Botschafter des Heils in Christo 1879

Die beiden kleinen Hörner in Daniel 7 und 8

Die wichtigen Personen, welche in den Schlusstagen des Christentums und des jüdischen Abfalls eine Rolle zu spielen bestimmt sind, werden oft mit einander verwechselt. Das Verständnis der göttlichen Prophezeiungen wird dadurch ungemein erschwert. Was wir vor allen Dingen nötig haben bei dem Studium des prophetischen Teiles des Wortes Gottes, ist ein Bewusstsein unserer völligen Unwissenheit und ein Warten auf Gott, auf seine Leitung und Erleuchtung. Die genaue Unterscheidung der beiden Hörner in Daniel 7 und 6 wird uns außerordentlich nützlich sein, um die allgemeine Lage der Dinge am Ende dieses Zeitalters, sowie viele interessante prophetische Einzelheiten zu erkennen und richtig zu verstehen.

Kapitel 7 schildert die Geschichte der vier auf einander folgenden Weltreiche; es umfasst den ganzen Zeitraum von dem politischen Verfall Judas bis zu der zweiten Ankunft des Herrn. Umfangreiche Bände sind über die alten Reiche, das babylonische, medo–persische und griechische, geschrieben worden, während der Geist Gottes einem jeden dieser Mächte in dem genannten Kapitel nur einen einzigen Vers widmet. Allein Er hat in diesen Versen die Hauptmomente (4–6), welche uns zu wissen nötig sind, zusammengefasst, und wir finden in den langen, gelehrten Abhandlungen der Geschichtsschreiber wesentlich nichts anderes, als in den wenigen Worten der genannten Verse.

Das Kapitel handelt jedoch hauptsächlich von dem vierten Tier, welches „schrecklich und gräulich und sehr stark“ war (V 7), und dessen Repräsentant (Pilatus) den Herrn Jesus dem Willen der Juden überlieferte. Das Reich wird in zehn Königreiche geteilt (V 24). Aus der Mitte der zehn Hörner oder zehn Könige erhebt sich ein elfter König, „das kleine Horn“, vernichtet drei der vorhandenen Könige und gelangt allmählich zu einer solchen Wichtigkeit und Macht, dass es endlich die ganze Gewalt des Tieres in sich vereinigt und das Haupt oder der Leiter des Reiches wird. Die Verlängerung der Dauer des Reiches, seine Größe und Ausdehnung, sowie sein endliches Gericht verdankt es moralisch diesem grausamen Verfolger der Heiligen und verwegenen Lästerer Gottes.

Der hier beschriebene Zustand des römischen Reiches ist ohne Zweifel zukünftig. Denn solange das römische Reich bestanden hat, gab es niemals eine Zeit, wo die oberste Gewalt von zehn Königen zugleich ausgeübt wurde. Und als die barbarischen Horden um die Mitte des fünften Jahrhunderts mit unwiderstehlicher Gewalt in Italien eindrangen, ging das gewaltige Reich in Trümmer, und die Folge davon war – Europa, wie es gegenwärtig eingerichtet ist. Eine Menge unabhängiger Reiche bildete sich aus den Bruchstücken des ungeheuren Kolosses. Entspricht aber dieses den Anforderungen der wichtigen Stelle, die uns augenblicklich beschäftigt? Ist das der Zustand, von welchem hier die Rede ist? Sicherlich nicht. Wann aber wird dieser Zustand eintreten? Das römische Reich besteht doch nicht mehr? Allerdings nicht. Allein es wird wieder erstehen. Gott versichert uns in seinem Wort, dass es wiederhergestellt werden wird, und zwar durch satanischen Einfluss. Karl der Große und Napoleon der Erste versuchten die Wiederherstellung des römischen Reiches, aber vergebens – Gottes Zeit war noch nicht gekommen. Aber sie wird kommen. Wir lesen in Offenbarung 17,8: „Das Tier, welches du sähest, war und ist nicht und wird aufsteigen aus dem Abgrund.“ Keiner, der mit dem Inhalt des Buches der Offenbarung ein wenig vertraut ist, bestreitet es, dass wir unter jenem Tier das römische Reich zu verstehen haben, welches war, nicht ist (sein gegenwärtiger Zustand) und aufsteigen wird aus dem Abgrund. Satan selbst wird es wieder ins Leben rufen. Nach der Teilung desselben in zehn Königreiche wird „das kleine Horn“, ein von Satan beeinflusster und mit teuflischer Gewalt ausgerüsteter Mensch, aus der Mitte der Könige sich erheben und den Thron der Welt einnehmen. Er wird der große politische Leiter und das Haupt der Nationen im Westen sein. Dieses kleine Horn ist daher weder mit dem Antichristen, noch auch mit dem kleinen Horn in Daniel 8 zu verwechseln.

Der Schauplatz der Tätigkeit des letzteren ist nicht der Westen, sondern der Osten. Die allgemeine Bedeutung des 8. Kapitels ist einfach und klar. Der doppeltgehörnte Widder ist ein Bild des medo –persischen Reiches (V 3.20). Er dehnt, von Osten kommend, seine Eroberungen nach Westen, Norden und Süden aus, erkämpft große Siege, unterwirft Königreiche und handelt in stolzem Eigenwillen. Dann wird unsere Aufmerksamkeit auf einen. Ziegenbock gelenkt, der von Westen kommt und „ein ansehnliches Horn zwischen seinen Augen hat.“ Wer ist diese Macht, die mit der persischen zusammentrifft und nach erbittertem Kampf den mächtigen Beherrscher des Ostens vernichtet? Gabriels Erklärung ist kurz und deutlich: „Und der Ziegenbock ist der König von Griechenland; und das große Horn, das zwischen seinen Augen ist, ist der erste König“ (V 21). Die Geschichte ist an ihrem Platz sicher von großem Nutzen; aber wenn man behauptet, sie sei nötig zum Verständnis der Schrift, wenn man sie einführen will als die Erklärerin des Wortes Gottes, so sollten wir sowohl den Grundsatz, als auch die Erklärung sogleich als völlig falsch und den Geist Gottes entehrend verwerfen, denn Er ist allein im Stande, die „Dinge Gottes“ zu erforschen, und Er ist zugleich die Macht, durch welche dieselben uns mitgeteilt und von uns angenommen werden können (vgl. 1. Kor 2,9–16). Die Bibel wäre in der Tat für den größten Teil der Menschheit ein versiegeltes Buch, wenn sie durch das Ungewisse Licht der Geschichte beurteilt und erklärt werden müsste. Nach den einfachen, aber herrlichen Worten des Herrn in Johannes 14 können die Prophezeiungen Daniels, die Gesicht Hesekiels und die Offenbarungen des Johannes durch ein und dieselbe Macht verstanden werden, und diese Macht ist der Heilige Geist.

Die schnellen und wütenden Angriffe Alexanders des Großen, jenes berühmten Staatsmannes und Feldherrn, werden uns in lebendiger Weise durch einige wenige energische Züge der göttlichen Feder vor Augen geführt, und zwar nicht nach dem Eintritt der geschilderten Ereignisse, sondern eine beträchtliche Zeit vor dem Erscheinen des persischen oder griechischen Reiches. Wie im Flug durcheilte Alexander die ausgedehnten Reiche des Ostens und unterwarf sie seiner Herrschaft. „Und der Ziegenbock ward groß über die Maßen, da er aber stark geworden, brach das große Horn, und es entstiegen an seiner Statt vier ansehnliche, nach den vier Winden des Himmels“ (V 8). Auf dem Gipfelpunkt seiner Macht, als eine eroberte Welt zu seinen Füßen lag, als Könige und Fürsten, vom Gangs bis zum Mittelländischen Meere, sich seinem Zepter unterworfen hatten und Krone und Reich aus seiner Hand empfingen, als in unglaublich kurzer Zeit ein Reich errichtet worden war, welches in Bezug auf Macht und Ausdehnung unvergleichlich dastand, wurde Alexander plötzlich von dem Tod dahingerafft. Er starb in der Blüte seines Lebens, kaum 32 Jahre alt. Seine Generäle, die sich nach dem Tod ihres großen Meisters um die Herrschaft stritten, besaßen nicht die Fähigkeit, ein so gewaltiges Reich zusammenzuhalten. Es zerfiel in Stücke. Vier Königreiche entstanden an seiner Statt. Zwei derselben nehmen eine wichtige Stelle in der prophetischen Zukunft ein. Es sind dies das syrische und ägyptische Reich, deren Herrscher als Könige des Nordens und Könige des Südens in der Schrift häufig Erwähnung finden (vgl. Dan 11). Diese Bezeichnung ist charakteristisch. Jerusalem und Judäa bilden in den Handlungen und Ratschlüssen Gottes bezüglich der Erde stets den Mittelpunkt, und von dort aus wird alles gerechnet. Wohl durchschreitet jetzt der Türke mit stolzem Schritt die Straßen jener wunderbaren Stadt, die der Herr so sehr liebte und über welche Er Tränen vergoss; wohl blickt der Heide mit verächtlichem Lächeln auf den armen Juden herab, der an „dem Ort der Klage“ weinend im Staub liegt. Aber es kommen andere Zeiten. Gott hat für sein zerstreutes Volk etwas Besseres vorgesehen. Herrliche Dinge sind über Zion prophezeit; Gott hat sein Auge und Herz auf dieses Land und Volk gerichtet „allezeit“ (5. Mo 11,12; 1. Kön 9,3). Machen wir Jerusalem zu unserem Standpunkt, so werden wir über die Bedeutung der Bezeichnungen „König des Nordens“ usw. keinen Augenblick mehr im Zweifel sein.

In dem 9. und 10. Vers unseres Kapitels sehen wir aus einem der vier Hörner des Ziegenbocks ein „kleines Horn“ hervorkommen, das „ausnehmend groß ward gegen Süden und gegen Osten und gegen die Zierde“ (Judäa). Es vernichtet einen Teil der bürgerlichen und religiösen Leiter der Juden, „etliche von dem Heer des Himmels und von den Sternen“, und „wirft die Wahrheit zu Boden“ (V 12). Wer ist dieser schreckliche und grausame Feind der Juden? Ich glaube, dass sich diese Prophezeiung in ganz bestimmter Weise auf Antiochus Epiphanes, einen der Könige des Nordens oder Syriens, bezieht, dessen Hass gegen die Juden keine Grenzen kannte. Was ihm in Vers 9 und 10 und am Schluss von Vers 12 zugeschrieben wird, hat seine Erfüllung in der Geschichte bereits gefunden. Gabriel gibt indessen dem Propheten in seiner Erklärung zu verstehen, dass „das Gesicht für die Zeit des Endes“ sein werde. Es soll verstanden werden in dem gegenwärtigen Augenblick (V 16), aber seine völlige und endliche Erfüllung wird es zurzeit des Endes finden (V 17).

In Vers 23 wird von einem König gesprochen, der das Gegenbild des Antiochus ist. Der Charakter und die Taten dieses Königs, „frech von Angesicht“, werden uns in Vers 23–25 genau mitgeteilt. Ebenso wird in Jesaja 10 von ihm als dem Assyrer und in Jesaja 28 als der überflutenden Geißel gesprochen. Er ist der König des Nordens, der große politische Feind der Juden in den letzten Tagen. Weitere Nachrichten über diesen König sowohl, wie auch über den König des Südens, finden wir im 11. Kapitel. Judäa war stets den Angriffen dieser beiden Könige ausgesetzt, und es befand sich gewöhnlich in dem Besitz des Einen oder Anderen derselben. Die Wiedererscheinung dieser Königreiche, ihre gegenseitige Feindschaft, ihren gemeinschaftlichen Hass gegen den Antichristen, der zurzeit des Endes König in Judäa sein wird, schildert uns ausführlich das 11. Kapitel, und zwar vom 36. Verse an.

Das kleine Horn in Daniel 8 ist also der Leiter der östlichen Mächte, während das Horn von Kapitel 7 das Haupt des westlichen oder römischen Reiches vorbildet. Die westlichen Mächte werden mit den Juden, als Volk, in Verbindung stehen und ihm, wenigstens eine Zeit lang, freundlich gesinnt sein. Die nordöstlichen Mächte dagegen werden darauf aus sein, Israel als Volk gänzlich zu vernichten. In dem 8. Kapitel finden wir weder eine Anspielung auf das Haupt der westlichen Mächte, noch auch auf die vier Weltreiche im Allgemeinen. Das ist der Inhalt des 7. Kapitels und teilweise der Offenbarung.

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