Einführende Vorträge zum Johannesevangelium
Kapitel 18
Auf die letzten Kapitel unseres Evangeliums kann ich jetzt nicht ausführlich eingehen. Ich möchte jedoch im Vorbeigehen darauf hinweisen, dass sogar in diesen ernsten abschließenden Szenen die Herrlichkeit der Person des Sohnes immer im Vordergrund steht. Deshalb wird der Gebetskampf im Garten oder das Verlassensein von Gott am Kreuz nicht erwähnt. Matthäus beschreibt den Herrn in Übereinstimmung mit den Psalmen und Propheten als den leidenden Messias, Markus als den verworfenen Knecht und Propheten Gottes und Lukas als den vollkommenen und gehorsamen Sohn des Menschen, der vor keiner Versuchung des Leibes und der Seele zurückschreckte. Er betete sogar am Kreuz für seine Feinde, füllte das Herz eines armen Sünders mit der guten Botschaft von der Errettung und übergab in unerschütterlichem Vertrauen seinen Geist an seinen Vater. Der Gegenstand des Johannesevangeliums ist hier der Sohn Gottes in Gegenwart der Welt, wobei insbesondere die Juden ihre Feindschaft zeigten. Nur Johannes erzählt uns, was kein anderer Evangelist erwähnt, dass die Schar, welche Jesus ergreifen wollte und von einem Mann angeführt wurde, der sehr gut den Ort kannte, wo Er sein Herz so oft vor seinem Vater ausgeschüttet hatte, zurückwich und zu Boden fiel. Glaubst du, dass dieses Geschehen dem Matthäus entgangen sei oder dass Markus und Lukas nie davon gehört hatten? Ist es denkbar, dass solch ein stadtbekanntes Ereignis – die Welt wurde zum Gegenstand der göttlichen Macht, die sie der Länge nach zu Boden warf – von Feinden verborgen werden konnte oder von Freunden vergessen wurde? Gesetzt den Fall, einige Menschen (wobei wir nicht von der Kraft des Heiligen Geistes sprechen) hatten es vergessen – war es dann auch für die Übrigen nicht erwähnenswert? Jede solche Mutmaßung ist unsinnig. Die wahre Erklärung liegt darin, dass die Evangelien mit göttlicher Zielsetzung geschrieben wurden und dass Johannes, wie überall, von dem berichtet, was mit dem Thema des Geistes Gottes in seinem Evangelium übereinstimmt. Wollten diese Männer Jesus festnehmen? Wie in seinen Tod willigte Er auch in seine Gefangennahme ein. In dem einen wie in dem anderen Fall konnte kein Mensch Ihn zwingen. Er handelte aus eigenem Willen und im Gehorsam gegen seinen Vater. Er wurde freiwillig ein Gefangener und das Opfer. So wie niemand sein Leben nehmen konnte, wenn Er es nicht selbst ließ (Joh 10, 18), so konnte niemand Ihn gefangen nehmen, wenn Er sich nicht selbst übergab. Hier wird auch nicht wie im Matthäusevangelium (Mt 26, 53) gesagt, dass Er den Vater um zwölf Legionen Engel hätte bitten können. Benötigte Er nach der Darstellungsweise des Johannes Engel? Auch wenn die Engel auf Ihn in seinem Charakter als Sohn des Menschen auf- und niederstiegen (Joh 1, 51), so brauchte Er trotzdem nur ein Wort zu sagen, und es geschah; denn Er ist Gott.
In dem Moment, als Er sagte: „Ich bin's“ (V. 5–6), fielen sie zu Boden, ohne dass Er einen Finger hob oder einen hörbaren Befehl aussprach. In welches Evangelium passt dieses Ereignis besser als in das des Johannes? Konnte er, der seinen Lehrer als den Sohn und das WORT, welches bei Gott war, darstellt, darüber hinweggehen?
Danach hören wir den ruhigen Tadel des Herrn an Petrus, der Malchus das Ohr abgeschlagen hatte. Nur Lukas berichtet von der gnädigen Heilung, denn die heilende Macht Jahwes war da. Johannes fügt hinzu: „Den Kelch, den mir der Vater gegeben hat, soll ich den nicht trinken?“ (V. 11). Überall bewahrt der Herr seine persönliche Würde und das Bewusstsein seiner Beziehung zum Vater, obwohl Er sich Ihm vollkommen unterwirft.
Es folgt der Bericht von Petrus' traurigem Erlebnis in Gesellschaft des anderen Jüngers, der dem Hohenpriester bekannt war. Als Nächstes sehen wir unseren Herrn vor dem Hohenpriester Kajaphas. Vorher stand Er schon vor dessen Schwiegervater Annas; und zuletzt sehen wir Ihn vor Pilatus. Es genügt, wenn ich darauf hinweise, dass der hauptsächliche Unterschied zu den anderen Evangelien in der Darstellung seiner Person besteht. Er war der König der Juden; sein Reich war jedoch nicht von hier, nicht von dieser Welt. Er wurde geboren und war in die Welt gekommen, um der Wahrheit Zeugnis zu geben.