Wenn die Mauer des Schweigens bricht ...
Hilfe für misshandelte Kinderseelen

Es geht uns alle an!

Wenn die Mauer des Schweigens bricht ...

Eine Packung Taschentücher für „Tränen, die nicht trocknen“, eine junge Frau ohne Mund: Mit beklemmenden Motiven prangerten Studenten der Bauhaus-Universität Weimar vor einiger Zeit Gewalt in der Familie und sexuellen Missbrauch an. Sie warben für den „Weißen Ring“, der Gewaltopfer vertritt. Dabei geht es sowohl um körperliche Gewalt im Allgemeinen als auch um sexuelle Gewalt gegen Kinder und Frauen.

In der Vergangenheit gab es immer wieder eine Reihe von Plakaten, die uns diese Gewaltszenen vor Augen führten. Solche Aktionen werden auch künftig wiederholt werden. Es wird deutlich: Böse Gewalt ist nicht nur Terroristen zuzuordnen, sie lebt mitten in unserer Gesellschaft, mitten unter uns!

Leider handelt es sich hier nicht um schlicht allgemeine Gesellschaftsprobleme, die nur in gewissen Milieus vorkommen. Gerade der Kindesmissbrauch kommt – wie die Schlagzeilen über den Missbrauch durch sogenannte Kirchenamtsträger und Internatslehrer usw. deutlich machen – „überall“ vor. Leider, wie wir schon gesehen haben, auch unter gläubigen Christen.

Es sind gerade die scheinbar vertrauenswürdigen Personen, die ins Rampenlicht geraten sind: Priester, Pastoren, Lehrer, Trainer, Aufsichtspersonen, Väter, Onkel usw. Es sind die Personen, denen man alles Gute zutraut – aber nicht so etwas Böses. Das führt dazu, dass man fast immer den Tätern glaubt, nicht aber den Kindern, die sich vielleicht doch einmal trauen, sich zu offenbaren.

Es sind nicht nur Personen, die nicht im Rampenlicht stehen, die betroffen sind. Es betrifft leider auch Christen, die in einer örtlichen Gemeinde (Versammlung) Verantwortung tragen. Wir dürfen nicht hinter jeder vertrauenswürdigen Person eine solch schlimme Sünde vermuten. Das würde jedes Vertrauen in unserer Gesellschaft und inmitten der Gläubigen zerstören. Aber wir müssen aufhören, Dinge für unmöglich zu halten, die sich als Realität herausgestellt haben.

Bekannte Persönlichkeiten

Kürzlich hörte ich von einem unter Christen durchaus bekannten, anerkannten Mann, der Ehemann, Vater und Großvater war. Seine Auslegungen wurden geschätzt – man hörte ihn nicht nur am Ort. Nun stellte sich – Jahre nach seinem Tod – heraus, was er in seiner Familie angerichtet hat – dies nicht nur im engsten Bereich: Kindesmissbrauch. Wie ist ein solches Doppelleben möglich, fragt man sich. Regt ein hohes Bekenntnis unter Christen und damit auch der Druck, diesem zu entsprechen, dazu an, dass man ein doppeldeutiges Leben führt und Heiligkeit vorheuchelt?

War das ein Einzelfall, der nur die Vergangenheit betrifft? Ich frage mich, was ein solcher Mann, der in den Augen vieler Christen in der Gemeinde (Versammlung) durchaus geachtet worden ist, vom Herrn Jesus am Richterstuhl des Christus hören wird. Wie wird er dort erscheinen? Wird er überhaupt Lohn erhalten können? Wie gut, dass wir wissen, dass Jesus Christus vollkommen gerecht ist. Wir müssen uns hierzu keine Gedanken machen, und doch hat man ein sehr beklemmendes Gefühl.

Inzwischen sind es nicht mehr nur Fälle in den großen Kirchen bzw. Vorkommen in irgendwelchen Schulinternaten, bei denen Kindesmissbrauch entlarvt worden ist. Auch in einer Schule mit freikirchlicher Trägerschaft ist ein Fall sexuellen Missbrauchs von Kindern aufgetreten.

Schweigen

Es gibt Themen, über die spricht man nicht, weil sie nicht existieren – dürfen. Wenn man unter praktizierenden Christen erzählt, dass ein Kind von seinem Vater oder von einer anderen Person missbraucht worden ist, erntet man bis heute weitgehend ungläubiges Kopfschütteln und einen Satz wie: „Das kann ich mir nicht vorstellen, beim besten Willen nicht bei diesem Mann. Das Kind muss lügen – es hat etwas gegen seinen Vater/Onkel …“ Entspricht das aber der Realität?

Die Schwierigkeit besteht darin, solche im Verborgenen geschehenen Sünden zu erkennen. Auf der einen Seite sind wir nicht aufgerufen, Detektiv zu spielen, und aufgrund bloßer Vermutungen anderen hinterher zu spionieren. Auf der anderen Seite sollten wir uns bewusst sein, dass wir Verantwortung tragen, mit solch schrecklichen Sünden biblisch umzugehen.

Es geht um die Ehre unseres Herrn, die unter uns Christen aufrecht erhalten bleiben soll, und es geht um die Opfer, die schon unter ungläubiger Menschen kaum den Mut haben, sich zu erkennen zu geben – wie viel weniger unter Gläubigen, wo eine solche Tat fast unvorstellbar ist –, und daher nicht aus ihrer schlimmen Lage befreit werden.

Wir müssen dieses Schweigen brechen und bereit sein, dafür zunächst auch Trümmer in Kauf zu nehmen. Denn eines ist klar: Wenn man einmal in dem Schlamm dieser Sünde zu wühlen beginnt, gibt es kein Entrinnen mehr. Oftmals bleibt kein Stein auf dem anderen – Beziehungen werden zerstört, die allerdings zuvor auch nur auf Sand gebaut waren. Und das Bild von Ehrlichkeit, Transparenz, Vertrauen und Verlässlichkeit wird zunichte gemacht.

Selbst das Gottesbild gerät für Opfer ins Wanken. Wer wollte es ihnen verdenken, wenn man dann hört, wie viele hundert und tausend Male sie missbraucht worden sind und sich die Frage stellen: Wie kann Gott ein solch unvorstellbares Leid zulassen?

Als Christen und Seelsorger müssen wir darauf Antworten geben. Manches können wir nicht erklären. Aber auch das ist eine Antwort, wenn man nämlich bereit ist, seine Ohnmacht zuzugeben. Vielleicht gibt es kein anderes Thema, bei dem die Frage: „Wie kann Gott das zulassen?“, von größerer Berechtigung und Bedeutung ist als bei Kindesmissbrauch. Wie ist es möglich, dass Gott nicht einschreitet, wenn Männer und manchmal auch Frauen wehrlose Kinder und Jugendliche derart zerstören? Ein Seelsorger sollte sich hier vor oberflächlichen oder vorschnellen Antworten hüten. Letztlich haben wir auf diese Frage keine befriedigende und abschließende Antwort, so bitter diese Ratlosigkeit für Opfer auch ist. Wir wissen, dass Gott weiser ist als wir. Aber eine endgültige Antwort werden wir wohl erst im Himmel erhalten.

Ich darf an dieser Stelle nicht verschweigen, dass es auch anders geartete Erfahrungen gibt. Eine betroffene Frau, die in ihrem elterlichen Bett sexuell missbraucht worden ist, spricht ausdrücklich von dem riesigen Kreuz über dem Ehebett – welch eine Perversität, wenn man an den missbrauchenden Vater denkt. Aber diese Frau hat diesem Kreuz, also Jesus und seinem Erlösungswerk, immer wieder vertraut. Als Kind fühlte sie sich von allen und allem verlassen. Aber der Glaube hielt sie im Leben fest. Sie hörte in ihrem Inneren deutlich: „Du kannst mir das ruhig alles geben. Ich kenne es schon.“ Dadurch war es dieser Frau möglich, mit der Situation klarzukommen. Das dürfte nicht der Normalfall sein – aber es ist doch möglich.

Familien zerstören

Es gibt viele Instrumente, mit denen man eine Familie zerstören kann. Ein besonders grausames ist der Kindesmissbrauch. Oft dauert es Jahre, bis diese Gewalttat auffällt. Doch ist dieses Verhalten außerordentlich verheerend für eine Familie. Immer wieder erlebt man, dass Väter ihre Kinder (oder die anderer Eltern) sexuell missbrauchen. Das ist eine (oft) wiederholte Handlung, die noch schlimmer ist als Gewaltanwendung, zum Beispiel durch Verprügeln.

Menschen, die Kindesmissbrauch im eigenen Leben am eigenen Körper erfahren mussten, sprechen davon, dass sie bei lebendigem Leib gestorben sind. Sie fühlen sich, als seien sie ermordet worden. Doch müssen sie in einer dann für sie verhassten Hülle weiter leben. Väter – oft sind es eben Männer – vergreifen sich nicht nur am Körper sondern auch an der Seele der Kinder. Danach ist eine normale, auf Vertrauen aufbauende Beziehung zwischen Vater und Kind unmöglich, und zwar auf Dauer. Man kann kaum etwas Furchtbareres tun als dieses. Das Strafrecht kann dieses Leid nur unzureichend erfassen.

Unerträglich

Das unerträgliche an dieser Tat liegt auch darin, dass das Grundvertrauen in die Verlässlichkeit menschlicher Beziehungen verloren geht. Die Beziehung Vater-Kind ist von solcher Wichtigkeit in der Entwicklung eines Kindes, dass sie besonders gepflegt werden muss. Wenn sie aber durch Kindesmissbrauch zerstört worden ist, kann ein Kind überhaupt kein Vertrauen mehr haben; es geht eine Haltung verloren, die für den Umgang unter Menschen und besonders unter Christen unabdingbar ist. So zerstört ein Täter etwas in einem Kind, was dieses oft Zeit seines Lebens beeinträchtigt und eine gute Beziehung zu Gott und Menschen außerordentlich erschwert.

Wenn dann der Missbrauch von einem Christen (oder in den Kirchen von einem amtlichen „Würdenträger“) begangen wird, wird auch das Vertrauen in Gott und das, was Er zum Segen der Menschen geschenkt hat, erschüttert. Hinzu kommt, dass für ein Opfer keine Autorität mehr Wert und Berechtigung hat. Was für ein Drama!

Krankheit oder Verantwortung?

Solche Täter sind gestört, pervers, psychisch und sozial „krank“. Sie sprechen davon, dass sie eine Fünfjährige am helllichten Tag „vernaschen“. Fatal ist, dass man diese Menschen äußerlich nicht als Täter erkennen kann, weil sie sich in dieser Hinsicht nicht vom „netten Nachbarn“ unterscheiden. Wenn sie von außen auf Familien stoßen, werden sie nicht nur das Vertrauen der Kinder, sondern auch das der Eltern zu gewinnen suchen. Sie schotten sich nicht ab, sondern viele Eltern kennen die Peiniger ihrer Kinder – aber eben ganz anders. So würden die Eltern auf irgendeinen Vorwurf sagen: „Nein, das kann nicht sein, den kenne ich gut.“ Das ist das infame an den „Boylovern“, „Girllovern“, „Babylovern“ oder „Pädos“, oder wie sie sonst noch heißen … Ich nenne diese Bezeichnungen, damit wir die Abscheu vor diesen Taten bewahren.

In dem Moment, wo die Kinder in die Pubertät geraten und äußere Anzeichen von älter werden tragen, sind sie für die sogenannten „Kernpädophilen“ nicht mehr interessant. Für diese zählt nur eine Beziehung, wie sie es nennen, zu Kleinkindern, bis sie Kennzeichen von Erwachsenen erhalten. Selbst zu Kindern von nur drei oder vier Jahren …

Wenn Täter sich an älteren, sich bereits in der Pubertät befindlichen Jugendlichen vergreifen, mögen sie darauf verweisen, dass die heutige Jugend aufreizend (un)bekleidet ist. Aber verantwortlich bleiben immer noch sie selbst. Und mit Krankheit kann sich niemand herausreden. Selbst wenn man – aufgrund der Persönlichkeitsstruktur – nachweisbar sündhafte Wünsche hat, erlaubt dies noch lange nicht, sich in dieser Weise an Kindern zu vergehen.

Gerade als Christen haben wir eine Verantwortung vor Gott und Menschen, die wir nicht klein reden dürfen. Spätestens dann, wenn wir merken, dass es in unserem Leben gestörte Züge gibt, sind wir gefordert, diese mit einem Arzt und mit einem Seelsorger zu besprechen, damit nicht andere, wehrlose Menschen diesem Missbrauch zum Opfer fallen.

Zwischen Umsorgung und Missbrauch

Kinder sind wertvoll, hören wir oft. Dann sollten wir sie auch so behandeln. Das schließt ein, dass wir Respekt vor ihrer Persönlichkeit haben, nicht nur vor dem Körper, sondern auch vor dem, was sie sagen und sind. Wir müssen sie ernst nehmen. Kleine Kinder müssen gebadet und abgetrocknet werden. Aber es kommt sehr schnell der Zeitpunkt, wo sie ein Schamgefühl entwickeln. Das haben wir anzuerkennen und unsere Finger von ihnen zu lassen.

Das heißt nicht, dass wir sie nicht umarmen dürfen. Kinder brauchen das. Wir dürfen ihnen zeigen, dass wir sie wertvoll finden. Aber in dem Augenblick, in dem ein Kind eine solche Nähe nicht mehr wünscht, muss ich es respektieren. (Auch die Küsschen gebende Tante!!) Wenn ein Kind auffallend ablehnend ist, ist sogar die Frage angebracht, ob jemand die Intimsphäre bereits gewaltsam durchbrochen hat.

Oft sind Täter selbst als Kinder missbraucht worden. Allein das ist schon furchtbar und macht es nötig, dass wir sensibler werden, um entsprechende Hilferufe zu erkennen. Eine persönliche Betroffenheit gibt diesen Menschen jedoch nicht das Recht, das selbst erlebte Elend anderen anzutun. Im Gegenteil! Solche Menschen müssen wissen, wie furchtbar es ist, missbraucht worden zu sein. Wie aber kann man jemandem Leid antun, wenn man weiß, wie schmerzhaft es für einen selbst gewesen ist? Machtausübung, Sexualität und Aggressivität hängen tiefenpsychologisch sehr eng miteinander zusammen. Wer selbst missbraucht worden ist, sucht offenbar eine Gelegenheit, andere zu demütigen. Dazu aber hat er jedoch kein Recht – und das weiß er in der Regel auch.

Der Wert unserer Kinder

Wenn uns jemand mitteilt, dass er missbraucht wird, oder wenn wir verzweifelte Signale ähnlicher Art von Kindern erhalten, sollten wir unbedingt zuhören und nicht sofort sagen: „Das kann unmöglich der Fall sein.“ Der Wert eines Kindes bemisst sich auch daran, dass wir seine Worte ernst nehmen. Wer das nicht tut, offenbart Respektlosigkeit. Vor allem sollten wir uns bewusst machen, dass Kinder, wenn sie kein Gehör finden, die Hilferufe mehr oder weniger einstellen. Dann bleiben sie Opfer von Gewaltverbrechen und haben das Vertrauen und den Glauben an uns verloren.

Wir wissen heute, dass ein Kind in der Regel rund fünf- bis sechsmal versucht, Erwachsenen mitzuteilen, was geschehen ist. Das sind keine Notschreie, sondern vorsichtige Versuche, sich zu äußern und seine Not mit anderen zu teilen. Oft wendet es sich an die nächsten Vertrauten: die Mutter, den Vater (wenn er nicht der Täter ist), Geschwister, die Schulfreundin, einen Arzt, einen Lehrer, den Pastor, jemand aus der örtlichen Gemeinde (Versammlung), den Kinderstundenleiter.

Wohl uns, wenn wir solche SOS-Signale, die ganz leise gesendet werden und für deren Wahrnehmung man eine Antenne braucht, ernst nehmen. Denn nach diesen fünf oder sechs Versuchen gibt das Kind auf – für sehr lange Zeit. Denn die Enttäuschung ist zu groß.

Besonders, wenn wir als Christen keine sensiblen Ohren für ihre Schreie mehr haben, werden sie nicht nur das Vertrauen zu ihren Bekannten verlieren, sondern sogar im Glauben an Gott irre werden. Damit hätten wir nicht nur eine Chance vertan, sondern großes Unrecht begangen.

Gott nimmt sehr ernst, was wir mit Kindern tun. Wir sollten uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass es einen gibt, der alles sieht. Menschen können uns nur bis zur Stirn schauen. Gott sieht weiter. Er sieht unsere geheimsten Wünsche. Er hat auch alles das gesehen, was außer uns (und dem Betroffenen) niemand gesehen hat.

Gott äußert sich heute oftmals nicht hör- und sichtbar. Sündige Menschen meinen, das ausnutzen zu können: „Weil das Urteil [von Gott] über böse Taten nicht schnell vollzogen wird, darum ist das Herz der Menschenkinder in ihnen voll, Böses zu tun; weil ein Sünder hundertmal Böses tut und doch seine Tage verlängert“ (Prediger 8,11). Aber Gott wird eingreifen. Er tut es jedoch oft nicht sofort.

Missbrauchte Kinder können das nicht verstehen. Gerade das macht häufig einen wichtigen Teil ihres großen Leids aus. Aber Gott hat alles registriert. Und trotz großer Anstrengungen, diese Schuld zu vertuschen, gibt es manches Mal eine Art Vergeltung für unser Tun schon in der heutigen Zeit. „Denn wer unrecht tut, wird das Unrecht empfangen, das er getan hat; und da ist kein Ansehen der Person“ (Kolosser 3,25).

Wir mögen „unser Geheimnis“ mit ins Grab nehmen – vor Gott werden wir mit unserem ganzen Tun stehen. Auch wenn unsere Sünden im Verborgenen geschehen – Gott sind sie nicht verborgen und Er wird sie richten: „Von einigen Menschen sind die Sünden vorher offenbar und gehen voraus zum Gericht“ – das heißt, es ist sofort offensichtlich, was sie getan haben. Daher wird es auch unmittelbar in der Versammlung Gottes behandelt. „Einigen aber folgen sie [die Sünden und ihre Behandlung] auch nach“ (1. Timotheus 5,24). Gott wird sie auf jeden Fall offenbar machen und vergelten – vielleicht allerdings erst am Thron Gottes.

Das sollte uns in unserem Tun vorsichtig machen. Und es sollte uns bereit machen, Unrecht zu bekennen. Wiedergutmachen können wir es sowieso nicht. Aber wir können wenigstens dafür sorgen, dass die Folgen gemildert werden.

Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel