Botschafter des Heils in Christo 1887

"Lieber will ich weniger verdienen"

Vor einiger Zeit besuchte der Schreiber dieser Zeilen einen Schuhmacher in seiner kleinen Werkstatt. Derselbe war seit etwa sechs Jahren bekehrt und hatte stets ein einfältiges und treues Zeugnis für seinen Herrn abgelegt. Wir unterhielten uns längere Zeit über die Liebe und Güte des Herrn und über seine wunderbaren Wege mit den Seinen. Als ich mich endlich verabschieden wollte, bat er mich, noch einen Augenblick zu bleiben, und erzählte mir dann ungefähr Folgendes:

Ich habe in den verflossenen Jahren einige ernste Seelenübungen durchzukämpfen gehabt. Als ich bekehrt wurde und den Herrn Jesus Christus als meinen Heiland kennen lernte, da dachte ich, jetzt würde es mir sicher auch in meinem kleinen Geschäft besser gehen. Wohl hatte ich bis dahin mein Auskommen gehabt, aber ich war doch nicht vorangekommen, wie man zu sagen pflegt. Allein ich sah mich bald in meinen Hoffnungen getäuscht; anstatt zuzunehmen, nahm mein Verdienst ab. Im ersten Jahre verdiente ich durchschnittlich drei Mark die Woche weniger, im zweiten ebenfalls, und im dritten gar vier Mark; und vor einem Jahr etwa wurde mein Verdienst so gering, dass ich dachte, ich müsse mein Geschäft aufgeben und mir andere Arbeit suchen. Der Gedanke war nicht leicht für mich; denn hier in dieser Werkstätte habe ich Frieden gefunden, und hier habe ich die Nähe des Herrn so manches Mal reichlich genossen. Indes schien mir kein anderer Weg übrigzubleiben. Ich ging deshalb zu Herrn M., einem lieben Christen, der eine hervorragende Stellung in einem hiesigen Fabrikgeschäft einnimmt, teilte ihm meine Lage mit und fragte ihn, ob er mir nicht eine paffende Beschäftigung verschaffen könne. Er versprach mir, sobald ein Platz frei würde, an mich zu denken.

Doch nicht lange nachher kam ich in große Unruhe. In meinem Herzen erhoben sich die Fragen: Ist das, was du zu tun gedenkst, nach dem wohlgefälligen Willen des Herrn, oder folgst du deinem eignen Willen? Leitet Er dich an, deine bisherige Beschäftigung aufzugeben und eine andere zu suchen? Hast du nicht hier in deiner einsamen Werkstätte so viel und oft die Gegenwart des Herrn genossen? – zu gleicher Zeit schien es mir, als wenn der Herr selbst zu mir gesagt hätte: Was willst du wählen? Willst du in die Fabrik geben und dort Tag für Tag mit einer Menge gottloser Menschen zusammen sein mit einem hohen Lohn? Oder willst du hier in diesem Winkel bleiben und meine Gegenwart genießen mit einem geringen Verdienst? – das waren ernste Fragen. Mehrere Tage hindurch beschäftigten sie mich unaufhörlich. Ich überlegte, wie schwach ich sei und wie leicht ich mich verleiten ließe, und der Gedanke gewann immer festere Gestalt in mir, dass ich in der Fabrik vielleicht bald den schmalen Pfad verfehlen und die köstliche Gemeinschaft meines Herrn verlieren würde. Endlich sagte ich: „Nun Herr, lass mich deine Gegenwart genießen, selbst wenn es mit einem schwachen Verdienst sein muss; lieber will ich weniger verdienen, als den Genuss deiner Gemeinschaft verlieren!“ Von diesem Augenblick an war ich vollkommen ruhig und bat Herrn M., sich nicht weiter um mich bemühen zu wollen. Und ist es nicht bemerkenswert? Seit jener Stunde habe ich viel mehr Arbeit und Verdienst gehabt als seit langer Zeit!

Mit diesen Worten schloss der Schuhmacher seine Erzählung, und ich muss sagen, dass ich kein anderes Resultat erwartet hatte. Ach, möchte eine solche Einfalt und Treue mehr unter uns gefunden werden! Gerade das Begehren und Bestreben, in der Welt voranzukommen, ist eines der größten Hindernisse für die Seelen der Gläubigen. Die Folge davon ist, dass der Herr den Ihm gebührenden Platz im Herzen verliert; und so viele Entschuldigungen auch gemacht werden mögen, so lautet die Frage an einen jeden Einzelnen von uns doch tatsächlich so: „Suchst du irdischen Gewinn, oder den Genuss der Gegenwart des Herrn? – Ist die Gemeinschaft mit Ihm der höchste Wunsch deines Herzens, oder kommt er erst in zweiter oder gar dritter Linie?“ Möchten wir alle in der Gegenwart des Herrn eine aufrichtige Antwort auf diese Frage geben! Wir sind so geneigt, uns selbst zu täuschen und zu betrügen. Wenn weltliche Vorteile und irdischer Gewinn als das Erste und Wichtigste von uns betrachtet werden, dann brauchen wir uns nicht zu verwundern, wenn wir uns weiter und weiter aus der Gegenwart des Herrn verlieren. Aber wenn wir bereit sind, um seinetwillen etwas zu verlieren und alles aufzugeben, was unseren Genuss seiner Gemeinschaft hindert, so dürfen wir versichert sein, dass Er es uns nicht an Nahrung und Kleidung fehlen lassen wird. Der Herr verheißt uns nicht Reichtümer in dieser Welt, aber ewig wahr bleibt sein Wort: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, und dies alles nämlich (Nahrung und Kleidung) wird euch dazu gegeben werden“ (Mt 6,31–33).

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