Einführende Vorträge zum Johannesevangelium

Kapitel 11

Einführende Vorträge zum Johannesevangelium

Nichtsdestoweniger wollte Gott vor dem Tod des Herrn ein volles und abschließendes Zeugnis von der Herrlichkeit Christi geben, obwohl eigentlich schon alles zu Ende und der Sohn verworfen war. Folglich finden wir in den Kapiteln 11 und 12 eine auffallend reiche Darbietung des Herrn Jesus unter vielen Gesichtspunkten, die sich grundlegend von den früheren unterscheiden. Sie umfasst zwar ein Ereignis, das wir auch in den synoptischen Evangelien finden (d. i. die Erfüllung der Prophetie in der Darstellung seiner Person als Sohn Davids an Zion), dennoch führt Johannes eine Fülle persönlicher Herrlichkeiten ein, die wir nur in seinem Evangelium finden.

Wir beginnen mit dem Ereignis, das ausschließlich Johannes berichtet – der Auferweckung des Lazarus. Einige haben sich verwundert gefragt, warum sie nur im letzten Evangelium zu finden ist. Sie wird dort aus einem ganz einfachen und überzeugenden Grund geschildert. Die Auferweckung des Lazarus war das denkbar unmissverständlichste Zeugnis angesichts der offenen jüdischen Feindschaft in der Nähe Jerusalems. Sie war der großartigste und überzeugendste Beweis, dass Er der Sohn Gottes war, „in Kraft erwiesen dem Geiste der Heiligkeit nach durch Toten-Auferstehung“ (Röm 1, 4). Wer, außer Ihm, konnte auf der Erde sagen: „Ich  bin die Auferstehung und das Leben“ (V. 25). Wer hatte jemals von dem Messias mehr erwartet als Martha, nämlich dass Er die Toten am letzten Tag auferweckt?

Ich möchte hier kurz bemerken, dass Römer 1, 4 sich nicht auf die Bedeutung beschränkt, als sei der Herr als Sohn Gottes in Kraft erwiesen worden durch seine eigene Auferstehung. Der Vers sagt mehr. Die Auferweckung der Toten, bzw. gestorbener Menschen, war der große Beweis, welcher Ihn als den Sohn Gottes mit Kraft kennzeichnete. Zweifellos war seine eigene Auferstehung das erstaunlichste Beispiel. Aber auch die Auferweckung Gestorbener während seines Dienstes war ein Zeugnis davon, genauso wie auch bald die Auferstehung seiner Heiligen diese Kraft enthüllen wird. Folglich gibt der Vers in Römer 1 die Wahrheit in ihrer ganzen Ausdehnung, ohne sich auf einen bestimmten Gesichtspunkt zu beschränken. So war die Auferweckung des Lazarus mit Ausnahme der Auferstehung Christi, von der alle Evangelisten berichten, der bemerkenswerteste Fall und das vollkommenste Zeugnis in den Evangelien. Daher übermittelt uns Johannes diese große Wahrheit. Wie wir schon aus dem besonderen Charakter seines Evangeliums erwarten müssen, welches sich besonders mit der persönlichen Herrlichkeit Jesu als Sohn Gottes beschäftigt, wird das Ereignis mit beachtenswerten Einzelheiten erzählt. In Verbindung damit wird die Auferstehung und das Leben in Ihm als gegenwärtiges Vorrecht geoffenbart, welches über allen Fragen der prophetischen Zeiten und Haushaltungen steht. Die Auferweckung des Lazarus konnte nirgendwo so angemessen geschildert werden wie im Johannesevangelium. Die Schwierigkeit, die einige darin finden, dass sie hier steht und nicht anderswo, ist demnach in Wirklichkeit keine für jeden, der daran glaubt, dass Gott in einem jeden Evangelium ein bestimmtes Thema verfolgt.

Allerdings begegnet uns in diesem Bericht noch ein anderer Gesichtspunkt. Christus war nicht nur der Sohn Gottes; Er war auch der Sohn des Menschen. Er war der Sohn Gottes und außerdem ein vollkommener Mensch in uneingeschränkter Abhängigkeit von seinem Vater. Er sollte nicht aus Gefühlen heraus handeln, sondern nach dem Willen Gottes. So trug Er seine göttliche Sohnschaft in seine Stellung als Mensch auf der Erde. Niemals erlaubte Er, dass die Herrlichkeit seiner Person im geringsten Maß mit der Vollkommenheit seiner Abhängigkeit und seines Gehorsams in Widerspruch geriet. Deshalb brach der Herr nicht auf, als der Ruf zu Ihm gelangte: „Siehe, der, den du lieb hast, ist krank“ (V. 3) – der stärkstmögliche Appell an sein Herz, um sofort tätig zu werden. Seine Antwort war ganz ruhig und scheint, wenn nicht Gott vor unseren Augen steht, für menschliche Empfindungen von Gleichgültigkeit zu zeugen. Es war nicht so; stattdessen zeigte sein Verhalten absolute Vollkommenheit. „Diese Krankheit“, sagte Er, „ist nicht zum Tode“ (V. 4). Die Ereignisse schienen dem zu widersprechen; der Augenschein sprach für Tod; doch Jesus war und ist immer die Wahrheit. „Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern um der Herrlichkeit Gottes willen, auf dass der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde.“  Und so geschah es dann auch. „Jesus aber liebte die Martha und ihre Schwester und den Lazarus“ (V. 5). Wie sein Verhalten auch immer aussah – seine Zuneigung konnte nicht bezweifelt werden. Es gab nämlich noch andere, höhere Grundsätze. Seine Liebe zu Maria, Martha und Lazarus schwächte in keinster Weise seine Abhängigkeit von Gott. Er wartete auf die Anweisung des Vaters. „Als er nun hörte, dass er krank sei, blieb er noch zwei Tage an dem Orte, wo er war. Danach spricht er dann zu den Jüngern: Lasst uns wieder nach Judäa gehen. Die Jünger sagen zu ihm: Rabbi, eben suchten die Juden dich zu steinigen, und wiederum gehst du dahin? Jesus antwortete:  Sind der Stunden des Tages nicht zwölf? Wenn jemand am Tage wandelt, stößt er nicht an, weil er das Licht dieser Welt sieht; wenn aber jemand in der Nacht wandelt, stößt er an, weil das Licht nicht in ihm ist“ (V. 6–10). In Jesus war nichts als vollkommenes Licht. Er war selbst das Licht. Er wandelte im Sonnenschein Gottes. Er verwirklichte vollkommen, was wir in der Praxis nur zum Teil vollbringen. „Wenn nun dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht sein“ (Mt 6, 22). Tatsächlich war Er sowohl selbst das Licht als auch mit ihm erfüllt. Während Er in dieser Welt wandelte, wartete Er auf das Wort seines Vaters. Unmittelbar, nachdem Er dieses vernommen hatte, sagte Er: „Lazarus, unser Freund, ist eingeschlafen; aber ich gehe hin, auf dass ich ihn aufwecke“ (V. 11). In Ihm war keine Finsternis. Alles lag offen vor Ihm; und Er machte sich gleich auf in voller Gewissheit, was Er tun würde.

Danach lesen wir von den Gedanken der Jünger, in denen sich Unwissenheit mit Hingabe an seine Person vermischten. Thomas schlug vor mitzugehen, um mit Ihm zu sterben. Wie erstaunlich ist der Unglaube selbst in den Heiligen Gottes! In Wirklichkeit wollte der Herr den Toten auferwecken. Ihr einziges Denken bestand darin, mitzugehen und mit Ihm zu sterben. Das war die düstere Vorahnung eines Jüngers. Unser Herr sagte kein Wort dazu; Er überließ es ruhig der Zukunft, den Irrtum zur rechten Zeit zu berichtigen. Dann hören wir die wunderbaren Gespräche mit den beiden Schwestern. Zuletzt befand sich unser Herr am Grab – Er, eine Person, die sich Ihrer Göttlichkeit bewusst war. Er war der Sohn des Vaters, jedoch in der Vollkommenheit seines Menschseins und mit solch tiefen Gefühlen, wie sie ausschließlich die Göttlichkeit hervorrufen kann. Christus hatte nicht nur Mitgefühl mit dem Leid, sondern vor allem eine Empfindung dafür, was der Tod in dieser Welt bedeutet. Tatsächlich erweckte unser Herr den Lazarus nicht von den Toten, bevor nicht sein Geist die ganze Bedeutung des Todes sozusagen in seiner Seele auf sich genommen hatte. Genauso fühlte Er auch bei jeder Wegnahme einer Krankheit ihre Last (Mt 8, 17). Das geschah selbstverständlich nicht in einem buchstäblichen, physischen Sinn. Stattdessen erwog Er alles in seinem Geist in Gemeinschaft mit seinem Vater. Auch in Bezug auf uns wird gesagt: „In unaussprechlichen Seufzern“ (Röm 8, 26). Wenn Christus seufzte, dann konnte es nur ein Seufzen in Übereinstimmung mit dem Heiligen Geist sein. Er drückte in rechter und vollkommener Weise die wirkliche Fülle seines Kummers in seinem Herzen aus. Bei uns kann es nicht so sein, weil es in uns etwas gibt, was die Vollkommenheit unserer Gefühle verdirbt. Bei Christus übernahm der Heilige Geist jedoch die Empfindungen, die wir nicht hätten vollständig ausdrücken können, und offenbarte sie in Seufzern. Der Geist gibt sogar bei uns dem Kummer einen göttlichen Ausdruck für Gott. Bei Christus gab es natürlich kein Zukurzkommen und keine Einmischung des Fleisches. Alles war vollkommen. Deshalb gewährte Gott eine volle Antwort auf die göttliche Herrlichkeit und Vollkommenheit Christi. Lazarus kam auf das Wort Christi aus dem Grab hervor.

Das scheint mir von tiefer Bedeutung zu sein. Wir neigen leicht dazu, Christus einfach als eine Person anzusehen, deren Macht sich mit Krankheiten und dem Tod beschäftigte. Wird seine Macht nicht verkleinert, wenn der Herr Jesus Christus die Wirklichkeit eines Krankheitsfalles vor Gott empfand? Im Gegenteil, es offenbart die Vollkommenheit seiner Liebe und die Kraft seines Mitgefühls nur umso mehr, wenn wir mit geistlichem Verständnis die Art betrachten, in welcher sein Geist die Wirklichkeit des Ruins hienieden trug und vor Gott ausbreitete. Ich glaube, dass das für Christus in jeder Hinsicht galt. So war es schon vorher und insbesondere als Er zum Kreuz ging. Unser Herr ging nicht dorthin, ohne die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu fühlen. Das Werk der Sühne und der Schmerz, von seinem Volk abgeschnitten zu sein und die äußerste Schwachheit der Jünger erfahren zu müssen, waren ganz unterschiedlich. Außerdem erlebte Er die Empfindung dessen, was kommen würde, schon vor dem wirklichen Eintritt der Ereignisse in seinem Geist. Es ist nicht richtig, sondern eine entschieden und gänzlich falsche Lehre, wenn wir in unserem Herrn Jesus nur den Sündenträger sehen – obwohl Er zugegebenermaßen als solcher das absolut größte Werk tat. Natürlich erfolgte die Sühne ausschließlich am Kreuz. Das Ertragen des Zornes Gottes, als Christus zur Sünde gemacht wurde, geschah ausschließlich damals und dort. Falls wir jedoch an der Feststellung Anstoß nehmen, dass Christus in seinem Geist vorher das durchlebte, was Er am Kreuz leiden musste, dann schätzen wir viel von seinen Leiden gering ein, missachten die Wahrheit und verwerfen die Heilige Schrift. Wir überschlagen dabei entweder viel von dem, was Gott davon berichtet hat, oder verwechseln das Vorausleiden mit dem tatsächlichen Geschehen, d. h. mit einem Teil desselben.

Es ist wahr, viele Christen sind von dem Gedanken eingenommen, dass es sich bei den Wundern Christi um eine bloße Ausübung von Macht handelte. Sie haben bei seinen Heilungen die Wahrheit von Jesaja 53, 4 übersehen, die Matthäus (Kap. 8, 17) auf sein Leben anwendet und auf die ich schon mehrfach hingewiesen habe. Wir können nicht leugnen, dass in jenen Wundern nicht nur die Macht Gottes vorgestellt wurde, sondern dass sie auch eine Gelegenheit boten, damit sich die Tiefe seiner Gefühle entfalten konnte. Er sah das Geschöpf, so wie Gott es erschaffen hatte, vor sich sowie die bejammernswerte Verwüstung, welche die Sünde angerichtet hatte. So handelte Jesus in Vollkommenheit, wie Heilige es nur vermischt mit menschlicher Schwachheit tun können. Erinnern wir uns außerdem daran, dass es dem Herrn manchmal gefällt, uns durch gewisse Herzensübungen zu führen, bevor die wirkliche Prüfung kommt. Was ist ihre Wirkung? Wird die Prüfung leichter zu ertragen, weil die Seele sie schon in Gemeinschaft mit Gott durchlebt hat? Sicherlich nicht! Im Gegenteil, sie erprobt umso mehr die Größe unserer Geistlichkeit. Je mehr wir mit Gott die Angelegenheit vorher durchlebt haben, desto größer sind die Kraft und der Segen. Wenn dann die Prüfung kommt, scheint für den Beobachter von außen alles voller Ruhe zu verlaufen; und so ist es auch bzw. sollte es sein. Das liegt daran, dass alles zwischen uns und Gott ausgeräumt ist. Ich gebe zu, dass so das Leid der Prüfung gewaltig vergrößert wird. Ist das ein Schaden? Nein, insbesondere weil zur selben Zeit Kraft mitgeteilt wird, um alles zu ertragen. In dieser Weise dürfen wir diesen Grundsatz sogar auf unsere kleinen Prüfungen anwenden.

Christus erduldete und tat alles in Vollkommenheit. Darum sehen und hören wir vor der Erweckung des Lazarus aus dem Grab nicht einen Mann, der mit göttlicher Kraft und Majestät kommt und das Wunder, wenn ich so sagen darf, aus dem Stegreif wirkt. Was könnte mehr der Wahrheit widersprechen? Wer eine solch dürftige Vorstellung von dem Ereignis vor uns hat, muss noch vieles darüber lernen. Dem Herrn mangelte es keineswegs an dem Bewusstsein seiner Herrlichkeit; Er war unmissverständlich der Sohn Gottes. Er wusste, dass der Vater Ihn immer erhört. Dennoch hinderte nichts den Herrn daran, am Grab zu seufzen und zu weinen, obwohl es kurze Zeit später zum Zeugnis seiner Macht werden sollte. Nichts hielt den Herrn ab, in seinem Geist die Wirklichkeit des Todes zu erwägen, wie niemand sonst es konnte. Das wird vom Heiligen Geist in nachdrücklichsten Worten beschrieben. „(Er) seufzte tief im Geist und erschütterte sich“ (V. 33). Doch was war dies alles im Vergleich zu dem, was bald über Ihn selbst hereinbrechen sollte, als Gott mit Ihm wegen unserer Sünden ins Gericht gehen musste? Es sei nicht nur zugegeben, sondern sogar darauf bestanden, dass das wirkliche Auslöschen der Sünde unter dem göttlichen Zorn völlig und ausschließlich am Kreuz geschah. Dennoch ist es eine falsche und irrige Lehre anzunehmen, dass Er nicht vorher die ganze kommende Szene, das, was zu ihr führte, und alles, was zu seiner Beängstigung beitragen konnte, mit Gott durchlebt hatte. Dabei erkenne ich natürlich uneingeschränkt an, dass diese Zeit am Kreuz, als Er den Zorn Gottes über die Sünde ertrug, eine Schwere der Leiden enthielt, welche diese Stunden von allen anderen, die jemals waren oder sein werden, unterscheidet.

Vor dem Ende des Kapitels wird uns die Auswirkung dieses göttlichen Zeugnisses gezeigt. Der Mensch entschied, dass der Herr sterben musste. Die Unduldsamkeit der Juden offenbarte sich jetzt noch deutlicher. Sie war schon vorher da gewesen. Nur die leichtfertige Volksmenge hatte sie, bevor sie zum Ausbruch kam, nicht wahrgenommen. Die religiöse Klasse und die Führer in Jerusalem hatten sich in ihren Gedanken schon längst entschieden. Er musste sterben. Nun ergriff der Hohepriester das Wort und verkündete – obwohl ein böser Mann – nicht ohne den Einfluss des Heiligen Geistes das entscheidende Urteil in dieser Angelegenheit. Die Auferstehungsmacht des Sohnes Gottes trieb die Feindschaft dessen, der die Gewalt des Todes hat, auf die Spitze. Jesus hatte ähnliche Werke auch in Nain und anderswo vollbracht; aber die öffentliche Auferweckung eines Toten in der Nähe von Jerusalem war ein Schimpf für Satan und seine irdischen Werkzeuge. Jetzt, da die Herrlichkeit des Herrn Jesus so hell aufstrahlte und die Oberhoheit des Fürsten dieser Welt bedrohte, wurde der Beschluss der religiösen Welt nicht länger verheimlicht: Jesus musste sterben.

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