selbst wenn er daran erinnert wird, dass das Gericht Gottes über alle seine Werke ausgesprochen ist. Jona war der Ankündiger dieses Gerichts, indem er angesichts der Herrlichkeit und des Glanzes der Welt ausrief: „Noch vierzig Tage, so ist Ninive umgekehrt!“

Der Charakter der Botschaft Jonas ist beachtenswert. Sie enthält ausschließlich eine Ankündigung des Gerichts, nicht ein Wort von Gnade, selbst nicht für den Fall, dass die Niniviten Buße tun würden. Dies mag auf den ersten Blick befremdend erscheinen; aber wir müssen uns daran erinnern, dass Jonas Predigt nur auf die Regierung Gottes betreffs der Erde Bezug hatte. Überhaupt redeten die Propheten des Alten Testaments nicht von der Ewigkeit, in neutestamentlichem Sinn; d. h. die angedrohten Gerichte oder die unter der Bedingung des Gehorsams verheißenen Segnungen waren nicht ewig, sondern auf diese Welt beschränkt. Das endliche, ewige Gericht, in welchem die Geheimnisse aller Herzen offenbart werden, lag nicht in dem Bereich ihres Dienstes. In Verbindung stehend mit dem Reich, redeten sie nur von den Wegen, den Ansprüchen und der Regierung Gottes, wie dieselben auf dem Schauplatz dieser Erde sich entfaltet haben oder noch entfalten werden.

In vorbildlichem Sinn betrachtet, hat die Botschaft Jonas noch eine andere Bedeutung. Die Zahl vierzig hat in dem Wort Gottes einen bestimmten Sinn, wie wir dies aus der vierzigjährigen Wanderung der Kinder Israel in der Wüste, aus der vierzigtägigen Versuchung des Herrn durch Satan usw. ersehen können. Sie bezeichnet einen Zeitabschnitt völliger Prüfung. Wenn wir diesen Sinn der Zahl auch auf die vorliegende Stelle anwenden und uns dabei erinnern, dass Ninive die Welt darstellt (vor allem in ihrer stolzen Erhebung gegen Gott), so haben wir einfach die Ankündigung der Tatsache, dass die Welt, nachdem sie nach jeder Seite hin völlig erprobt ist, zerstört werden wird. Das Kreuz Christi bildet den Höhepunkt der Prüfung, welcher Gott die Welt unterworfen hat, und deshalb vernehmen wir aus dem Mund des Herrn, wenige Stunden vor seiner Verwerfung, die Worte: „Jetzt ist das Gericht dieser Welt.“ In dem Tod Christi ist ein unwiderrufliches Gericht über diese Welt ausgesprochen worden; denn Gott stellte durch diesen Tod den hoffnungslosen Charakter des Bösen, der Welt, vor allen ans Licht, insofern die Welt sich in der Kreuzigung des geliebten Sohnes Gottes völlig der Führung Satans überließ. Allerdings hat Gott die Ausführung des Gerichts bis heute zurückgehalten, da in dem Tod Christi zugleich die Grundlage gelegt wurde, auf welcher Gott gerechter Weise derselben Welt, in ihrem schuldigen und verlorenen Zustand, Heil anbieten und seine Gnadenratschlüsse in der Erlösung erfüllen kann. Aber das Gericht ist nicht widerrufen worden, und kann nicht widerrufen werden, da die Herrlichkeit Gottes selbst in Frage steht. Es ist nur aufgeschoben, weil der Herr „langmütig ist gegen uns, da Er nicht will, dass irgendwelche verloren gehen, sondern dass alle zur Buße kommen.“ „Aber“, fährt Petrus weiter fort, „der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb, an welchem die Himmel vergehen werden mit gewaltigem Geräusch, die Elemente aber im Brand aufgelöst und die Erde und die Werke auf ihr verbrannt werden“ (2. Pet 3,9–10). Ja, es bleibt wahr: „Noch vierzig Tage, so ist Ninive umgekehrt!“

Die Wirkung der Predigt des Propheten war eine wunderbare. Wir lesen: „Und die Leute von Ninive glaubten Gott, und riefen ein Fasten aus, und kleideten sich mit Säcken, von ihrem Größten bis zu ihrem Kleinsten“ (V 5). Es war eine wahre, aufrichtige Umkehr und Buße, welche bei dem König ihren Anfang nahm. Als er das Wort Jonas hörte, „stand er von seinem Thron auf und legte seinen Mantel ab, und er bedeckte sich mit einem Sack und saß auf der Asche.“ Mehr noch; in Verbindung mit seinen Großen erließ er einen Befehl, dass weder Menschen noch Vieh, weder Rinder noch Schafe irgendetwas kosten sollten; sie sollten nicht weiden und nicht Wasser trinken. Mit einem Wort, ein allgemeines Fasten wurde ausgerufen. Alle sollten sich mit Sacktuch bedecken, heftig zu Gott rufen und von ihren bösen Wegen umkehren; vielleicht möchte sich Gott von der Glut seines Zornes wenden und sie nicht verderben.

Dem Leser wird es nicht entgangen sein, dass in diesem Kapitel der Name Jehovas (mit Ausnahme des 1. Verses) gar nicht erwähnt wird. Die Bewohner von Ninive glaubten an Gott, und auch der König redet nur von Gott. Im ersten Kapitel riefen die Seeleute zu Jehova, weil es sich dort um die richterliche Offenbarung der Herrlichkeit Jehovas in seiner Beziehung zu den Juden handelte. Hier aber handelt es sich um die Welt in ihrer Beziehung zu Gott, dem Schöpfer Himmels und der Erde; das wird den Unterschied erklären und zugleich den Grund zeigen, weshalb in diesem Kapitel auch das Vieh erwähnt wird. Es handelt sich gleichsam um die ganze Schöpfung; denn dereinst wird auch die ganze Schöpfung freigemacht werden von der Knechtschaft des Verderbnisses zu der Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes (Röm 8).

Der Herr Jesus weist einmal in sehr treffender Weise auf diese Buße der Niniviten hin. „Männer von Ninive“, sagt Er, „werden aufstehen im Gericht mit diesem Geschlecht und werden es verdammen, denn sie taten Buße auf die Predigt Jonas; und siehe, mehr als Jona ist hier“ (Mt 12,41). Es war in der Tat ein schlagender Beweis von der Herzenshärtigkeit derer, zu welchen Er kam mit der Predigt der Buße, weil das Reich der Himmel nahegekommen war (Mt 4,17), dass sie seinen Worten gegenüber völlig gefühllos blieben, obwohl dieselben durch die Wunder, die Er in ihrer Mitte tat, bekräftigt und bestätigt wurden. Die Niniviten waren Heiden; die Juden bildeten das auserwählte Volk Gottes, und der in ihrer Mitte stand, war ihr eigener Messias, ja, ihr Jehova–Heiland; aber ihre Ohren blieben taub gegenüber den eindringlichen Ermahnungen und zärtlichen Bitten ihres Herrn und Meisters (vgl. Mt 23,37). Klarer hätte die völlige Verderbtheit ihrer Herzen nicht erwiesen werden können, als durch diesen Vergleich mit Ninive. Aber, möchten wir fragen, sind die Menschen in der gegenwärtigen Zeit anders und besser? In Verbindung mit dem Dienst der Versöhnung, der unter der Barmherzigkeit Gottes immer noch ausgeübt wird, ergeht der Ruf an die Welt: „Noch vierzig Tage, so ist Ninive umgekehrt!“ Aber wer achtet darauf? Hie und da gibt es einige, deren Ohren und Herzen durch die Gnade geöffnet werden; aber die große Masse, die Welt, ist heute noch ebenso gefühllos, wie sie es war in den Tagen unseres Herrn. Nehmen wir an, es würde heute ein von Gott gesandter Bote in der Mitte einer unserer großen Weltstädte mit der Botschaft Jonas auftreten, welche Aufnahme würde er finden? Wir behaupten nicht zu viel, wenn wir sagen, dass man ihn als einen Toren oder einen Wahnsinnigen behandeln würde. Ach, wenn es doch besser verstanden würde, dass vermehrtes Licht und größere Vorrechte nur ein umso höheres Maß von Verantwortlichkeit und ein umso schwereres Gericht bedingen, wenn das Licht zurückgewiesen und die Vorrechte verachtet werden! Welch ein schönes Schauspiel ist daher diese aufrichtige Buße der Niniviten, und welch ein liebliches Bild von jener Zeit, wann die Nationen mit einem Sinn dem Herrn dienen werden!

Das Kapitel schließt mit der Erzählung dessen, was Gott auf die Buße der Niniviten hin tat: „Und Gott sah ihre Werke, dass sie umkehrten von ihrem bösen Wege; und es reute Gott des Übels, das er geredet hatte, ihnen zu tun, und er tat es nicht.“ Hier sehen wir wieder, was in dem Herzen Gottes den Menschen gegenüber ist. Er hat kein Gefallen an dem Tod des Gottlosen. Wenn Er daher Gericht ankündigt, so tut Er es nur, um den Menschen von seinem bösen Wege abzuwenden. Die Bewohner von Ninive wussten nicht, was Gott tun würde. Sie sagten nur: „Wer weiß? Gott möchte sich wenden und sich es gereuen lassen.“ Aber Gott antwortete diesem schwachen Glauben, wie Er es immer tut, und bewahrte sie vor dem drohenden Gericht. Wir brauchen kaum zu sagen, dass es nur eine menschliche Redeweise ist, wenn es von Gott heißt: „Er ließ sich es gereuen“, oder: „es reute Ihn.“ Sein Wunsch war, von Seiten der Niniviten Buße hervorzurufen; und nachdem das geschehen war, konnte Er, in Übereinstimmung mit seinen Regierungswegen, Mitleid und Vergebung offenbaren. Welch eine Ermunterung liegt in dieser Geschichte für den zitternden, bußfertigen Sünder!

Wir lesen in Johannes 3,36: „Wer dem Sohn nicht glaubt, wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm.“ Aber gepriesen sei der Name unseres Gottes und Vaters! es steht auch geschrieben: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört, und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tod in das Leben hinübergegangen“ (Joh 5,24).

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