Wenn die Mauer des Schweigens bricht ...
Hilfe für misshandelte Kinderseelen

Mittäter, Erst- oder Mitwisser

Wenn die Mauer des Schweigens bricht ...

Zuweilen kommt es vor, dass bestimmte Personen von einem solchen Missbrauch Kenntnis erhalten. Dann sind sie dafür verantwortlich, dieses Wissen an eine geeignete Person weiterzugeben, ansonsten machen sie sich selbst mitschuldig. Sehr viel hängt davon ab, ob eine geeignete Person im näheren Umfeld bekannt ist. Es ist bei diesem Thema in der Tat sehr wichtig, dass man sich nicht „gehen“ lässt und von solch spektakulären Dingen jeden informiert. Dazu ist der Anlass viel zu traurig und ernst. Wir müssen aber bedenken, dass es sich um eine sehr schlimme Sünde handelt, bei der sogar Strafgesetze gebrochen worden sind. Aus diesem Grund darf man derartige Kenntnisse nicht leichtfertig verdrängen, ohne sie weiterzugeben.

Häufig ist es natürlich so, dass man nur einen Verdacht hat, dass jemand (s)ein Kind missbraucht. Hier ist größte Vorsicht und Sorgfalt nötig. Wenn man beispielsweise ein „abnormales“ Verhalten bei einem Kind feststellt, dann sollte man dies nicht per se als Anstellerei abtun, sondern eine Zeitlang sehr genau beobachten. Scheinbar grundloses Weinen kann z.B. tief liegende Ursachen haben – muss es aber natürlich nicht! Deshalb ist es wichtig, dass man zunächst versucht, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, so dass das Kind das Gefühl bekommt, auch „ungewöhnliche“ Dinge ansprechen zu können.

Vorsichtig fragen

Man kann auch vorsichtige Vorstöße wagen, wenn man eine Vermutung hat, sollte jedoch nicht weiterdrängen, wenn sich das Kind weigert, aus sich herauszukommen. Es ist dann einfach noch nicht so weit, aber es spürt das ehrliche Interesse und wird dann (normalerweise) zu seiner Zeit mit den Problemen rausrücken. Wenn man sich selbst zu unsicher in der ganzen Situation fühlt, schaltet man am besten einen Hirten oder Seelsorger ein, der die Gabe von dem Herrn hat, sich mit solchen Fällen auf eine gottgemäße Art und Weise zu beschäftigen. Noch einmal: Gebe Gott, dass sich mehr Christen bereit finden, solch schwierige Aufgaben zu übernehmen.

Wie reagiere ich nun, wenn mir ein Betroffener bzw. jemand, der von einem Betroffenen unterrichtet wurde, von einem Fall des Missbrauchs berichtet? Wichtig ist zunächst einmal, nicht zu sagen: „Das glaube ich nicht.“ Diese Reaktion hat leider dazu geführt, dass dieses Problem immer noch vielfach „totgeschwiegen“ wird. Damit soll natürlich auch keiner Vorverurteilung das Wort geredet werden.

Man könnte sich selbst die Frage stellen: Hat die Person irgendein offensichtliches Motiv zum Lügen? Dass der Täter eines hat, indem er alles abstreitet, liegt auf der Hand. Aber wenn beim Opfer weit und breit kein Motiv wie zum Beispiel Rache zu sehen ist, sollte das schon nachdenklich machen. Und selbst wenn ein Motiv möglich sein sollte, darf man nie sofort unterstellen, dass dieser Beweggrund zum Lügen geführt hat. Sonst werden wir zu der Wahrheit in einem solchen Missbrauchsfall womöglich nie mehr vordringen.

Daher ist es wichtig, eine Äußerung von jemandem, der (möglicherweise) missbraucht wurde, ernst zu nehmen, selbst wenn alles sehr unglaubwürdig klingt. Und Kinder merken sehr schnell, ob man sie ernst nimmt oder nicht. Dann sollte, insbesondere wenn es sich um einen Betroffenen handelt, Verständnis gezeigt werden. Schließlich ist anzuraten, einen Seelsorger, oder gegebenenfalls einen Arzt einzuschalten.

Der Verdacht bestätigt sich

Sollte sich der Verdacht bestätigen, fängt die eigentliche Arbeit erst an, denn nun braucht das Opfer noch mehr Zuwendung und auch ein Gefühl der Sicherheit, denn es hat ja – aus seiner Sicht – die Grundregel Nr. 1 übertreten, niemals und zu keinem Menschen „davon“ zu reden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, dass der „Druck“ von Seiten des Täters nicht unbedingt körperlich ausgeübt werden muss, er kann auch als Psycho-Terror (Liebesentzug) angewandt werden, was sich auf Dauer noch verheerender auf das Opfer auswirkt, da es später oft das Gefühl hat, die Sache sei doch nicht so schlimm, dass man sie offenbaren müsse, da ja keine Gewalt angewandt wurde.

So kommt in dieser Phase eine weitere Schwierigkeit hinzu: Das Opfer kann sich gar nicht vorstellen, bedingungslos angenommen und akzeptiert zu werden, da es sich ja bis jetzt immer alles „erkaufen“ musste, denn Leistung verlangte Gegenleistung; und das kann man auch gut ohne Worte vermitteln.

Häufig haben die Opfer überhaupt kein Selbstwertgefühl und keine Selbstachtung mehr. Daher kostet es eine unheimliche Überwindung, sich wirklich auszusprechen. Dann kommt ja das ganze Problem nochmals in geballter Form zurück. Auch hierin sind große Sensibilität und Einfühlungsvermögen nötig. Und: Man sollte angesichts der Tragik nicht gleich vom Stuhl fallen oder ungläubig reagieren, sondern ruhig und verständnisvoll bleiben.

Hilfsmittel

Im Übrigen kann es im Verhältnis zu dem Opfer sinnvoll sein, sich passende Literatur zu diesem Thema zu besorgen. Dadurch kann man dem Opfer deutlich machen, dass man die Sache ernst nimmt und wirklich helfen will. Häufig muss man sich auch eingestehen, dass man mit seinem Latein am Ende ist. Das wird jedes Opfer verstehen. Man muss dann nur eine geeignete Person finden, die das Kind weiter betreut.

Ein oft begangener Fehler ist es, einfach auf den Herrn als Hilfe zu verweisen. „Der Herr wird’s schon machen, Du musst Ihm nur alles sagen und vertrauen.“ Man vergisst leicht, dass das Opfer vielleicht schon hundertmal zum Herrn Jesus gebetet hat – aber keine direkte Antwort bekam. Aber man sollte durchaus mit dem Opfer beten, um sich auf die gleiche Stufe zu stellen und den einzigen Hilfsweg aufzuzeigen. Das alles zeigt, wie schwierig der Umgang mit Betroffenen ist. Man benötigt die klare Führung des Herrn, um sich richtig zu verhalten. Aber Er segnet auch jeden, der sich aufrichtig verwenden lassen will.

Die Ehefrau und Mutter

Ich kann dieses Kapitel nicht beenden, ohne auf die Ehefrau des Täters – wenn es der Vater ist – und Mutter des Kindes, das sexuell missbraucht wird, hinzuweisen. Angeblich haben viele Ehefrauen und Mütter nie etwas gewusst.

Den Opfern fällt es schwer, das zu glauben. Und ein Außenstehender fragt sich auch, ob das wirklich sein kann. Die Antwort muss allgemein und vage ausfallen: Ja, es ist möglich. Aber wahrscheinlich ist es nicht. Jedenfalls gibt es (fast) immer Anhaltspunkte, die der Ehefrau nahelegen, dass hier etwas nicht mit normalen Dingen zugeht. Manche haben ihren Ehemann auf frischer Tat ertappt. Wie können sie sich mit Ausflüchten als nachvollziehbaren Begründungen abfinden? Haben nicht gerade sie eine Pflicht, ihre Kinder zu schützen? Geradezu unbegreiflich sind Fälle, wo Personen, die selbst im Familienumfeld missbraucht worden sind, ihre eigenen Kinder diesen Tätern ausliefern, indem sie zulassen, dass die Kinder allein im Umfeld der Täter gelassen werden.

In einer Reihe von Fällen wäre es nicht zum Missbrauch gekommen, wenn die Ehefrauen und Mütter ihre Aufgabe in Ehe und Familie erfüllt hätten – das ist noch immer keine Entschuldigung für den Mann, der selbst verantwortlich ist für seine perverse Tat! Hinzu kommt, dass Mütter normalerweise eine Antenne dafür haben, was mit ihren Kindern los ist. Wie kommt es, dass sie viele emotionale und sonstige Veränderungen im Leben ihrer Kinder nicht entdecken?

Nun zeigt sich, dass eine Familie nicht erst dann Probleme aufweist, wenn der konkrete Missbrauchsfall aufgetreten ist. Oftmals sind die Beziehungen innerhalb der Familie schon Jahre vor dem Missbrauch unnormal. Die Beziehung von Mann und Frau, die Beziehungen vom Vater zu seinen Kindern, von der Mutter zu ihren Kindern und von den Eltern zu ihren Kindern befinden sich auf einem unnatürlichen Niveau. Oft fühlt sich die Ehefrau nicht in der Lage, gegen den Ehemann aufzutreten. Sie fühlt sich diesem nicht gewachsen.

Opfer fühlen sich im Nachhinein gerade von ihren Müttern im Stich gelassen. Mit Recht. Denn die Mütter haben eine natürliche innere Schutzfunktion und -antenne, die normalerweise in Tätigkeit gerät. Das macht es für Opfer so schwer zu lernen, dass in Familienbeziehungen, die nicht gesund sind, auch solche Funktionen gestört sind. Man kann Ehefrauen und Mütter nur ermutigen, auch wenn sie sich schwach und ihrem Ehemann unterlegen fühlen, Veränderungen im Verhalten und in den Beziehungen der Kinder zu registrieren und ernst zu nehmen. Wenn eine Mutter auch nur einen kleinen Verdacht schöpft, sollte sie eine Vertrauensperson außerhalb der Familie zu Rate ziehen. Wer das nicht tut, macht sich am Missbrauch eines Kindes schuldig.

Es gibt manche Fälle, bei denen die Mütter der Kinder, aber auch andere Personen um den Missbrauch wussten. Wer dann nicht eingreift, macht sich genauso schuldig wie der Täter. Wenn man seine Kinder zu einem Mann bringt, von dem man weiß, dass er Kinder misshandelt hat, macht man sich ebenfalls schuldig. Leider ist auch das vorgekommen.

Es geht nicht darum, Menschen schuldig zu sprechen. Einerseits gilt es, den Gefühlen von Opfern Rechnung zu tragen, die sich von ihrem familiären Umfeld im Stich gelassen fühlten. Andererseits möchte ich Müttern und solchen Menschen im Umfeld eines Opfers Mut machen, den Mund aufzumachen und die Mauer des Schweigens zum Einbrechen zu bringen. Es geht um das Glück und Unglück ihnen nahestehender Personen.

Abschließend zu diesem Punkt gilt es festzuhalten, dass das Umfeld des Täters eine Verantwortung im Blick auf die Taten dieser Person und im Blick auf die betroffenen Kinder trägt. Diese Verantwortung wird zur Mitschuld, wenn man sichtbare Signale nicht aufnimmt oder sogar bewusst ignoriert. Kindesmissbrauch ist eine Straftat, das sollte jeder bedenken, der ein Auge zudrückt.

Andererseits erleben wir oft gestörte Familienverhältnisse, in denen es gilt, dieses Umfeld zu ermutigen und fähig zu machen, Widerstand zu leisten. Wenn wir also Familien erleben, wo Zweifel aufkommen, dass hier jeder seine Aufgabe wahrnimmt, sind wir als Außenstehende gefordert, Hilfe anzubieten und zu leisten. Oft sind Ehefrauen und Mütter überfordert und brauchen unsere tatkräftige Unterstützung. Mit anderen Worten: Wir müssen auch vorsichtig sein, einseitig Ehefrauen und Müttern eine Verantwortung zuzuschieben, die sie – aus unterschiedlichen Gründen – nicht wahrzunehmen in der Lage sind. Hinzu kommt, dass es manche Fälle gibt, wo die Ehefrauen wirklich nichts von den Taten ihres Mannes wussten oder auch nur ahnen konnten.

Die leiseste Ahnung

Wenn eine Ehefrau und Mutter auch nur die leiseste Ahnung hat, dass mit ihrem Kind etwas nicht stimmt, sollte sie es daher dem Kind gegenüber ansprechen und mit aller Sensibilität versuchen, die Ursache für eigenartige Veränderungen bei dem Kind zu ergründen. Sie wird in diesem Fall nicht als erstes mit ihrem Mann sprechen, sondern mit einer anderen, ihr und der Familie vertrauten und zugleich vertrauenswürdigen Person. Der Vater würde im Fall, dass er wirklich Täter ist, immer leugnen und die Drangsalierung des Kindes erhöhen. Wenn er es nicht war, würde das Verhältnis der Eheleute zerstört.

Auch hier gibt es – wie immer – kein festes Schema, nach dem verfahren werden kann. Aber eine Mutter wird sich Zeit ihres Lebens mit Recht Vorwürfe machen (müssen), was sie da zugelassen hat.

Auch hier ist es für das Opfer wichtig für eine nachhaltige Verarbeitung des erlebten Missbrauchs, dass es lernt zu vergeben. Die Mutter muss bekennen, was sie zugelassen hat – keine Frage. Aber es ist eine große Hilfe, wenn sich das Opfer nach einer gewissen Zeit, die zweifellos nötig ist, dazu durchringen kann, ein vergebendes Herz zu bekommen. Dazu später mehr.

Wir wollen am Schluss dieses Kapitels deutlich Folgendes erkennen: Wenn ich irgendwie mitbekomme, dass in einer Familie Kindesmissbrauch vorhanden ist, ich schweige dann aber darüber, dann ist dies eine Sünde vor Gott und gegen das Opfer. Wir haben die Pflicht, Maßnahmen zu ergreifen, um dem Opfer zu helfen. Wenn ich selbst nicht weiter weiß, sollte ich mich an das Weiße Kreuz, an einen Seelsorger oder an eine andere Vertrauensperson wenden. Schon die Ahnung, dass etwas nicht stimmt, sollte uns unverzüglich hellhörig machen, um möglichen Opfern zur Seite stehen zu können. Alles andere wäre nicht nur unchristlich, sondern sogar unmenschlich.

Wir dürfen andererseits auch nicht falsches Misstrauen in Familien und Ehen säen. Nicht jede Veränderung im Leben eines Kindes hat solch dramatische Ursachen. Kinder wollen in der Pubertät oft anders sein – auch so sind Veränderung erklärbar. Und wenn wir jede plötzliche und unerwartete Veränderung im Leben eines Kindes mit Themen wie Kindesmissbrauch in Verbindung bringen, können wir das Kind in seiner normalen Weiterentwicklung schädigen. In diesem Sinn ist Augenmaß bei denjenigen nötig, die solche Veränderungen erkennen.

Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel