Einführende Vorträge zum Johannesevangelium
Kapitel 12
Auch in Kapitel 12 herrscht diese Unterströmung. Es steht jedoch im schönen Gegensatz zum Vorherigen. Der Geist Gottes wirkte hier in Gnade in Verbindung mit dem Tod Jesu, während dort Satan seine Kinder zu Hass und Mord antrieb. Gott wusste an dem Ort, wo Jesus sich kurze Zeit vor seinen Leiden aufhielt, eine seiner Geliebten anzuleiten. Es war Maria, denn Johannes lässt uns vernehmen, wie der Herr Jesus seine Schafe mit Namen ruft (Joh 10, 3). Matthäus und Markus verschweigen zu Recht ihren Namen. Es passte jedoch nicht zu der Beschreibung des Herrn Jesus durch Johannes, sie einfach „ein Weib“ zu nennen (Mt 26, 7; Mk 14, 3). In seinem Evangelium werden solche persönlichen Züge besonders herausgestellt; und so sehen wir Maria und ihre Handlung in Bezug auf die großen Grundsätze ausführlicher dargestellt als anderswo. Wir erfahren nämlich von der Rolle, die Maria bei diesem Abendessen einnahm, als Martha diente und Lazarus mit zu Tisch lag. Alles und jedes wird an seinem rechten Platz und zur rechten Zeit gefunden. Das wahre Licht, d. h. Jesus selbst, war – wenn auch im Begriff zu sterben – anwesend und machte alles offenbar. „Da nahm Maria ein Pfund Salbe von echter, sehr kostbarer Narde und salbte die Füße Jesu“ (V. 3). Sie salbte auch seinen Kopf; davon sprechen andere Evangelien. Johannes erwähnt nur das, was mit seinem Evangelium übereinstimmt. Normalerweise wurde der Kopf gesalbt. Dem Auge der Liebe sollte indessen eindeutig gezeigt werden, dass dem Herrn Jesus auch die Füße gesalbt wurden. Davon erhalten wir zwei verschiedene Beispiele.
Die Frau in Lukas 7 tat dasselbe. Sie war nicht Maria. Genauso wenig gibt es ein Argument für die Annahme, dass es sich um Maria Magdalene handelte. Sie „war ein Weib ..., die eine Sünderin war.“ Ich erkenne aus offensichtlichen Gründen mehr sittliche Schönheit darin, dass ihr Name nicht genannt wird. Wäre sie nicht zu einem schlechten Präzedenzfall geworden – abgesehen davon, dass ihre Geschichte eine lüsterne Neugierde befriedigt hätte? Ihr Name wird nicht erwähnt. Doch was macht das, da er doch im Himmel aufgeschrieben ist? So wird ein zarter Schleier (nicht über die Gnade, die der Herr zeigte), sondern über den Namen jener Frau, die eine Sünderin war, geworfen. Indessen gibt es einen ewig währenden Bericht über den Namen und die Tat von Maria, der Schwester des Lazarus, welche zu diesem späteren Zeitpunkt die Füße Christi salbte. Äußerlich gesehen taten beide Frauen dasselbe. Die eine handelte im demütigenden Gefühl ihrer Sünde angesichts der unaussprechlichen Liebe des Herrn, wohingegen Maria Ihn in einem Gefühl von seiner erhabenen Herrlichkeit – und gleichzeitig einer instinktiven Vorahnung drohenden Unheils für Ihn – salbte. So veranlassten das Bewusstsein der Sünde und das Empfinden seiner Herrlichkeit beide Frauen zur gleichen Tat. Ein weiterer Punkt der Übereinstimmung liegt darin, dass keine der beiden Frauen sprach. Ihre Herzen drückten sich in Handlungen aus, die auf jeden Fall für denjenigen eindeutig waren, welcher der Gegenstand dieser Huldigung war; und Er verstand und verteidigte sie beide.
In diesem Fall wurde das Haus vom Geruch der Salbe erfüllt. Aber diese Offenbarung der Liebe, die Jesus salbte, stellte das Missfallen und die Habgier einer Seele ans Licht, die sich um Jesus nicht kümmerte, sondern unter dem edlen Vorwand der Sorge für die Armen in Wirklichkeit ein Dieb war. Unter diesem Gesichtspunkt ist es sogar eine sehr ernste Szene, denn die Linie des Verrats verläuft Seite an Seite mit dem Opfer der Gnade. Wie oft rufen dieselben Umstände sowohl Treue und Widmung als auch herzlose Verräterei oder Selbstsucht und Weltlichkeit hervor.
Das ist in Kürze die Bedeutung des Geschehens im Haus von Bethanien. Außerhalb zeigte sich die jüdische Bosheit jetzt unverhüllt. Das Herz der Hohenpriester dürstete nach Blut. Im nächsten Ereignis betritt der Herr Jerusalem als Sohn Davids. Ich muss jedoch weitergehen und kann nur kurz auf dieses messianische Zeugnis an dieser passenden Stelle in unserem Evangelium hinweisen. Als Jesus verherrlicht war, erinnerten sich die Jünger an diese Dinge. Im Folgenden hören wir von dem bemerkenswerten Wunsch, Jesus zu sehen, den die Griechen durch Philippus aussprachen. Der Herr ging sofort zu einem anderen Zeugnis über, nämlich dem des Sohnes des Menschen. Er führte in die Wahrheit über seinen höchst folgenreichen Tod unter dem wohlbekannten Bild des Weizenkorns ein, welches in die Erde fiel und starb, als die Ankündigung und in Wirklichkeit das Mittel für viel Frucht. Wer bei Ihm sein wollte, musste Ihm auf diesem Weg des Todes folgen. Auch hier ist das ausersehende Haupt aller Dinge, der Sohn des Menschen, nicht gefühllos bei der Aussicht auf einen solchen Tod. Er ruft zum Vater, welcher die Bitte um Verherrlichung seines Namens durch die Erklärung beantwortet, dass Er ihn verherrlicht hat (am Grab des Lazarus) und verherrlichen wird (bei der Auferweckung Jesu selbst).
Unmittelbar danach, im Zentrum des Kapitels, enthüllt der Herr noch einmal die Wahrheit von dem Gericht der Welt und von seinem Kreuz als Anziehungspunkt für alle Menschen im Gegensatz zu jüdischen Erwartungen. Zunächst erkennen wir die vollkommene Unterwerfung unter des Vaters Willen, was immer sie auch kosten mag, danach die Darstellung ihrer Ergebnisse in ganzer Ausdehnung. Darauf folgt der Unglaube der Volksmenge bezüglich seiner besonderen Herrlichkeit sowie seiner Leiden. Letztere werden für den Menschen und die Welt immer eine unlösbare Schwierigkeit bleiben. Die Juden hatten in ihrem Gesetz davon gehört, ohne Nutzen daraus zu ziehen, da jenes vom Menschen beständig falsch ausgelegt wird, wie wir im Johannesevangelium gefunden haben. Sie konnten die Leiden nicht mit der Stimme der Gnade und der Wahrheit vereinbaren. Beides wurde in Jesus vollständig geoffenbart und sollte noch mehr in seinem Tod erkannt werden. Für ihre Ohren sprach die Stimme des Gesetzes von einem Christus, der für immer blieb. Was sollten sie mit einem Sohn des Menschen, der erniedrigt, getötet und erhöht wurde? Wer war dieser Sohn des Menschen? Welch ein Muster der Einwendungen eines Israeliten bis in unsere Tage! Die Stimme der Gnade und Wahrheit sprach von Christus, der gekommen war, um als Opfer für Sünder in Schande zu sterben. Genauso richtig war es, dass Er in seiner Person für immer bleiben sollte. Wer konnte diese beiden Gesichtspunkte, die scheinbar so gegensätzlich waren, vereinigen? Niemand, der nur auf das Gesetz achtet, wird das Gesetz sowie auch Christus jemals richtig verstehen.
So endet das Kapitel mit zwei abschließenden Warnungen. Hatten sie auf ihre Propheten gehört? Dann sollten sie auch auf Jesus hören! Wir haben ihre Unkenntnis des Gesetzes gesehen. Der Prophet Jesaja hatte schon lange vorher davon gesprochen. In seinem 6. Kapitel sagte er es voraus. Nur ein Überrest würde hören. Das Licht Jahwes mochte noch so hell strahlen, doch das Herz dieses Volkes war fett, so dass es sehend sah, aber nichts verstand. Sie konnten das Licht Gottes nicht wahrnehmen. Sogar wenn sie in gewisser Hinsicht glaubten, gab es kein Bekenntnis zum Heil, denn sie liebten das Lob von Menschen. Jesus, der Sohn Gottes, Jahwe selbst, stand auf der Erde und rief sein letztes Zeugnis aus. Er verkündete sein Urteil und versicherte noch einmal, dass Er das Licht sei. Er war „als Licht in die Welt gekommen.“ (V. 46). Das sahen wir überall in unserem Evangelium, von Kapitel 1 bis Kapitel 12. Er war als Licht in die Welt gekommen, damit diejenigen, welche an Ihn glaubten, nicht in der Finsternis blieben. Das Ergebnis war von Anfang an klar. Sie zogen die Finsternis dem Licht vor. Sie liebten die Sünde. Gott wurde ihnen in Liebe in Christus geoffenbart. Die Finsternis wurde infolge des Lichts nur umso sichtbarer. „Wenn jemand meine Worte hört und nicht bewahrt, so richte ich ihn nicht, denn ich bin nicht gekommen, auf dass ich die Welt richte, sondern auf dass ich die Welt errette. Wer mich verwirft und meine Worte nicht annimmt, hat den, der ihn richtet: das Wort, das ich geredet habe, das wird ihn richten an dem letzten Tage“ (V. 47–48). Christus hatte nicht aus sich selbst geredet, sondern als der Gesandte des Vaters, der Ihm aufgetragen hatte, was Er sagen und reden sollte. „Und ich weiß, dass sein Gebot ewiges Leben ist. Was ich nun rede, rede ich also, wie mir der Vater gesagt hat“ (V. 50).