Botschafter des Heils in Christo 1879

"Das Wort wurde Fleisch"

„Das Wort ward Fleisch.“ Diese wenigen Worte schließen eine Fülle von Gedanken in sich und geben uns Stoff zu den köstlichsten Betrachtungen. Wer war dieses Wort? Wir lesen in den ersten Versen unseres Kapitels: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Dieses war im Anfang bei Gott. Alles ward durch dasselbe, und ohne dasselbe ward auch nicht eins, das geworden ist.“ Das Wort war der Sohn Gottes, Gott selbst. „Ich und der Vater sind eins“, sagt der Herr Jesus im zehnten Kapitel des Evangeliums Johannes. Er war das Wort, und Er war es im Anfang aller Dinge. Das erste Buch Mose wird mit den Worten eingeleitet: „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.“ Wann dieser Anfang war, wissen wir nicht; vielleicht vor zwanzig–, vielleicht vor hunderttausend Jahren, vielleicht sind auch schon ebenso viele Jahrzehnte seitdem vergangen. Welch ein unermesslicher Zeitraum zwischen „dem Anfang“, der Erschaffung des Himmels und der Erde, und dem Zeitpunkt liegt, wo Gott die Erde und alles, was auf ihr ist, so bildete, wie wir es jetzt sehen, das weiß Gott allein. Wer kann sagen, wie lange die Erde bestanden hat, bevor sie „wüste und leer“ wurde? Sie ist gewiss nicht „wüste und leer“ aus der Schöpferhand Gottes hervorgegangen. Wer kann sagen, wie viele Jahrtausende sie in diesem öden Zustand gewesen ist? Kein Mensch. Doch wann dieser „Anfang“ auch gewesen sein mag, das Wort war schon. Es heißt nicht: „Im Anfang ward das Wort“, sondern es „war“, und: „Alles ward durch dasselbe, und ohne dasselbe ward auch nicht eins, das geworden ist.“ Ja, der Sohn Gottes war von Ewigkeit her, und Er war „bei Gott“, im Schoß seines Vaters. „Jehova besaß mich im Anfang seines Weges, vor seinen Werken, von jeher. Ich war eingesetzt von Ewigkeit her, von Anfang, vor dem Ursprung der Erde“ (Spr 8,22–23). Und durch Ihn sind alle Dinge geschaffen. Er war es, der durch seine Allmacht die Welten ins Dasein rief. Er war es, der durch ein Wort seines Mundes die Finsternis verscheuchte, welche die Oberfläche der Erde bedeckte. Er sprach: „Es werde Licht“, und es ward Licht. Er schuf den Menschen nach dem Bild Gottes und blies ihm einen lebendigen Odem in seine Nase. Er war es, der ihn in den Garten Eden setzte und ihn, nachdem er gesündigt hatte, wieder aus demselben vertrieb. Er war es, der die große Flut über diese schuldbeladene Erde und über ihre sündigen Bewohner hereinbrechen ließ und Noah mit sieben seiner Familienglieder am Leben erhielt. Er berief Abraham aus Mesopotamien, führte ihn in das Land Kanaan und verhieß dasselbe ihm und seinem Samen nach ihm. Er führte das Volk Israel mit erhobener Hand aus Ägypten und ernährte es vierzig Jahre lang in der Wüste. Er war es, der unter Blitz und Donner und im Gewölk auf den Berg Sinai herniederfuhr und dem Volk von dort aus sein heiliges Gesetz gab. Er Zog vor ihnen her in das Land Kanaan und gab die zahlreichen Bewohner desselben in ihre Hand. Er war mit ihnen in allen ihren Bedrängnissen, und Er half ihnen aus, wenn sie auf Ihn vertrauten. Er gab ihnen Propheten, Richter und Könige. Er ist endlich der Gott, den Paulus den Athenern verkündigte, der Gott, der „aus einem Blut jegliche Nation der Menschen gemacht, um zu wohnen auf dem Erdboden, indem Er die verordneten Zeiten und Grenzen ihrer Wohnung bestimmt hat“ (Apg 17,26).

Dieser erhabene, ewige Gott nun, der den Menschen mit einem Wort seines Mundes geschaffen hatte und der ihn mit einem Hauch seines Mundes wieder verzehren kann, dieser Gott wurde Mensch. „Er ward Fleisch.“ Welch ein wunderbarer Gedanke! Er verließ den Himmel, die Räume ewiger Wonne und Glückseligkeit, den Wohnplatz einer vollkommenen Heiligkeit und Gerechtigkeit. Er entkleidete sich seiner ganzen göttlichen Majestät und stieg hernieder auf diese fluchbeladene, sündige Erde. Er machte sich selbst zu nichts und nahm Knechtsgestalt an, indem „Er in Gleichheit der Menschen geworden und wie ein Mensch erfunden ward“ (vgl. Phil 2,5–8). Er wurde wahrhaftiger Mensch, geboren von Maria, einem Weib. Er besaß nichts in dieser Welt, Er hatte nicht einmal, wo Er sein Haupt hinlegen konnte. Er litt Hunger und Durst und ward in allem versucht wie wir, ausgenommen die Sünde. Der Prophet Jesajas sagt von Ihm: „Keine Gestalt war an Ihm und keine Herrlichkeit, und wir sahen Ihn an, und da war kein Ansehen, dass wir sein begehrt hätten. Er war verachtet und verlassen von den Menschen, ein Mann der Schmerzen und mit Leiden bekannt, wie einer, vor dem man das Angesicht verbirgt“ (Kap 53,2–3).

Ja, Er war in der Tat ein Mann der Schmerzen und mit Leiden bekannt. Er durchpilgerte diese Wüste als der einzige Mensch, der ohne Sünde war, und Er sah überall um sich her, wie schrecklich die Sünde den Menschen verdorben und in welches Elend sie ihn gestürzt hatte. Wir können nicht ermessen, wie sehr Er, der allein Fleckenlose und Reine, litt in der Gegenwart der Sünde und bei dem Anblick ihrer entsetzlichen Folgen. Er ward innerlich bewegt, als Er den Aussätzigen, das Bild des größten Elends, zu seinen Füßen liegen sah; Er ward innerlich bewegt, als Er in den Toren Nains jenem Trauerzug begegnete, der die entseelte Hülle eines Jünglings, des einzigen Sohnes einer Witwe, zu Grab geleitete. Er ward innerlich bewegt bei dem Anblick der großen Volksmenge in der Wüste, die umherirrte wie Schafe, die keinen Hirten haben. Er weinte über Jerusalem, die geliebte, aber jetzt verblendete und verdorbene Stadt, deren schreckliches Ende vor seiner Seele stand. Er seufzte tief im Geist und vergoss Thronen, als Er die über den Tod ihres Bruders betrübte Maria weinen sah, und Er erschütterte sich angesichts des Todes, des entsetzlichen Soldes der Sünde. In seinem vollkommenen Mitgefühl erfüllte Er das Wort des Propheten Jesajas: „Fürwahr, Er hat unsere Leiden getragen, und unsere Schmerzen hat Er auf sich geladen“ (vgl. Mt 8,16–17).

Dies ist aber nicht alles. Der Herr Jesus, der Sohn Gottes, erniedrigte sich noch mehr. Er stieg in die tiefsten Tiefen unseres Elends hinab und trug alle die schrecklichen Folgen unserer Sünden. Da Er vollkommen, ohne Sünde war, so hätte Er nicht nötig gehabt, zu sterben. Aber Er „ward gehorsam bis zum Tod, ja zum Tod des Kreuzes.“ Nicht um ward Er Mensch, nicht nur „wohnte Er unter uns“, nein, Er ließ sich auch von den Geschöpfen seiner Hand ans Kreuz schlagen. Er ließ sich verspotten und verhöhnen, ohne ein anderes Wort der Erwiderung zu haben, als: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Er ging hin zur Schlachtbank, stumm wie ein Lamm vor seinem Scherer; Er tat seinen Mund nicht auf. Er gab seinen Rücken hin den Schlagenden und seine Wangen den Raufenden, sein Angesicht verbarg Er nicht vor Schmach und Speichel (Jes 50,6). Er stieg aufs Kreuz, Er hing an dem Fluchholz und – Er starb. Es ist ein überwältigender Anblick, Ihn, den Sohn Gottes, den Herrn der Herrlichkeit, an dem schimpflichen Kreuze, mitten zwischen zwei Missetätern, die durch ihre Schandtaten ihr Leben verwirkt hatten, hängen und sterben zu sehen. Es war ein Schauspiel, welches das Staunen und die Anbetung aller himmlischen Heerscharen wachrufen mühte – ein Schauspiel, wie es die Erde nie vorhergesehen hatte und nie wiedersehen wird.

Und fragen wir jetzt nach der Ursache und dem Beweggrund zu dieser vollkommenen Erniedrigung des Sohnes Gottes, so gibt es nur eine Antwort: es war seine unvergleichliche Liebe, sein unergründliches Erbarmen. Fragen wir nach dem Zweck: es war die Verherrlichung Gottes und die Errettung des verlorenen Sünders. Der Mensch hatte gesündigt und dadurch jedes Band zwischen sich und Gott zerrissen. Eine unausfüllbare, unüberwindbare Kluft trennte ihn von einem heiligen und gerechten Gott. Ein schreckliches Gericht, dem er unmöglich entrinnen konnte, wartete seiner. Nichts war im Stande, ihn zu retten; er war unrettbar verloren. Alle Wege, die Gott nach dem Sündenfall Adams mit dem Menschen ging, dienten nur dazu, sein völliges Verderben und seine gänzliche Unfähigkeit, sich aus seiner schrecklichen Lage zu befreien, klar ans Licht zu stellen. Die Sünde hatte sein ganzes Wesen durchdrungen; sein Dichten und Trachten war böse von Jugend auf.

Das Zeugnis Gottes über den Zustand des natürlichen Menschen ist in allen Teilen seines Wortes gleich. Sowohl im Alten, als auch im Neuen Testament wird uns zu wiederholten Malen und in den bestimmtesten Ausdrücken gesagt, dass er durch und durch verdorben ist. Hören wir Gottes eigene Worte: „Alles Gebilde der Gedanken seines Herzens ist nur böse den ganzen Tag.“ „Alles Fleisch hat seinen Weg verdorben auf Erden“ (1. Mo 6,5.12). In den drei ersten Kapiteln des Römerbriefes entrollt der Apostel Paulus ein düsteres Gemälde von der Verderbtheit des Menschen. Er beweist, dass „alle unter der Sünde sind.“ „Da ist nicht ein Gerechter, auch nicht einer; da ist nicht, der verständig sei; da ist nicht, der Gott suche. Sie sind alle abgewichen, sie sind allesamt untauglich geworden; da ist nicht, der Gutes tue, es ist auch nicht einer.“ „Denn es ist kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes“ (Röm 8,10–12.22–23). Es gibt noch viele Stellen, die in ebenso feierlicher Weise von dem hoffnungslosen Verderben des Menschen reden, doch würde es uns zu weit führen, wenn wir sie alle aufsuchen wollten.

Um solch feindselige, gottlose und verdorbene Sünder zu erretten, verließ der Sohn Gottes den Himmel; „Er ward Fleisch“, um sie für alle Ewigkeit in seiner Nähe zu haben und seine Herrlichkeit mit ihnen zu teilen. Für sie ließ Er sich zur Sünde machen und trug den schrecklichen Zorn Gottes wider dieselbe. Es war dies der einzige Weg, um den Sünder in seine Gegenwart zu bringen. Aber Er ist ihn gegangen, und jetzt ladet Er alle ein, an diesem gesegneten Heil Teil zu nehmen. Möchte doch niemand diese Liebe, diese Errettung zurückweisen, und möchte jeder Errettete diesen Herrn allezeit mit dankerfülltem Herzen preisen und anbeten!

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